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Der 12. Oktober brachte die Veränderung. Der letzte Spaziergang. Ein kalter Tag. Mal sonnig, mal wolkig. Sehr windig, aber kein Regen. Burgl hatte schon ihren Wintermantel an, aber ich musste ihr zusätzlich noch meinen Schal geben, weil sie so fror. Ihr Bauch wirkte schon so groß, als würde sie Zwillinge erwarten. Heute ist mir klar, dass sie einfach nur sehr mager war und deshalb so wirkte, als sei sie schon hochschwanger. Ich ging mit ihr in eine Konditorei in der Humboldtstraße. Normalerweise vermied sie es, mit mir in Lokale zu gehen. Ich glaube, dass es ihr peinlich war, eingeladen zu werden. Ich war nicht gerade unglücklich darüber, denn Geld hatte ich selbst kaum. Ich bestellte mir einen Kaffee und ihr eine Schokolade. Ich aß ein Ausgezogenes, Burgl zwei Stück Torte. Zwei Mark. Mein Budget für eine ganze Woche. Sie wirkte so hungrig, als habe sie seit Tagen nichts gegessen. Ich schob es auf die Schwangerschaft. Nach dem zweiten Stück bedankte sie sich so überschwänglich, dass es mir peinlich war.

Wir saßen über zwei Stunden in der Konditorei. Es wollte aber nicht so recht ein Gespräch entstehen. Wahrscheinlich lag es am öffentlichen Ort. Als uns die Bedienung drängte, noch etwas zu bestellen, gingen wir nach draußen. Ich fragte, ob sie gerne nach Hause wolle, weil ihr so kalt sei. Sie aber sagte, dass sie lieber noch spazieren gehen würde. Wir liefen wieder in den Rosengarten und setzten uns in die windgeschützte Ecke am Haus. Langsam wirkte Burgl wieder etwas aufgewärmter. Die Torte, die Schokolade und der Spaziergang hatten ihren Kreislauf in Schwung gebracht.

Ich: Gehts?

Sie: Es geht wieder.

Ich: Ich könnte sonst noch meinen Arm um dich legen. Aber wenn es jetzt wieder geht …

Sie: Wenn ich so darüber nachdenke, ist mir doch wieder recht kalt. Schau, wie ich zittere.

Ich: Dann rutsch her.

Sie: Stört es dich, wenn ich meine Finger in deiner Hand aufwärme?

Burgl erschien mir künstlich zutraulich und gar nicht so kokett, wie sie in den letzten Wochen so oft gewesen war. Nicht so, als würde sie sich zu etwas zwingen, aber so, als wüsste sie, dass dies die einzige oder letzte Gelegenheit für etwas ist.

Sie hielt meine Hand, ich saß wie erstarrt daneben. Dann begann sie, meine Finger zu streicheln. Ich blieb weiter starr. Sie drehte sich so weit zu mir, dass ich ihren Atem riechen konnte. Ich schaute starr nach vorne. Sie legte ihre Hand auf meine Wange, drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich fest und trocken auf den Mund. Dann ließ sie mich wieder aus und streichelte meine Wange. Wieder zog sie mich zu sich, und diesmal wurde der Kuss zärtlicher und schöner.

Aber was gerate ich in verklärte Schwärmereien? Darum soll es hier ja nicht gehen. Es kam jedenfalls zu Küssen und Zärtlichkeiten, und irgendwann nahm Burgl sogar meine Hand und legte sie auf ihren Busen. Ich glaube, dass sie an dem Nachmittag schon wusste, dass sie am nächsten Tag verschwunden sein würde. Ich jedoch merkte von all ihrer Sentimentalität und Melancholie nichts. Ich brachte sie um sieben in die Lilienstraße und war glücklich.

Später am Abend, wieder alleine bei meinen Studienvorbereitungen, bereitete ich mich auf Burgls und meine gemeinsame Zukunft vor. Ich plante und rechnete. Ich würde das Kind annehmen und wie mein eigenes behandeln. Burgl und ich würden heiraten und ich, statt zu studieren, arbeiten. Ich war ja nicht dumm, irgendetwas würde ich schon finden. Verkäufer oder im Büro. Mit so und so viel Mark pro Woche konnten wir so und so viel zu essen kaufen, rechnete ich. Mit einem zweiten Kind würden wir aber so und so viel brauchen. Wenn ich es jedoch schaffen würde zu studieren, würden wir später so und so viel verdienen können, und wir könnten in ein Haus mit Garten nach Obermenzing ziehen. Ich müsste für so und so viel Geld so und so lang arbeiten und hätte dann so und so viele Stunden Zeit für meine Familie. Das alles plante ich genau durch. Ich habe sogar noch die Aufzeichnungen dazu. Ich füge sie dieser Sammlung jedoch nicht hinzu, weil mir meine naiven Auflistungen peinlich sind.

Am nächsten Tag war es noch ein bisschen kälter. Ich hatte mir von meiner Mutter mit der Andeutung, dass es da jemanden gäbe, die vielleicht jemand werden könnte, vier Mark geliehen. Für so etwas ging sie sogar an ihre eiserne Reserve. Ihre einzige, vieldeutige Bedingung war, dass ich nur keinen Unsinn veranstalten sollte. Ich besorgte Blumen und wollte Burgl zum Mittagessen ausführen. In der Stadt, in einem richtigen Restaurant. Um zwölf war ich in der Lilienstraße. Doch die Wohnung der Schmaderers war leer. Nur ein Maler und zwei Lehrbuben weißelten die Zimmer gerade. Sie seien zurück nach Niederbayern. Sagte mir eine Nachbarin. Schon vor einem Monat. Was denn mit der Burgl sei, fragte ich, ob die auch mit sei, weil ich sie gestern noch gesehen hätte, fragte ich. Die Burgl sei mit, sagte die Nachbarin. Ganz sicher. Wo in Niederbayern, wisse sie auch nicht. Oder war es doch die Oberpfalz?

Das wars. Wie sollte ich herausfinden, woher die Schmaderers gekommen und wohin sie gegangen waren? Ich fragte in der ganzen Nachbarschaft herum. Außer der Tatsache, dass alle froh waren, dass der ewig besoffen singende und krakeelende Schmaderer mit seinen unangenehmen Söhnen weg war, fand ich nichts heraus. Wie groß damals meine Hoffnungslosigkeit war, brauche ich wahrscheinlich nicht zu beschreiben. Meine, so glaubte ich damals, einzige Chance auf Liebe war weg.

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