Читать книгу Zeppelinpost - Florian Scherzer - Страница 12
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Anfangs auf dem Gymnasium, in der Sexta, versuchte ich mich bei meinen neuen Mitschülern einzuschmeicheln. Ich wollte neu anfangen und alles anders machen als vier Jahre zuvor. Also stellte ich mich dort als verwegener Auer Bub dar, der nur zufällig auf dem Gymnasium gelandet war. Ich sprach so breit Bayerisch, wie ich nur konnte, spuckte andauernd auf den Boden und zog mich sogar so an, wie ich es bei den anderen Kindern in der Au gesehen hatte. Nur den rasierten Schädel traute ich mich nicht. Das brachte mir anfangs auch Aufmerksamkeit und einiges an Respekt. Ich erzählte von meinen Erlebnissen im Glasscherbenviertel Au, und die Kinder aus den Villen rund um die Theresienwiese machten große Augen. Ich berichtete vom Klingelputzen, vom Stehlen, von toten Tieren, die wir fanden und zerlegten und vom Bier, das wir heimlich tranken. Ein echter Gesetzloser. Damit konnte ich auch meine schlechten Noten begründen. Ich habe so viel mit meinem Rabaukentum zu tun, dass ich nicht zum Lernen komme, erzählte ich in der Klasse herum. In Wirklichkeit büffelte mein Vater viel und oft mit mir. Es brachte aber nichts. Der Aufwand, den wir für einen Vierer in Latein oder Mathematik treiben mussten, stand in keinem Verhältnis zum Ergebnis.
Zur Einschulung auf dem Gymnasium hatte mir mein Vater die Bücher von Tom Sawyer und Huckleberry Finn geschenkt. Es waren zwei der wenigen Bücher, die ich gerne und ohne dazu gezwungen zu werden las. Der Junge Tom gefiel mir, und ich wollte gerne so verwegen und beliebt sein wie er. Also verwendete ich die Geschichten, die ich wieder und wieder im Buch las und erzählte sie mit ausgetauschten Namen und Orten meinen Mitschülern am Gymnasium. Wenn ich heute so darüber nachdenke, griff ich damit dem, was achtzehn Jahre später passieren sollte vorweg. Scheinbar ein weiteres Prinzip meines Lebens. Ich erfand einen eigenen Huckleberry Finn und nannte ihn nach einem Buben aus der Lilienstraße, den ich sehr bewunderte, Grammer Georg. Indianer-Joe wurde zum zwielichtigen Juden Goldberg mit seinem koscheren Laden in der Humboldtstraße. Der entlaufene Sklave Jim aus dem zweiten Buch wurde zu einem unschuldig inhaftierten und dann entlaufenen Häftling aus Stadelheim, von dem ich in der Zeitung gelesen hatte und der in meinen Erzählungen unter der Wittelsbacherbrücke hauste. Becky Thatcher nannte ich Regina Thalhammer, wie die Tochter einer Bekannten meiner Mutter, und die Isarauen in der Flaucherwildnis wurden zu meinem Mississippi. Ich verwendete die Geschichte mit der toten Katze und dem Warzenzauber aus Tom Sawyer, dem Zaunstreichen und dem toten Muff Potter (bei mir: Matthias Pottner).
Erst als ich eines Tages erzählte, dass mein Huckleberry und ich vorhatten, Isarpiraten zu werden, wurde einer meiner Mitschüler skeptisch und brachte am nächsten Tag seine Ausgabe des Tom Sawyer mit. Er zeigte die entsprechenden Stellen in der Klasse herum. Mein Kartenhaus fiel in sich zusammen, und ich musste mich selbst ins innere Klassenexil begeben, um nicht vollends zum Klassendeppen zu werden. Diesmal war ich selbst die Ursache für meine Einsamkeit und mein Außenseitertum. Ich denke, dass es damals hätte klappen können, mit dem Anschlussfinden. Aber ich wollte zu schnell, zu viel Aufmerksamkeit und Im-Mittelpunkt-Stehen.
Die kurzzeitige Beliebtheit bei den Klassenkameraden hatte mir gezeigt, dass ich nicht ohne Beachtung leben wollte. Ich war zu allem bereit, um vom Unsichtbaren zum Sichtbaren zu werden. Ob gute oder schlechte Aufmerksamkeit spielte keine Rolle, Hauptsache ich existierte.
Das Gymnasium war dafür verbrannte Erde. Also versuchte ich mich wieder an den Kindern in der Au. Neuer Versuch, neues Glück, dachte ich, pirschte mich wieder an die Straßenbuben heran und schloss mich an meinen freien Nachmittagen und an den Sonntagen ungefragt den Buben aus der Lilienstraße, dem großen Grammer (dem Vorbild für meinen Huckleberry), seinem kleinen Bruder und dem Schweiger an. Ich beobachtete sie bei ihren Streichen und lachte lauter als die anderen darüber. Bis eines Tages etwas mit einem der wohlbehüteten Mädchen vom anderen Isarufer passierte, das so nicht hätte geschehen dürfen. Ich wollte unbedingt ein Teil der Gruppe sein. Mir war natürlich auch damals schon klar, wie falsch es war, was wir, und im Speziellen ich, dem anderen Kind antaten, aber das spielte damals für mich eine kleinere Rolle als die Aussicht auf Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Ich weiß den Namen des Mädchens nicht mehr, aber sie lief jeden Tag um fünf Uhr nachmittags mit ihrem weißen Spitz auf dem Isarspazierweg an der Erhardtstraße entlang. Manchmal war sie alleine, manchmal lief sie mit einem anderen Mädchen, das fast genauso aussah wie sie: blonde Zöpfe, ein sauberes blaues Kleid, weiße Schürze und weiße Schuhe. Eine »Gspickte«, eine Reiche, sagte der große Grammer und »um die ist es nicht schade«. »Die nehmen wir aus, so wie ihr Vater meinen Vater ausnimmt«, sagte der Schweiger. Ob das irgendwas mit der Realität zu tun hatte und die beiden Väter in echt in einem Arbeitsverhältnis zueinander standen, wusste ich nicht. Wahrscheinlich war der Vater des Mädchens irgendwo ein Chef, der Vater vom Schweiger irgendwo anders ein kleiner Arbeiter, der lange und hart schuftete, aber zu wenig verdiente, um seine unzähligen Kinder durchzubringen. Wahrscheinlich hatten die beiden gar nichts miteinander zu tun.
Eines Tages sahen die drei Buben (immer mit mir im Schlepptau, ohne dass sie es wollten oder bemerkten), wie das
Mädchen in einem Geschäft für fünfzig Pfennige türkischen Honig kaufte. Ein sehr großes Stück. Sie packte es aus, schleckte kurz daran und verfütterte die Süßigkeit dann an den Spitz. Türkischer Honig war für Auer Arbeiterkinder ein unerschwingliches Luxusgut. Die drei Buben waren entsetzt und sich sofort einig: Für diese Verschwendung musste das Mädchen büßen! Von uns hatte noch nie einer jemals ein so großes Stück türkischen Honig in der Hand gehalten. Außerdem, dachten wir uns, wer so viel Geld für Süßigkeiten hat, hat bestimmt noch mehr. Alleine fürs Geldhaben musste sie eigentlich schon blechen. »Und Hunde, die Süßigkeiten fressen, scheißen immer weiß. Das ist noch ekelerregender als normale Hundescheiße«, sagte der Schweiger.
Der große Grammer war ein Angeber, aber gleichzeitig ein Feigling. Deshalb befahl er seinem kleinen Bruder, das Mädchen bei ihrem nächsten Spaziergang abzufangen und abzulenken. Warum er für diese undankbare Aufgabe seinen Bruder nahm und nicht mich, den Deppen aus der Zeppelinstraße, der sich als Handlanger förmlich aufdrängte, fragte ich mich schon gar nicht mehr. Es kam mir schon zu normal vor. Die beiden anderen Buben wollten, während das Mädchen nicht aufpasste, den Spitz entführen, um dann wieder über den redegewandten kleinen Bruder Lösegeld zu verlangen, »sonst landet das Viech in der Isar und dersauft«.
Alles lief zuerst wie geplant. Der kleine Grammer verwickelte das Mädchen in ein Gespräch, die beiden anderen Buben schnappten sich den Spitz und alle drei (vier, mit mir) liefen weg. Wir hörten das Mädchen noch schreien, liefen aber weiter mit dem Hund unter Schweigers Arm über die Reichenbachbrücke zurück in unser Revier.
Etwa eine Stunde später gingen wir vier mit dem Hund wieder auf das gute Isarufer. Der große Grammer und der Schweiger versteckten sich mit dem Spitz im Gebüsch. Der kleine Grammer und ich gingen auf den Isarweg, wo wir auch auf das Mädchen trafen. »Wenn du deinen Hund wiederhaben willst, musst du uns zehn Mark geben. Anderweitig dersauft das Viech in der Isar«, rief ihr der kleine Grammer schon von Weitem zu und glaubte, dass das Mädchen sofort so viel Angst um ihr Tier haben würde, dass sie uns das Geld gleich geben würde. Wir waren uns auch sicher, dass die Kinder der Reichen immer sehr viel Geld mit sich herumtrugen. Sie war aber nicht so unbedarft, wie sie auf uns gewirkt hatte. Das Mädchen war viel selbstbewusster als wir. Sie behandelte uns nicht mit dem Respekt, den man vor gefährlichen Verbrechern hat, sondern mit der Hochnäsigkeit, mit der Menschen ihres Standes ihre ungehorsamen Dienstboten behandelten. Sie blieb ganz ruhig und drohte uns mit ihrem Vater und der Polizei und sagte: »Nichts bekommt ihr! Außer einer Tracht Prügel. Und dann bekommen eure Eltern Probleme, weil ›Eltern haften für ihre Kinder‹.« Der kleine Grammer war ratlos und bekam es mit der Angst vor seinem Vater zu tun. Sowohl wir beiden Lösegeldforderer als auch die beiden anderen im Gebüsch wussten in dem Moment nicht, wie wir weitermachen sollten. Mit dieser Reaktion hatten wir nicht gerechnet. Den Hund freilassen und weglaufen? Da witterte ich meine Chance, endlich die Aufmerksamkeit und Anerkennung der anderen Kinder zu bekommen und reagierte sofort. Ich lief zu den beiden Buben im Gebüsch, nahm ihnen den Hund ab und warf ihn in die Isar. »Wer hat jetzt ein Problem? Dein Scheißviech wohl«, schrie ich das Mädchen an.
Der Hund verschwand im kalten Wasser, die drei Buben aus der Lilienstraße rannten weg und ich hinterher.
Am nächsten Tag stand mittags ein Gendarm vor der Schule und schaute sich alle herauslaufenden Kinder an. Die drei Buben wurden sofort erkannt und bestraft. Sie mussten den Hund in Raten ersetzen (fünfundzwanzig Mark) und bekamen von den eigenen Eltern und dem Chauffeur der Familie des Mädchens Prügel. Alle drei mussten für mehrere Monate drei Nachmittage die Woche nachsitzen und Sätze aufschreiben wie: »Ich werde nie wieder einem anderen Menschen das Haustier wegnehmen …«. Was sie dabei lernen sollten, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das große ›Nie-wieder-Hunde-stehlen‹?
Der große Grammer war schon über zwölf und musste später noch für sechs Wochen in den Jugendarrest. An mich, als Hauptmörder, dachte niemand. Ich stellte mich sogar selbst dem Gendarmen im Viertel und gestand meine Hauptschuld. Der zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben die Täter schon. Brauchst nicht den Helden zu spielen.« Im Weggehen glaubte ich ihn noch »Gschaftler« murmeln zu hören. Für die drei Buben war ich weder Verräter, noch Held. Ich blieb einfach unsichtbar. Trotz meiner Bemühungen.