Читать книгу Aufgetau(ch)t - Florian Lange - Страница 5
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ОглавлениеFabio lag wach in seinem Bett. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Schon seit drei Stunden bewegte er sich keinen Zentimeter, und er hatte auch nicht vor, es zu tun. Die Gedanken kreisten um ihn. Immer wieder wollte er sie einfangen und einmal zu Ende denken. Fabio mochte seine Gedanken. Das Denken gab ihm ein Gefühl von Struktur und Ruhe. Ruhe war wichtig. Wichtig. Ruhe. Nur so konnte er sich in der Position halten, in der er war. Diese Position hatte er in den letzten Wochen lieben gelernt. Hin und wieder kam seine Mutter in das Zimmer und blickte ihn kurz an. Doch meistens verschwand sie wortlos mit Tränen in den Augen. Fabio wollte sie in den Arm nehmen, weil er merkte, dass sie traurig war. Trauer mochte der Junge nicht. Seine Mutter war früher so lebenslustig und glücklich gewesen. Bis zu dem Tag, als sein Vater nach Hause kam und ihnen mitteilte, dass sie nach Deutschland fliegen würden. Dort würde es seinem Vater besser gehen, und wenn es seinem Vater besser ginge, würde auch Fabio zufrieden sein. Er mochte das Leben in der Türkei nicht. Die Menschen mochten ihn nicht, und daher mochte er sie nicht. Irgendwelche Zurufe durchfuhren ihn damals. Meist lachten die anderen über ihn, und weil Fabio nicht zuhörte, sondern seinen Gedanken nachhing, reagierte er nicht auf die anderen. Aber er wusste, dass er nicht war wie sie. Bis dahin war es seiner Familie gut gegangen. Deshalb sagte Fabio nichts. Er sprach nicht gern. Denken war immer schon seine Leidenschaft gewesen. Auch als die Ärzte kamen und ihn fragten, was er auf den Bildern sah, mochte er nicht sprechen. Viele Personen kümmerten sich um ihn, als er einmal in der Schule einen Klassenkameraden niedergeschlagen hatte. Mit blutiger Nase war der Junge zu einem Lehrer gelaufen und hatte auf Fabio gezeigt. Dieser war nur für eine Sekunde in der Welt der anderen gewesen. Und in jener Welt hatte ihm der kleine Junge wehgetan. Danach kamen abermals Ärzte und untersuchten ihn. Kleine Punkte mit Kabeln, die zu einem Computer führten, wurden an seinem Kopf angelegt, bevor er schnell hin- und herflatternde Punkte verfolgen sollte. Fabio ließ alles über sich ergehen.
Aber dann flogen sie nach Deutschland.
Und da, ja, da ging es genauso weiter. Nur die Ärzte hatten seltsame Namen. Aber das Prozedere blieb gleich.
Punkte-Computer-Fragen. Punkte-Computer-Fragen. Punkte-Computer-Fragen.
Und er kannte noch nicht einmal die Sprache der anderen. Sein Vater war nie zu Hause und seine Mutter nur abends. Seine Schwester bereitete ihn jeden Tag erneut für die Schule vor, aber häufig blieb er im Bett liegen und ließ sich nicht ermutigen. Das Leben in Deutschland war nicht schön für Fabio. Überhaupt nicht schön. Aber es sollte noch schlimmer werden. An dem Tag, als es passierte, beschloss Fabio, alles zu vergessen, was in Deutschland passiert war, und in der Türkei noch einmal neu zu starten. Darum verstand er jetzt nicht, weshalb seine Mutter in der Tür stand und weinte. Das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war: Warum tröstet Papa sie nicht?
Esme kam von der Schule nach Hause. Sie machte sich etwas zu essen und fing mit den Hausaufgaben an. Jedes Mal, wenn sie an Fabios Zimmer vorbeilief, schaute sie kurz herein und grüßte ihren Bruder, ohne eine Antwort zu erwarten. Es war der zwanzigste Tag nach dem Tod ihres Vaters. Obwohl all die organisatorischen Dinge bereits erledigt waren, vermochte keine Routine einzukehren. Die Mutter weinte fast Tag und Nacht und sprach nur mit ihrem Psychiater. Kein Wort hatte sie mit Esme gesprochen, und natürlich hatte Esme keine Erklärung für dieses Verhalten. Jede Sekunde ihres Seins beschäftigte sie sich mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer aller Zukunft. Und egal, was Esme sich überlegte, immer wieder stand am Ende die Erkenntnis der totalen Ausweglosigkeit. Wieso wir? Was haben wir falsch gemacht?
Zu gerne würde sie helfen. Die fremde Sprache lernen und arbeiten, damit sie zumindest die Wohnung behalten konnten. Die Hilfen vom Staat waren nur gering. Jedes Mal, wenn Esme in die zugeschickten Formulare blickte, stieg in ihr ob der permanenten Bürokratie Groll auf. So musste man die Sterbeurkunde einreichen, einen Halbwaisenantrag stellen und die Konten ihres Vater überschreiben. Bis jetzt ging Esme auf eine türkische Schule. Dort wurde selbstverständlich Deutsch gelehrt, aber die Formulare der Beamten verstehen konnte sie noch lange nicht. Sie bedauerte ihren kleinen Bruder. Er lag Tag für Tag im Bett und rührte sich nicht. Obgleich ihre Mutter ihr jeden Morgen mitteilte, sie solle Fabio doch bitte mit in die Schule nehmen, war ihr bereits seit Langem klar, dass die Mutter ihre Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Die plötzlichen Ausraster, das Schreien in der Nacht, kaum ein Wort aus seinem Mund. Fabio war verrückt, keine Frage.
Und deshalb hielt sie es für das Beste, ihn morgens liegen zu lassen, wenn er nicht aufstehen wollte. Ihre Mutter bekam davon nichts mit. Sollte sie auch nicht, sonst hätte Esme sich Probleme eingehandelt, die sie in ihrer Situation für unnötig hielt. So verliefen die Wochen ohne Worte oder mit Worten ohne Werte.
Bis zu jenem Mittwoch.
Damals stand sie in ihrer Tür. Soeben war sie von einer weiteren Psychiatersitzung zurückgekommen, hatte die Schlüssel hingelegt und war in Esmes Zimmer geeilt. Dort stand Lira einige Momente im Türrahmen, mit sich ringend, endlich wieder ein Wort mit ihrer Tochter zu sprechen, und machte schließlich den Mund auf.
"Ich liebe dich, Esme. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich liebe auch Fabio. Ihr seid das Letzte, was mir geblieben ist. Und ich will euch nicht auch noch verlieren." Sie seufzte, und Esme deutete auf den Hocker, den sie als Schreibtischstuhl verwendete. Lira verstand und setzte sich. Ohne eine Sitzposition gefunden zu haben, fuhr sie fort.
"Wir müssen etwas ändern. Ich habe einen Brief erhalten. Lies ihn!"
Ihre Tochter nahm das Blatt entgegen und versuchte, die Buchstaben zu entziffern. Nicht viel konnte sie erkennen, aber langsam wurde ihr bewusst, was der Brief beinhaltete.
"Schulpflicht ... Fabio Selcan ... nicht anwesend ... Unterricht ..."
"Was hast du getan? Du hattest doch die Aufgabe, ihn mitzunehmen. Verstehst du denn nicht, dass er genauso in die Schule gehen muss wie du? Er muss Deutsch lernen, und du hast den Vorsprung in der Sprache, um ihm dabei helfen zu können. Was meinst du, warum ich den ganzen Tag versuche, an einen besseren Job zu kommen? Nicht, damit du Fabio hier allein lässt." Esme konnte ihrem Gesicht anmerken, wie viel Überwindung ihre Mutter eine solche Unterhaltung kostete. Das erste Gespräch zwischen den beiden. So sah es also aus. Keiner der beiden hatte gewollt, dass es so kam, aber nun galt es, an sich zu halten und sachlich zu bleiben.
"Ich dachte, dass er noch etwas Zeit braucht. Mama, er kann noch nicht in die Schule."
"Warum? Warum er nicht und du schon?"
"Weil er das nicht schafft. Fabio spricht kaum und wenn doch, dann nur wirres Zeug. Er liegt tagelang in seinem Bett und starrt an die Wand. Erinnerst du dich an die Beerdigung? Er hat kein einziges Mal geweint. Er stand nur da und blickte ins Leere."
Lira stiegen die Tränen in die Augen. Nichts hatte sie sich so sehr gewünscht, wie endlich wieder Kraft aus den Augen ihrer Kinder schöpfen zu können, wenn schon nicht aus denen ihres verstorbenen Mannes, und mit ihnen zu sprechen.
Mama, findest du das normal?"
Stille. Lira überlegte kurz. Sie schaute auf ihre gefalteten Hände und verschränkte die Arme.
"Nein. Das ist nicht normal. Aber mein Gott. Sein Vater ist gestorben. Er ist jetzt natürlich durch den Wind. Aber genau deshalb ist es unsere Aufgabe, ihm aufzuhelfen. Ihn in die Schule zu begleiten."
"Du verstehst es nicht, oder? Fabio ist nicht erst seit Papas Tod so. Denk an die Zeit in Ankara. Dort wurde er von den Kindern gehänselt und verprügelt. Er war nie wie wir. Er konnte kaum lernen. Mama, Fabio war schon immer so."
"Und was soll ich jetzt tun? Ihn im Bett liegen lassen? Hör zu Esme. Fabio braucht im Moment unsere Hilfe. Ich gebe zu, dass ich euch nicht geholfen habe, und ich versichere dir, dass ich mich dafür selbst verabscheue. Aber jetzt will ich mit euch neu anfangen. Fabio muss in die Schule, und du wirst mir helfen."
Esme wusste genau, was sie jetzt sagen musste, um ihrer Mutter deutlich zu machen, wie die Situation wirklich aussah. Sie nahm ihren Mut zusammen, legte ihre auf Liras Hand und schaute ihrer Mutter tief in die Augen.
"Mama, Fabio ist verrückt."
Unvermittelt stieß Lira einen ohrenbetäubenden Schrei aus und riss sich von ihrer Tochter los, die Tränen ließen ihr Gesicht aufquellen. Jeder im Haus und auf der Straße musste Lira hören können. Sie sank wieder zusammen, schnaubte an ihrem Taschentuch, und alles, was Esme vernahm, war das Wiederholen des deutschen Wortes "nein".
"Fabio gehört nicht in eine normale Schule, Mama. Er ist verrückt, und du weißt es. Warum sonst bist du zu mir gekommen und hast dich nicht mit Fabio darüber unterhalten? Warum hast du mich beauftragt, ihn für die Schule fertig zu machen, obwohl er schon fünfzehn ist? Weil du in deinem Inneren schon eingesehen hast, dass Fabio dazu nicht in der Lage ist. Du musst die Wahrheit akzeptieren."
So schwer es Esme auch fiel, sie musste ihre Mutter jetzt in Ruhe lassen. Sie stand auf, strich Lira kurz durch das Haar und ließ sie allein im Zimmer zurück. Weinend, einer Illusion beraubt. Esme ging vor die Tür. Sie brauchte frische Luft. Als sie draußen war, kniete sie sich hin und fing ebenfalls an zu weinen.