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Esme stand vor dem grauen Gebäude. Es war vier Uhr nachmittags, und die Sonne verbarg ihren herbstlichen Schein mehr hinter dicken Wolken, als dass sie der Welt etwas Licht schenkte. Flugzeuge starteten aus dem nahe gelegenen Flughafen in den Himmel, welcher sie geräuschlos verschluckte. Obwohl man sie dann nicht mehr sehen konnte, durchfuhr die Menschen fortwährend ihr Grollen. Vielleicht waren auch deshalb nur wenige Passanten unterwegs, die sich alle gegenseitig keines Blickes würdigten. Verständlich, denn die Gegend war keine, in der man erkannt werden wollte. Die ganze Stadt wusste, dass das Viertel von einem Mantel der Trostlosigkeit umhüllt war. Er verlieht den Häusern jene Fassaden, die auf so unangenehme Weise verwechselbar waren. Esme schaute sich vergebens nach Farben um. Nichts. Noch nie hatte sie sich auf den Weg hierher gemacht, da sie, sollte sie ihrem eigenen Viertel einmal entfliehen können, sich bevorzugt in schöneren Gegenden aufhielt.

Vor dem Eingang des grauen Gebäudes stand ein Schild, auf dem man unter den Graffitis gedruckte Buchstaben erkennen konnte.

Jugendamt

Einiges hatte Esme in den letzten Wochen gelernt. Vor allem ihr Wortschatz in der Umgangssprache konnte sich inzwischen mit neuen Floskeln und Grammatikformeln brüsken. Viele Wörter lernte man in der Schule ihres Viertels ohne sonderliche Vorurteile, nicht jedoch dieses.

Jugendamt

Es war natürlich nicht das Wort an sich, welches wie die meisten anderen deutschen Wörter keine schöne Melodie ergaben, sprach man sie aus, sondern eher der Hintergrund, der bestimmte Vorstellungen weckte.

Esme besuchte eine Schule in einem sozial schwachen Viertel mit Kindern aus verschiedenen Ländern mit demselben Ziel. Integration. Selbstverständlich besuchten auch deutsche Kinder die Schule, aber eine besondere Vorbildfunktion konnte man von denen auch nicht erwarten. Die Lehrer taten ihr Bestes, um die talentierten Schüler irgendwie zu fördern, ohne dabei irgendeinen Schwächeren aufzugeben. Letztere allerdings waren mittellos, resignierten schnell und kamen meistens nicht mehr wieder. Sekundarschule nannte sich das Konstrukt jener Politiker, die verzweifelt versuchten, Hauptschüler aufzuwerten, indem man sie mit Realschülern zusammen lernen ließ. Völlig an der Realität gescheitert, fand Esme, die als Leistungsstärkste in der Schule galt. In der Zeit, in der die anderen bereits zum wiederholten Mal eine Übung neu anfangen mussten, lernte sie Deutsch.

Das Wort Jugendamt gehörte in Esmes Viertel zu denen, welche die Menschen reizte. Kinder mussten ihre leiblichen Eltern wegen der Sozialarbeiter verlassen, die es eigentlich nur gut meinten. Auch sonst gab es immer wieder Streitigkeiten zwischen den Familien und den Behörden. Esme selbst hatte aber bereits in der Türkei gelernt, eigenständig zu denken, und sich über die Aufgabe des Jugendamtes informiert. Wahrscheinlich war sie die Einzige, der auffiel, welches Ziel das Jugendamt wirklich verfolgte. Dennoch war das Gefühl, vor dem bedrohlich wirkenden Gebäudekomplex zu stehen, der sich in der Höhe über sie zu beugen drohte, in Esmes gegenwärtiger Situation grausam.

Das Mädchen wusste, dass sie ihrer Mutter nach ihrem Gespräch mit diesem Schritt einen weiteren Stoß versetzen würde. Auch wenn das Risiko groß war, wenn sie ohne Liras Wissen und vor allem ohne ihr Einverständnis nun um Hilfe bat, weiter in der Gunst der Mutter zu sinken, musste sie den Knoten durchschlagen. Sie wollte doch nur, dass ihre Mutter Lebenshilfe bekam. Deshalb war sie hier. Sie wollte nur Hilfe.

Der Mann hinter dem Schreibtisch im Zimmer 102 würdigte Esme seit der Begrüßung keines Blickes. Vielmehr versank er wortlos in den Akten und Anträgen in seinem Schrank, ehe er Zeit fand, sich um seine Klientin zu kümmern. Die Fragen waren ebenso trocken wie uninteressiert.

Esme fragte sich zunehmend, ob dieser Mann tatsächlich ein Pädagoge war, dem sie ihr Problem anvertrauen konnte.

"Ausweis bitte."

"Weshalb sind Sie hier?"

"Warum sind Sie ohne ihre Mutter erschienen?"

Esme nahm sich Zeit, dem Mann alles genau zu berichten, auch wenn das Gespräch mehr einem Verhör glich.

So antwortete sie unermüdlich auf die Fragen des Beamten und versuchte dabei, ein möglichst gutes Licht auf ihre Mutter fallen zu lassen. Unter keinen Umständen sollte der Mann hinter dem Schreibtisch den Eindruck gewinnen, die Familie müsse getrennt werden.

Nach zwanzig Minuten Antworten auf Fragen beendete der Mann das Gespräch, indem er Esme zur Tür brachte und bemerkte: "Wir werden voneinander hören. Stellen Sie sich auf einen Besuch bei Ihnen zu Hause in den nächsten Tagen ein."

Dann zog er die Tür zu, und Esme ging reichlich unbefriedigt durch den Korridor, vorbei an den anderen Wartenden, zurück zum Haupteingang nach draußen. Sie fühlte sich schlecht. Zu keinem Zeitpunkt hatte sich auf dem Gesicht des Beamten auch nur im Entferntesten ein Hauch von Zuneigung erkennen lassen. Es war, als hätte ihn seine Arbeit im Lauf der Jahre abgestumpft und matt gemacht.

Als Esme aus dem Bürokomplex kam, bellten sich zwei Hunde an. Ihre Herrchen, unfähig, sie zu beruhigen, riefen in endloser Wiederholung die Namen ihrer Tiere, jedoch wurde die Situation in Esmes Gegenwart nicht mehr geklärt. Die Unermüdlichkeit der Hunde aber ließen Esme über ihre Situation nachdenken, und so beschloss sie, vor allem aus Angst, nicht den Weg nach Hause einzuschlagen. Sie blieb noch ein wenig in dem Viertel, das keinerlei einladenden Ecken und Farben bereithielt. Rastlos. Hauptsache nicht nach Hause.

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