Читать книгу Aufgetau(ch)t - Florian Lange - Страница 3

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Als das Telefon klingelte, war es kurz vor vier Uhr in der Nacht. Das Läuten durchschnitt das Halbdunkel und ließ die Frau aus dem Kissen schnellen. Am Abend hatte sie sich den Apparat direkt neben das Bett gelegt, um einen möglichen Anruf unter keinen Umständen zu verpassen. Nun war es so weit. Und obwohl sie zuvor kaum hatte schlafen können, begann erst jetzt, bei vollem Bewusstsein der Albtraum.

Binnen weniger Minuten war sie aufgestanden und hatte alle nötigen Dinge zusammengesucht. Hellwach und voller Sorge. Nichts wollte sie vergessen. Einen letzten Blick wagte sie in das vom Mond erleuchtete Zimmer, welches im matten Schein nur das Ehebett zu erkennen gab. Eine der beiden Bettdecken war piekfein gefaltet und lag an ihrem Platz als wartete sie darauf, benutzt zu werden. Die Seite daneben war von benutzten Taschentüchern bedeckt, während die Decke auf dem Boden lag. Das Zimmer spiegelte den Gemütszustand der Frau wider: trist, einsam und unordentlich. Als fehlte etwas. Als die Frau den Flur entlangstürmte, konnte sie kurz in die Zimmer ihrer Kinder schauen. Beide schienen ebenfalls wenig geschlafen zu haben und wirkten bereit aufzubrechen. Noch schnell ein Griff in den Kühlschrank – und los.

Niemand redete, weil alle wussten, was die anderen dachten.

Niemand wollte reden, weil keiner die richtigen Worte gefunden hätte.

Niemand würde von nun an für die nächste Zeit mit den anderen reden, weil alle mit sich selbst beschäftigt sein würden.

Die Taxifahrt zum Krankenhaus verflog in Windeseile. Der Fahrer stellate keine weiteren Fragen als drei aufgelöst wirkende Personen in seinen Wagen sprangen und ihm wild gestikulierend verdeutlichten, dass sie doch bitte zum St.-Marien-Krankenhaus gebracht warden wollten. So schnell es geht!

Das Krankenhaus war der einzige Ort, der nicht schlief. Fenster waren erleuchtet, und die Blaulichter des Rettungsdienstes versprühten eine ungemütliche Anspannung, derer niemand Herr werden konnte.

Auf der Intensivstation herrschte reges Treiben. Der Verletzte aus dem Krankenwagen wurde von vier Ärzten durch die Flure geschoben, die Schwestern verloren keine Sekunden, bereiteten die Notoperation vor und liefen so zielgerichtet wie irgend möglich durch die schmalen Flure. Als der Tross des Verletzten am Zimmer 047 vorbeizog, konnte man nur drei Gestalten hinter dem Milchglas erkennen, die fest umschlungen am Fußende des Bettes standen. Hätte einer der Ärzte die Tür aufgemacht, hätte er eben jene Familie gesehen, die man ungefähr eine Stunde zuvor alarmiert hatte, um ihr den letzten Hoffnungsschimmer zu nehmen, der geblieben war. Der Vater und Ehemann war gestorben, das Zimmer leer geräumt. Nichts sollte die Trauernden daran hindern, gemeinsam um den Verstorbenen zu weinen. Alle Beatmungsgeräte und Pulsmesser hatten den Raum für eine einzige Kerze verlassen müssen, die nun an der Stirnseite des Bettes ihr warmes Licht verströmte. Obwohl die Wände hell und freundlich wirkten, hing der trübe Schein der Trauer im Zimmer. Am Milchglasfenster, welches zum Flur zeigte, war nun der Schatten eines Mannes zu erkennen, der das Zimmer in wenigen Sekunden betreten würde und die Umstände des Todes erklären wie auch der Familie psychologische Hilfe sein sollte.

Er blickte durch die Scheibe in das Zimmer in dem Bewusstsein, dass die Personen darin ihn durchaus schon wahrgenommen hatten. Das war seine Philosophie: indirektes Beistehen. Die Familie sollte sich allein, aber immer mit der Chance auf Unterstützung, vom Toten verabschieden. Es stand jemand hinter ihr. Siebzehn Jahre schon übte er seinen Beruf aus. Jedoch erwischte es ihn jedes Mal wieder kalt, wenn er Kindern erklären musste, dass sie von nun an ohne ihren Papa würden aufwachsen müssen. Hier war die Situation besonders heikel. So wie man den 15-jährigen Sohn bei seinen seltenen Besuchen beim Vater kennengelernt hatte, sollte er psychisch völlig unberechenbar sein. Ob Autist oder „nur“ schizophren.

Die Ärzte waren sich nicht sicher.

Der Schatten hinter dem Glas verschwand, als der hochgewachsene Psychologe die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Er schüttelte allen die Hände und sprach sein tiefstes Beileid aus, und zu seiner großen Erleichterung verhielt sich der Junge so, als wohnte er der Situation momentan mit vollem Bewusstsein bei. Er saß schweigend auf seinem Stuhl und versuchte, die Lage zu realisieren. Seine um ein Jahr ältere Schwester weinte ohne Unterlass. Immer wieder schlug sie mit der breiten Hand gegen die Wand und stieß einen kurzen Schrei aus, der von ihrem Kloß im Hals sogleich erstickt wurde.

Die Aufmerksamkeit des Psychologen galt allen Personen im Raum. Es war seine Aufgabe, in den Menschen zu lesen und so die richtigen Worte zu finden. Er kannte die Situation und wusste genau, welche Qual die nächsten Jahre auf die Familie und vor allem die Mutter wartete. Kaum Geld, kein Mann, keine Einnahmen und ein Sohn, dessen unheilbare Krankheit noch niemandem wirklich bewusst geworden war. Immer deutlicher musste der Betreuer der Familie erkennen, dass in dieser Lage kein Wort helfen würde, die Situation zu begreifen. Und so schwieg der Mann und schloss sich auf diese Weise der Familie an, die für die nächsten Wochen eben dieses Schweigen untereinander fortführen würde. Die einzige Person, der es gelang zu sprechen, war die Mutter. Nicht zu ihren Kindern, das konnte sie noch nicht verkraften. Sondern zu dem Psychologen. Immer und immer wieder fragte sie, ob denn wirklich alles getan worden war. Ob ihr Mann noch ein letztes Wort gefunden hatte. Ob man ihn denn nicht noch bis zu ihrer Ankunft hätte am Leben halten können. Doch die Antwort auf jede dieser Fragen hätte die Frau ein weiteres Mal getroffen. Es gab kein Zurück. Es gab nur noch den Blick nach vorn. Und der zeigte einen Weg im Dunkeln. Einen Weg voller Steine und Felsen, die es zu erklimmen galt, im Wechsel mit Klippen, die die Familie verschlucken wollten. Die Wolken über dem Weg würden schwarz bleiben und kein Licht hindurchlassen.

Und so würden sie umherirren, ohne sich auf ihre Augen verlassen zu können.

Ohne Zuversicht und Frohsinn.

Mit der Trauer und dem ewigen Gedanken an den Verlust und dessen Schmerz.

Als die Familie sich von dem Psychologen verabschiedete und das Krankenhaus verließ, wehte ein leichter Wind, und die Sonne ging auf. Als sei sie bereit, die Personen zu begleiten.

Aufgetau(ch)t

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