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Ab 1917, als Folge der Schlacht an der Somme und der Offensive an der Ancre, veränderte sich die Stadt. Soldaten kehrten heim, es gab plötzlich wieder mehr Männer, und trotz Hunger und Rüben normalisierte sich der Alltag wieder etwas. Eines jedoch war neu und fiel im Stadtbild auf: Man sah immer mehr amputierte, gesichtsversehrte und geistig gestörte Kriegsheimkehrer auf den Straßen. Einarmige, Einbeinige, Kriegszitterer, Schreier und Morphinisten waren plötzlich überall. Alle mit der typischen Kriegskrüppellaufbahn: Musterung, Krieg, Schützengraben, Verletzung, Lazarett, Rekonvaleszenz, Heimkehr, Krüppel. Man sah Männer, die bettelten, aber die Sammelbecher kaum halten konnten vor Zittern, Männer, die sich zuerst ganz normal mit jemandem zu unterhalten schienen, aber auf einmal ohne Vorwarnung losschrien, Trambahnschaffner mit nur einem Arm oder Schuhputzer mit nur einem Bein. Das war zwar befremdlich, aber wir Kinder gewöhnten uns schnell daran.

Anders war es bei den Gesichtsversehrten. Männer ohne untere Gesichtshälfte, mit fehlender Schädeldecke unter dem Hut oder deformierten Gesichtern. Aber zum Glück blieben sie meistens versteckt zu Hause oder bekamen Glasaugen und Gesichtsprothesen aus Kupfer, die das Schlimmste verdeckten.

In der Straße mit dem seltsamen Namen Kreuzplätzchen lebte in der Hausnummer 1 eine Familie Reißner. Der Vater Arbeiter, die Mutter Zugehfrau auf der anderen Isarseite und fünf Söhne. Alle hatten sich freiwillig gemeldet und waren im Krieg. 1916 waren bereits vier gefallen und einer vermisst. Wenn man die Reißnerin beim Bäcker oder auf dem Markt sah, machten die meisten aus Scham einen großen Bogen um sie. Bei denen, die selber Söhne an der Front hatten, kam auch noch der Aberglaube hinzu, dass so ein großes Unglück ansteckend sein könnte. Erst als die Reißnerin Anfang des Sommers 1917 die Nachricht erhielt, dass der noch vermisste Sohn in einem Lazarett hinter der Front am Chemin des Dames aufgetaucht war, sprachen die Menschen wieder mit ihr. Manchmal aus Erleichterung, manchmal aus Pflichtgefühl und manchmal auch aus schlechtem Gewissen. Seltener sogar aus echter Freude.

Er sei versehrt, hieß es. Aber besser ein Sohn ohne Arm oder Bein als gar keiner, sagte der Reißnervater. Er tauchte zum Frühschoppen wieder beim Wirt auf und verkündete, dass ihm der eine Rückkehrersohn alle anderen vier ersetze.

Als der Sohn Franz aber im Juli wirklich am Hauptbahnhof ankam, war das ganze Viertel schockiert. Franz fehlte fast das ganze Gesicht. Nase, ein Auge, der Oberkiefer und die eine Gesichtshälfte waren quasi weg. Stattdessen war da nur eine rosig entzündete Haut. So ähnlich wie wenn man von einer Wunde den Schorf abkratzt und die Stelle darunter noch nicht ganz verheilt ist. Man hatte ihn so zusammengeflickt, dass alles wieder halbwegs funktionierte, aber menschlich war daran nicht mehr viel. Er konnte nicht richtig sprechen und schlürfte nur breiige Nahrung. Sein Gesicht war zu vernarbt und voller Wulste, als dass man ihm eine Maske hätte herstellen können. An der Stelle, an der man normalerweise ein Glasauge eingesetzt hätte, war gar kein Loch dafür da. Nur eine klumpige Narbe. Sein Anblick war so gruselig und gleichzeitig mitleiderregend, dass es selbst den frechsten Buben im Viertel die Sprache verschlug. Keiner der Halbwüchsigen, die sonst Einbeinigen aus Spaß die Krücken wegzogen oder Zitterern rohe Eier zuwarfen, die sie vor Zittern nicht fangen konnten und auf ihren Hosen landeten, hatte das Bedürfnis, Franz zu hänseln. Er bekam auch keinen Spitznamen wie all die anderen. Zitteralois, einhaxiger Dauerläufer, Krückenhupfer, Bazfotzn oder Stotterotto. Der Franz wurde nur Franz genannt. Wer dem Franz begegnete, grüßte ihn und behandelte ihn wie eine Respektsperson. Und das, obwohl sich vor dem Krieg niemand jemals um die Reißnerkinder gekümmert hatte. Die Auer taten so, als könne man sein Gejaule und Gestammel verstehen. Der Wagnerbräu ließ eigens für ›unseren Franz‹ eine Art Krug mit Trinkvorrichtung anfertigen, damit er mit den anderen beisammensitzen und sein Bier trinken konnte. Beim Bäcker gab es nur für den Reißnersohn eine Brösel-Mischung, die er mit Milch oder Kaffee zu einem Brei verrühren konnte. Der Metzger stellte eine besonders dicke und nahrhafte Suppe für ihn her und der Obsthändler auf dem Markt hob überreife Birnen für ihn auf, aus denen sich ein Obstmus herstellen ließ. Woran es lag, dass Franz, anders als die meisten anderen Kriegsversehrten, nicht behandelt wurde wie ein Krüppel, kann ich nur vermuten. Ich denke, dass er sich einfach nie wie einer ohne Gesicht verhalten hat. Er hat immer weitergesprochen, obwohl er nicht zu verstehen war, er hat gearbeitet, um seine Eltern zu unterstützen und sich und seinen Freunden gelegentlich etwas gönnen zu können und er hat mit den Mädchen geschäkert, obwohl sie das sicher von sich aus nicht gemacht hätten. Ich wünschte, ich hätte das auch gekonnt.

Im Frühjahr 1918 spielte Franz sogar schon mit den anderen Buben Fußball, und im August saß er mit der ganzen Bande aus dem Viertel in der Grünanlage an die Isar und gehörte dazu. Von meinem Zimmer aus konnte ich manchmal das komische Geräusch hören, das er machte, wenn er lachte.

Franz wurde im Sommer 1918 zu einem echten Teil von Burgls Entourage. Obwohl er ein paar Jahre älter war als die anderen. Manchmal konnte ich die sieben hören, wenn sie die Zeppelinstraße entlangkamen und sich laut unterhielten. Oft schlich ich dann ein wenig später auch auf die Straße und lief ihnen hinterher. Wenn sie dann an die Isar gingen, setzte ich mich ein paar Meter entfernt auf eine Bank oder einfach ins Gras hinter einen Baum und schaute ihnen beim Befreundetsein zu. Ich war immer sehr vorsichtig, weil ich nicht wollte, dass sie mich sahen. Natürlich war ich neidisch. Aber nicht auf den Franz alleine. Ich träumte mich mitten in die Gruppe hinein, und manchmal fühlte es sich in meinem Versteck so an, als gehörte ich dazu.

Einmal hörte ich nur Burgls Stimme von der Straße herauf und wunderte mich, warum nur sie sprach und nicht das übliche laute Gejohle und Gerede der anderen zu hören war. Außerdem war es viel später am Tag als sonst. Fast schon Abend. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie Burgl nur mit Franz die Straße entlang in Richtung Frühlingsanlagen ging. Burgl alleine mit dem Monster, dachte ich. Ich ging hinterher. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht brauchte sie ja einen Helden. Sie waren sehr vertraut und liefen nebeneinander her, als wäre Franz ein ganz normaler junger Mann und sie seine Verlobte. Sie gingen unter der Braunauer Eisenbahnbrücke hindurch immer weiter die Isar entlang bis zur Flaucherwildnis. Es wurde dämmrig und sie setzten sich auf eine Kiesbank. Es war sehr warm. Burgl hatte schon auf dem Weg aufgehört, aufgeregt und laut zu reden. Nur manchmal glaubte ich, sie leise ein paar Worte gurren zu hören. Ich schlich mich etwas näher an die beiden heran, um das Gespräch mitzubekommen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Ich hockte unsichtbar im Gebüsch, Burgl und Franz waren im Mondlicht recht gut zu erkennen. Die beiden saßen einfach nur da und blickten auf den Fluss. Sonst war es still, bis auf die leise vom Flaucher Biergarten herüberklingende Musik. Plötzlich stand Franz auf, drehte sich zu Burgl um, nahm ihre Hand und zog sie hoch. Als sie stand, schaute sie ihm lange in die Augen. Also in das Auge, das er noch hatte. Ich hätte gedacht, dass einer wie Franz, um solche Blicke zu bekommen, jemandem sehr viel Geld bezahlen, sie festhalten oder sogar fesseln müsste, aber offenbar tat Burgl das freiwillig. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass sie es sogar genoss. Dann sah ich, wie Franz Burgl das Kleid aufknöpfte und herunterzog. Sie stand nur im Untergewand mit dem Rücken zu mir. Oberrum war sie nackt. Die bunten Lichter vom Biergarten gaben Burgls Silhouette eine seltsame, aber schöne Lichtkante. Franz schaute sie mit seinem einen Auge an.

Es war schwer, die Gefühle zu erkennen, die sich auf seinem vernarbten Gesicht widerspiegelten. Aber er wirkte auf mich wild und unberechenbar. »Das ist meine Gelegenheit«, dachte ich. Aus dem Gebüsch springen und den Franz mit einem Stock niederstrecken. Dann Burgl wie ein Ritter wieder anziehen und sie galant nach Hause begleiten. Dort würde ich sie dann wieder ausziehen. Aber ich traute mich nicht. Ich sah auch nicht, dass Burgl sich wehrte. Müsste sie nicht schreien und um sich schlagen, wenn sie das alles nicht wollte? Franz legte seine Hände auf Burgls Busen, und ich hörte ihn seine glucksenden Geräusche machen. Sie streichelte seinen Kopf, während er an ihrem Busen herumfummelte und mit seinem vernarbten Mund daran herumzuzelte. Er schien sehr stark zu sabbern, denn ich hörte sein Spuckeschlürfen viel lauter als sonst. Burgl legte ihren Kopf in den Nacken. Gerade so, als würde sie das alles erregen. Sie stöhnte sogar ein bisschen. Mir grauste und es schüttelte mich. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie Franz mit seinem entstellten, kaum funktionierenden Mund an Burgls Busen hing und musste einen Würgereiz unterdrücken. Warum grauste es den anderen und besonders Burgl nicht genauso vor dem Franz wie mir? Ich wandte mich ab und schlich mich durch das Gebüsch davon. Gedemütigt, weil Franz begehrenswerter war als ich, aber auch weil ich mich nicht getraut hatte, Burgl zu retten.

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