Читать книгу Zeppelinpost - Florian Scherzer - Страница 11
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Ich wurde im Jahr 1902 als einziges Kind des Ehepaars Dürrnheimer in Neustadt an der Haardt in der bayerischen Pfalz geboren. Ich hatte wahrscheinlich eine sehr glückliche frühe Kindheit. Meine Erinnerungen daran sind natürlich sehr verschwommen und undeutlich. Deshalb weiß ich es nicht mehr so genau. Aber neben jenen an die Zeiten mit Therese, sind es die schönsten Erinnerungen meines Lebens.
Wir wohnten in einem Haus mit Garten. Die Mutter war für mich da, es gab Nachbarskinder, Tiere, eine Sandkiste und eine Teppichstange zum Turnen. Alles, was sich ein kleiner Bub wünscht. So hat es jedenfalls die Mutter immer erzählt, und so wirkt es auf den wenigen Fotografien, die von damals noch existieren. Ich selbst erinnere mich nur verschwommen an ein Versteck in einem Gebüsch, einen toten Vogel, den wir beerdigten und Lurche oder Molche in einem großen Weckglas. Eine normale Kindheit in einer frohen und zufriedenen Familie. So, wie man es den meisten Menschen wünscht.
In meinen Erinnerungen an den Vater, saß dieser immer in seinem Arbeitszimmer in der oberen Etage und erfand Kreuzworträtsel oder Zahlenrätsel für Zeitungen und Zeitschriften. Ich weiß bis heute nicht, ob das wirklich sein Beruf oder nur eine Nebenbeschäftigung war. Oder ob er mir als Kind nicht erklären konnte, was er wirklich tat. Offenbar war mit seiner Arbeit nicht viel Geld zu verdienen, denn wir verhielten uns zwar gutbürgerlich, waren jedoch in Wirklichkeit eher arm. Meine Mutter war gelernte Laborantin, aber sie kümmerte sich ausschließlich um mich, ihr einziges Kind. Vielleicht wäre es uns besser gegangen, hätte sie gearbeitet und mein Vater wäre bei mir geblieben. Sie hätte bestimmt, obwohl sie nur eine Frau war, mehr Geld nach Hause gebracht als der Vater. Meine Eltern waren sehr liebevoll und fürsorglich. Manchmal zu sehr, manchmal zu wenig. Wie die meisten Eltern wären, wenn sie könnten.
1908 mussten wir nach München ziehen. Er habe eine neue Arbeit angeboten bekommen, die er nicht ausschlagen könne, sagte der Vater. Erst große Vorfreude, dann ein Schock für ein Kind aus der Kleinstadt.
Für eines der modernen, neuen und wohlhabenden Viertel wie Schwabing reichte es natürlich nicht, deshalb zogen wir in das Arbeiterviertel Au. In die Nachbarwohnung der Wohnung, in der die Familie Fey gewohnt hatte. Die Familie des Münchner Komikers Karl Valentin. Das ganze Haus in der Zeppelinstraße, die damals noch Entenbachstraße hieß, hatte ursprünglich den Feys gehört. 1906 jedoch waren Karl Valentin und seine Mutter, nach dem Tod des Vaters und der Pleite der familiären Spedition, nach Zittau umgezogen, und das Haus gehörte von da an erst Adolf Weiß und ab 1910 Ludwig Weinberger. Das wussten weder meine Eltern noch ich. Es hätte uns auch nicht interessiert. Erst nach dem Krieg, als ich einen der Filme Valentins im Kino sah, sagte mir eine Nachbarin, dass er hier im Haus gewohnt hatte.
Als Sechsjähriger war ich begeistert, als ich während der Zugfahrt nach München erfuhr, dass wir in die Entenbachstraße ziehen sollten. Ich erinnere mich noch genau an meine Vorstellung von einem kleinen Bach voller Fische und Enten, an dessen Ufer ich mit meinen neuen Münchner Freunden spielen konnte. Und ich weiß auch noch, wie enttäuscht ich gewesen bin, als ich die graue Stadtstraße von der Droschke aus sah. Ich sei wohl in Tränen ausgebrochen und habe einige Tage durchgeweint und wollte nicht auf die Straße, so erzählte es mir meine Mutter einige Jahre später. Die Entenbachstraße wurde 1910 in Zeppelinstraße umbenannt. Das machte es aber nicht besser. Obwohl ich sagen muss, dass der Name bei dem, worüber ich hier noch schreiben werde, eine gewisse Rolle spielt. Ohne den Straßennamen hätte ich wahrscheinlich nie Zeppelinpost bekommen.
Für mich, als behüteten, verhätschelten Kleinstadt-Buben, hatte sich mit dem Umzug nach München alles geändert. Alles war komplizierter, enger, unpersönlicher geworden und machte mir Angst. Meine Eltern konnten sich deutlich weniger um mich kümmern, und obwohl der Vater wohl mehr verdiente, waren wir doch ärmer, da in München alles teurer war als in der Pfalz.
Die Au war ein zu hartes Pflaster für ein Kind wie mich. Dort lebten fast ausschließlich Arbeiterfamilien mit meistens acht Kindern oder mehr. Während wir recht komfortabel auf drei Zimmern wohnten, hausten die Nachbarsfamilien oft alle zusammen in einem oder zwei Zimmern. Ich hatte zwar nicht viel Spielzeug, konnte aber wenigstens mit meinen Bauklötzen in meinen eigenen vier Wänden spielen oder so tun, als würde ich meine Kinderbücher lesen. Alle anderen Kinder waren immer in den Treppenhäusern unterwegs oder liefen bei jedem Wetter barfuß auf der Straße und in den Höfen herum.
Die ersten Monate nach unserer Ankunft in München wollte ich nur vom Fenster zur Straße aus den Kinder unseres Viertels zusehen und nicht selbst dabei sein. Mich gruselte vor den wild anmutenden Kinderbanden, die alle keine Schuhe trugen und einen komischen, kaum verständlichen Dialekt sprachen. Da war es mir deutlich angenehmer, nur vom Fenster aus zuzusehen, als mich selbst in die Höhle der Löwen zu wagen und mitzuspielen. Ich bitte Sie, stellen Sie sich einfach mal die Kinder aus der Au vor dem Krieg vor. Wild, unbeobachtet von den Eltern, schmutzig, arm und immer hungrig. Den Grammer und den Schneider, die endlos vielen Schmadererbrüder und die Wagners. Wunden an den Knien und Ellenbogen, ausschließlich Schimpfwörter benutzend. Wären Sie da so einfach mitgerannt? Ohne Angst? Aber was mir am meisten Respekt einflößte, waren die kahl rasierten Schädel der Buben. Läuse- und Flohprävention. Die Jungen wirkten auf mich wie die entlaufenen Sträflinge aus meinem Kinderbuch ›Der schwarze Peter‹. Ich wollte und konnte da nicht mitmachen. Vorerst, dachte ich. Irgendwann würde ich den Mut fassen und mit den fremden Kindern einfach sprechen und mitspielen. Aber das war nicht so. In diesen Wochen der Furcht legte ich den Grundstein für das Motto meiner Kindheit: Nicht dabei sein.
Als sich meine Mutter irgendwann dazu entschloss, mich auf die Straße zu zwingen, war es schon zu spät. Die anderen hatten mich im Zimmer hinter geschlossenen Fenstern sitzen gesehen, erkannt, dass ich wochenlang nicht mitspielen hatte wollen und mich aus ihrem Spielkameraden-Repertoire gestrichen. Ich weiß nicht, ob sie mich für hochnäsig oder verhätschelt oder schlichtweg uninteressant hielten. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes.
Während sie sich die Knie aufschlugen, um Schusser wetteten und Abenteuer in den Hinterhöfen erlebten, wurde ich von keinem der Kinder in der Au überhaupt mehr wahrgenommen. Ich hatte mich irgendwann, als ich die Buben aus der Lilienstraße über unsere Hinterhofmauer klettern sah, runtergetraut und mich dazugestellt. Die Schmadererbrüder kickten einen toten Vogel hin und her, wie einen Fußball und die anderen lachten. Ich lachte mit und dachte, so das Eis brechen zu können. Aber es klappte nicht. Als die Jungen weiterliefen, rannte ich mit. Aber sie hängten mich ab. Später begegnete ich ihnen in der Zeppelinstraße wieder und fragte einen, wo sie gewesen seien. Er schaute nur zu den anderen und reagierte nicht weiter.
Ich ließ mich die ersten Wochen noch nicht entmutigen und versuchte weiterhin, Anschluss zu finden. Vergeblich. Ich
durfte nicht nur nicht mitspielen, sondern wurde noch dazu nicht einmal gehänselt oder gequält, wie man es von meiner Situation als Neuer und ›Schnösel‹ mit Schuhen und Mütze hätte erwarten können. Obwohl ich das eigentlich gar nicht war. Weder graute mir vor Schmutz noch hatte ich Angst vor Abenteuern, noch sprachen wir zu Hause Altgriechisch oder Siezten uns. Ich versuchte mir immer mehr bayerische Wörter und Phrasen anzueignen, damit ich wenigstens sprachlich zu den Originalauern passte. Auch meine Schuhe versteckte ich im Keller und ging nur noch barfuß nach draußen. Meine Mutter machten meine schmutzigen Fußsohlen nicht wütend, sondern sie weckten die Hoffnung in ihr, dass ich mich langsam mit den Kindern des Viertels anfreundete. Ihr war es lieber, dass ich Freunde hatte, als dass sie sich vor dem schlechten Einfluss der Straßenbuben fürchtete. Die Kinder ignorierten mich weiter und mein Wunsch dabei zu sein, wurde immer größer und brennender. Ein einziges Mal erlebte ich so etwas wie Aufmerksamkeit. Einer der Jungen stahl mir meine Mütze vom Kopf und warf sie in einen Baum, in der Hoffnung, dass sie in den Ästen hängenblieb. Immer wieder schmiss er die Mütze hoch, bis sie sich tatsächlich irgendwo nicht allzu weit oben in einem Ast verfing. Der Bub lachte, aber als die anderen nicht mit einfielen, hörte er wieder damit auf. Als gäbe es ein ungeschriebenes Gesetz, das den Kindern der Au verbot, mich wahrzunehmen: §123 Absatz 5. Jeglicher Kontakt zu Carl Dürrnheimer ist den Kindern der Zeppelinstraße, der Lilienstraße und des Kreuzplätzchens untersagt. Bei Zuwiderhandeln werden sie mit Gruppenausschluss auf unbestimmte Zeit bestraft. Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine regelrechte Sehnsucht danach, wieder so geärgert oder gequält zu werden wie an jenem Tag. Lieber der Depp sein als der Niemand.
Meine Mutter gab mir jeden Morgen ein Fünferl mit auf den Weg in die Schule, von dem ich mir ein Nusshörnchen
kaufen konnte. So eine Art Trostpflaster, denke ich. Sie bekam ja mit, wie ich immer noch keinen Anschluss zu den anderen bekam. Das tägliche Hörnchen und mein nicht vorhandener Bewegungsdrang ließen mich dicklich werden. Aber nicht einmal mein unförmiger Körper brachte die Straßenkinder dazu, mich wahrzunehmen und zu hänseln. Wie gerne hätte ich einmal »He, schaut euch den Wambo an! Wir schmeißen ihm Steine nach, dann muss er rennen, der Gwamperte!« gehört oder wäre einmal mit Schnee eingeseift worden. Ich blieb aber stets nur der stumme Beobachter, von dem keiner zu wissen schien, dass er existierte.
Manchmal drängte ich mich den anderen Kindern sogar regelrecht auf und versuchte möglichst viel Angriffsfläche zu bieten. Ich zog bunte Hosenträger an, die ich auf dem Speicher gefunden hatte oder benutzte Ausdrücke wie ›mich dünkt‹ oder Wörter wie ›Gevatter‹. Oder ich versuchte besonders mutig und waghalsig zu sein und ließ mich extra beim Klingelputzen erwischen, um mit den Ohrfeigen, die ich von den Geärgerten bekam, anzugeben. Niemand hörte sich meine aufgeregten Erzählungen davon an. Oder ich ›stahl‹ für alle Nusshörnchen beim Bäcker (in Wirklichkeit kaufte ich sie). Sie wurden zwar gegessen, aber alle taten so, als wären die Hörnchen einfach aus dem Nichts aufgetaucht.
In der Schule war es nicht besser. Mein hochdeutsch eingefärbtes, immer ein wenig gekünstelt klingendes Bayerisch und die Tatsache, dass ich in der Schule auch im Sommer Schuhe trug, ließen meine Lehrer und die Mitschüler vermuten, dass ich aus ›gutem Hause‹ und deshalb besonders intelligent und gebildet war. Ich war aber eher unterdurchschnittlich talentiert. Noch dazu schwieg ich meistens im Unterricht und hatte keine schöne Handschrift. Ich schaffte es nur durch den Einsatz und den Ehrgeiz meines Vaters auf das Gymnasium. Der paukte den Schulstoff unter enormem Aufwand in mich hinein und dank irgendwelcher Verbindungen, die er zum Direktor des Theresien-Gymnasiums hatte, schaffte ich es dorthin. Dass er mich aufs Gymnasium schickte, machte mich aber nicht glücklicher. Es bedeutete für mich eine noch stärkere Trennung von den Kindern, die ich so gerne als Freunde gehabt hätte. Sie Volksschule, ich Gymnasium. Der Graben wurde unüberbrückbar. Immer wenn ich meinem Vater und dem endlosen Gepauke entkommen konnte, floh ich aus der engen Wohnung in die Hinterhöfe und versuchte weiterhin, mich bei den Straßenkindern des Viertels anzubiedern. Weiterhin ohne Erfolg.