Читать книгу Zeppelinpost - Florian Scherzer - Страница 23

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Alles fing einen Monat vorher an. Ich bekam einen sehr ungewöhnlichen Brief. Am 7. September 1931 mit der Abendpost. Ich war gerade zu Hause angekommen, wartete auf mein Essen aus dem Wirtshaus und hörte den Briefschlitz klappern. Abends Post zu erhalten war bei mir sehr selten. Ich bekam morgens meine Zeitungen und fand beim Nachhausekommen meine reguläre Post, die vormittags in meiner Abwesenheit eingeworfen worden war und an den entsprechenden Tagen noch meine Zeitschriften oder Bücherbestellungen. Ich glaube nicht, dass ich den Postboten jemals zuvor beim Einwerfen erlebt, geschweige denn zu Gesicht bekommen hatte.

Auf dem Briefumschlag waren zwei Marken und drei Stempel. »Brasil – Europa«, »Brasil Correio«, »Europe – Pan-America, Round Flight«, »Mit Luftpost befördert München 13«, »Correio Aéreo ›Graf Zeppelin‹ Recife. 3. Setembro 1931«. Handschriftlich stand noch »Per ›Graf Zeppelin‹ am 4. September 1931 bis Friedrichshafen. Per Luftpost nach München« und meine Adresse mit dem Zusatz »Alemanha« darauf. Auf der Rückseite stand als Absender Walli Hochstattner, R. do Bom Jesus, 58, Recife, Pernambuco, Brasilien.

Walli – Walburga – Burgl. Burgl Schmaderer war also nicht in Niederbayern oder der Oberpfalz verschollen, sondern in Brasilien.

Der Brief, den sie schrieb, war auf dünnem, blauem Luftpostpapier beidseitig mit Bleistift beschrieben. Es war sehr schwer zu lesen, weil die jeweils andere Seite durch das dünne Papier schien. Die Handschrift wirkte ungeübt, und man sah, dass sie nicht von jemandem stammte, der häufig lange Texte verfasste. Das bemerkte ich als jemand, der tagtäglich mit komplizierten handschriftlichen Aufzeichnungen zu tun hatte, sofort. Außerdem war der Brief voller Bavarismen. »Reden« statt »sprechen«, »schauen« statt »sehen«. Ich bemerkte all diese mehr oder weniger technischen Details komplett emotionslos. Ich las den Brief, wie ich einen meiner Verträge lesen würde. Mein Geist brauchte das, um mit dem aufziehenden Gefühlssturm zurechtzukommen.

»Recife, den 3. September 1931

Mein lieber Freund Carl,

da wirst du nicht wenig überrascht sein, von mir zu hören. Und dann auch noch auf diesem Wege und in so einer rasanten Übermittlungsgeschwindigkeit. Vielleicht weißt du auch gar nicht mehr, wer ich bin.

Die Burgl aus der Lilienstraße bin ich. Aus deiner Jugend. Die Burgl aus der Au, die jetzt die Walli aus Brasilien ist. Die Burgl, die mit dir vor so langer Zeit so schöne Spaziergänge an der Isar machen durfte. Erinnerst du dich? Unsere Gespräche haben mir damals so viel bedeutet.

Aber wie kommt die Burgl aus der Vergangenheit dazu, dir einen Brief aus der Ferne zu schreiben? Nach so vielen Jahren.

Mein Mann arbeitet für die Deutsche Luftschifffahrts-Aktiengesellschaft, die das Luftschiff ›Graf Zeppelin‹ betreibt. Er kümmert sich um die Luftschiffspost hier in Brasilien.

Bei Zeppelin musste ich natürlich an die Zeppelinstraße in München und an dich denken. Zeppelinpost. Post in die Zeppelinstraße. Jetzt hoffe ich, dass du da überhaupt noch wohnst. Wenn nicht, dann werde ich es spätestens merken, wenn der Brief zu mir zurückgeschickt wird. Oder du wohnst noch dort, aber interessierst dich nicht dafür, was aus der schwangeren Schmaderin geworden ist.

Mich würde natürlich brennend interessieren, wie es dir in den zwölf Jahren ergangen ist. Aber auf diese Geschichte werde ich wohl noch warten müssen. Vielleicht gar nicht so lange. Denn wenn du dich beeilst, kannst du deinen Antwortbrief schon voraussichtlich am 18. September zu mir zurückschicken, sagen sie bei der Post. Vergiss aber nicht, dass die Graf Zeppelin an dem Tag bereits ablegt. Schicke ihn also lieber zwei oder drei Tage vorher ab, damit er rechtzeitig zur Abfahrt in Friedrichshafen ist.

Solange ich nichts Neues über dich erfahren kann, muss ich mich damit begnügen, dir von mir zu schreiben und wie es bei mir in den letzten Jahren in Brasilien gewesen ist und mir vorstellen, wie du meinen Bericht liest und dich an mich erinnerst.

Wie schon geschrieben, waren die Wochen, die du mit mir an der Isar verbracht hast, eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Oder habe ich das weiter oben schon deutlich genug gesagt? Ich kann mich an niemanden erinnern, der mir je mit so viel Hingabe zugehört hat. Niemals wieder bin ich mir so verstanden vorgekommen. Ich wäre gerne länger bei dir geblieben, aber was wäre aus mir als ledige Mutter in München geworden?

Mir ist eines Tages mein heutiger Mann João begegnet. Ich stand in der Schlange vor der Wohnungsstelle der Fürsorge. Weil ich mir ja was Neues suchen musste. João war dort, weil er gehört hatte, dass man bei den Ämtern in der Schlange billiges Hauspersonal finden kann. Dass einem die verzweifelten Frauen da für ein paar Pfennige die Wäsche machen oder sogar den ganzen Haushalt. Weil es oft Kriegswitwen sind, Waisenkinder oder einfach nur Arbeitslose wie ich. Mein jetziger Mann ist Deutschbrasilianer und war nur für ein paar Wochen in München, um den Haushalt einer verstorbenen Verwandten aufzulösen und alles zu regeln. Da brauchte er jemanden für die Wäsche und das Putzen. Aber niemanden für länger.

Ich war diejenige, die von allen Frauen in der Schlange die billigste war. Weil ich nicht nur arbeitslos und verzweifelt, sondern auch noch schwanger war. Und weil er ein Pfennigfuchser ist, hat er mich eingestellt und gleich in die Wohnung nach Obermenzing mitgenommen, die seiner Verwandten gehört hat. Nicht einmal zum Verabschieden musste ich zurück in die Lilienstraße, denn meine Familie war schon fast einen Monat vorher in den Bayerischen Wald zurückgegangen. Das Flietscherl wollte der Vater nicht mitnehmen. Was würden die im Dorf sagen, wenn er mit so einer wie mir heimkommen würde, hat er gesagt. Das war furchtbar für mich. Deshalb habe ich es dir auch nicht gleich erzählen wollen. Und dann habe ich es dir nicht mehr erzählen können, weil ich ja weg war. Der Franz, mein großer Bruder, ist auch nicht mit nach Hinterschmiding. Der hatte eine Anstellung bei der Staatseisenbahn bekommen und war in eine Bahnerwohnung am Steubenplatz gezogen. Ich musste in der Lilienstraße nur meine Kleider und das Waschzeug abholen. Das Mietverhältnis war schon vom Vater gekündigt worden. Deshalb war ich überhaupt bei der Fürsorge gewesen. Weil ich eine Woche später auf der Straße hätte schlafen müssen.

In der Wohnung in Obermenzing war sehr viel zu tun. Die Verwandte hatte alles verkommen und verdrecken lassen, und ich musste hart arbeiten, um alles wieder auf Vordermann zu bringen. João war sehr nett zu mir. Gar nicht aufdringlich. Aber ich habe schon gemerkt, dass er mir hinterhergeschaut hat. Als er mir Bilder vom Anwesen seiner Familie in Brasilien gezeigt hat und mir vom immer warmen Wetter und dem guten Essen erzählt hat, habe ich mir gedacht, »was solls, besser verheiratet in Brasilien als als ledige Mutter in München« und habe mich verführen lassen. Wir haben am 25. Dezember auf der Überfahrt geheiratet.

Jetzt nach zwölf Jahren in Recife ist es mir immer noch jeden Tag zu heiß. Zum Glück können wir fast am Meer wohnen, denn João verdient sehr gut bei der DELAG. Da gibt es wenigstens ein bisschen Wind. Von wegen schönes Wetter. Ich denke jeden Tag an Schnee und träume von Nebel.

Meine Kinder sind schon elf, acht und fünf. Guilherme, Fernanda und Ana. Ihnen geht es hier besser als mir, weil sie es gewohnt sind, hier zu leben. Sie kennen keine Kälte und keine Jahreszeiten und vermissen sie deshalb auch nicht so sehr wie ich. Außerdem sprechen sie genauso gut Portugiesisch wie Deutsch. Vielleicht sogar besser Portugiesisch. Ich nicht. Auch nach zwölf Jahren ist es für mich immer noch ungewohnt, dass ich hier in Recife nicht mehr die Beliebteste bin und im Mittelpunkt stehe, sondern dass ich eine Außenseiterin bin. Ganz anders als früher in der Au. Ich habe das Gefühl, dass ich hier bei den Frauen im Viertel anstellen kann, was ich will, aber sie nehmen mich noch immer nicht als eine von ihnen wahr. Ich kann ausgefallenste Einladungen geben, so viel ich will, aber es ändert sich nichts. Sie kommen zwar vorbei, trinken den Tee (der in Wirklichkeit ein Schnaps ist), essen die deutsche Torte, die ich ihnen vorsetze, aber sie reden nur untereinander und immer so schnell, dass ich nichts verstehe. Ich glaube, die reden mit Absicht noch schneller als sonst. Nur damit ich nicht mitkomme. Sogar meine Haushälterin findet die anderen Frauen interessanter als mich.

Irgendwann vor ein paar Wochen ist es mir dann plötzlich aufgegangen, dass das ja bei dir genauso gewesen sein muss, damals als Kind. Du hast auch veranstalten können, was du wolltest, aber gemocht hat dich keiner. Entschuldige, dass ich das so offen schreibe. Aber du bist ja heute bestimmt ganz anders mit Familie und Freunden und Kind und Kegel, oder?

Was kann ich noch schreiben? Eine halbe Seite habe ich noch. Mein Mann arbeitet sehr viel und lange. Dir kann ich es ja schreiben, weil du mir ein Vertrauter warst und weit weg bist: Mein Mann ist mir langweilig. Stinklangweilig. Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, als Schwangere in München im Armenhaus zu sitzen, als mit dieser knausrigen Beamtenseele in dieser Hitze zu leben. Aber hernach ist man immer klüger.

Liebe Grüße aus dem fernen Brasilien. Ich schaue ab dem 20. jeden Tag nach, ob eine Antwort von dir da ist, denn es interessiert mich sehr, was aus dir geworden ist.

Deine Burgl«

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