Читать книгу Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2 - Frank Hille - Страница 14
Wehrdienst, Thüringen, 1981
ОглавлениеObwohl es für Dieter Becker möglich gewesen wäre wegen seiner Herzmuskelschwäche untauglich geschrieben zu werden hatte sein Vater darauf gedrängt, dass er doch den Grundwehrdienst ableisten sollte.
„Du willst studieren, also wirst du dem Staat, der dir das ermöglichen wird, auch etwas zurückgeben“ hatte Peter Becker erklärt „und ein bisschen Zucht und Ordnung lernen hat noch keinem geschadet.“
An manchen Tagen widerte den jungen Mann alles an, das stupide Abtippen von Berichten der Kompaniechefs, das großspurige Auftreten der EKs, die ihn schon mal ihre Schränke aufräumen ließen, der Fraß im Speisesaal und vor allem die Langeweile. Die Bibliothek war für ihn nach Dienstschluss zu einem Fluchtpunkt geworden. Wenn die anderen in der Stube saßen und sich vorzugsweise über Frauen unterhielten verzog er sich dorthin, um sich wieder ein Buch auszuleihen. Die junge Frau die dort beschäftigt war wies nicht die geringsten Spuren von weiblicher Anziehungskraft auf, trotzdem erwischte er sie eines Tages mit einem anderen Soldaten, der sie heftig von hinten nahm. Keineswegs verlegen kamen sie danach aus den Regalreihen zu ihren Schreibtisch mit den vielen Karteikarten zurück, der andere grinste ihn nur an und die Frau nahm wie als wäre nichts geschehen an ihrem Tisch Platz. Wie die anderen litt Dieter Becker unter der sexuellen Enthaltsamkeit aber er zweifelte, ob die Wortführer in den diversen Diskussionen überhaupt schon mit einer Frau geschlafen hatten.
„Ich glaubte, der Muff brennt“ rief Göckel theatralisch aus, er wollte Schauspieler werden „stellt euch vor, der Bär ist feuerrot, alles echt, nicht gefärbt. Und sie war auch so wie man sich die Rothaarigen vorstellt, unersättlich, wir haben es an einem Abend sieben Mal miteinander getrieben.“
Golde lachte hämisch auf.
„In deinen Träumen, du Spinner“ sagte er trocken.
Golde war obwohl erst 19 schon verheiratet und hatte eine Tochter, er musste es also wissen.
„Du bist ein furchtbarer Aufschneider, dir glaub ich gar nichts“ setzte er fort.
„Es ist wahr“ erwiderte Göckel „danach musste ich meinen Schwanz zur Kühlung in eine Schüssel legen.“
„Für den ist eine Schüssel doch viel zu groß, ich hab beim Duschen dein Schnippel gesehen, die Weiber müssen dich doch auslachen“ legte Krenkel nach und Göckel schwieg beleidigt.
Dieter Becker versuchte zu lesen. In dem Zimmer mit den acht Betten war er der Einzige der studieren wollte und der raue Ton zwischen den Maurern, Fleischern und Werkzeugmachern stieß ihn ab. Einzig zu Wunderlich, der eine CNC Maschine bedienen konnte fand er einen Draht, manchmal unterhielten sich die beiden auf dem Raucherplatz, sie hatten wegen der manchmal drückenden Langeweile mit Rauchen angefangen.
„Der Göckel ist schon ein Schauspieler, der braucht das gar nicht erst zu lernen“ sagte Wunderlich „eigenartiger Mensch, der in seinen Wunschvorstellungen lebt und darin aufgeht.“
„Ich glaube dass er Komplexe hat“ antwortete Dieter „er ist nicht sonderlich groß, zwar nicht hässlich aber auch nicht besonders ansehnlich, er flüchtet aus der realen Welt, ich kann das schon verstehen.“
„Das kann schon sein“ meinte Wunderlich „aber er soll uns mit seinen Spinnereien in Ruhe lassen, das nervt nur.“
Natürlich gab Göckel keine Ruhe, achtzehn Monate lang würde Dieter Becker Geschichten aller Art von ihm hören die er aber jedes Mal entsprechend modifizierte, so dass es den Anschein hatte, er würde sie zum ersten Mal erzählen, der Mann verfügte offensichtlich über Phantasie und Talent.
Die anderen waren recht tumbe Gesellen, die eigentlich immer danach trachteten Alkohol zu organisieren und sich die Kante zu geben. Dabei gingen sie sehr erfinderisch vor, schnell waren regelrechte Läuferstaffeln in der Lage, ausreichende Vorräte in das Objekt hinein zu schmuggeln. Damit standen sie allerdings vor dem Problem die Flaschen in der Stube zu verstecken, was nicht einfach war, denn der Spieß, ein mürrischer Alkoholiker von schätzungsweise 45 Jahren, kippte, wenn er entsprechend gelaunt war, schon mal den Inhalt eines Spindes in die Stube. Schließlich wurde die Abdeckung eines Heizungsstranges fachgerecht (die jungen Männer waren ja überwiegend handwerklich begabt) so präpariert, dass exakt drei Flaschen Schnaps dort hineinpassten und so oft der Spieß das Zimmer auch absuchte, dieses Versteck sollte er niemals finden.
Der Form halber trank Dieter nur gelegentlich einen Schluck mit und auch auf Ausgang war er nicht scharf. Wenn die anderen besoffen in der Stube umhertorkelten fühlte er sich einsam und verlassen. Auch die Berufssoldaten, mit denen er in der Schreibstube zu tun hatte, waren nicht unbedingt Intelligenzbestien, wahrscheinlich wären ab einem bestimmten Dienstgrad dann andere Ansprüche zu erwarten. Oft fragte er sich nach der Motivation dieser Männer, so einen Beruf zu ergreifen. Vielleicht war da der Wunsch nach einer Struktur des Tages, nach Ordnung, danach, Entscheidungen von anderen auszuführen und sich nicht damit abgeben zu müssen selbstständig zu denken, sicher auch ein ganz ordentlicher Verdienst. Auf der anderen Seite war es auch nicht gerade erbaulich, den ganzen Tag an einer Maschine zu stehen und wie ein Automat Teile in eine Presse zu legen oder Teile zu drehen. Außerdem hatten die Berufssoldaten Macht über die Soldaten, vor den Offizieren, die vielfach jünger als sie waren, mussten sie allerdings auch strammstehen und Dieter erlebte ihre Zerrissenheit hautnah mit, wenn sie, nachdem sie ein Offizier angefahren hatte, ihren Frust direkt an die jungen Männer weitergaben.
Sicher gab es auch väterliche Typen die in ihrem Beruf aufgingen, aber den Kern der Truppe bildeten Leute, die ihm gestört vorkamen. So in ein Korsett eingezwängt zu sein war für ihn unvorstellbar, jeden Tag die gleichen Verrichtungen abzuspulen und immer wegen der Langeweile in der Gefahr, sich den Frust wegzusaufen, das schien ihm unmöglich. Er wusste sehr wohl, dass er sich ihnen überlegen fühlte aber rief sich selbst zur Ordnung: bis auf sein Abitur hatte er noch nichts Entscheidendes geleistet. Als ein Jahr vorbei war rückte er in den Kreis der Entlassungskandidaten, der sogenannten EK auf, jetzt musste er noch sechs Monate überstehen.