Читать книгу Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 38

Der Austausch

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Miranya wusste nicht, wie viele Tage sie sich bereits in der Gefangenschaft Scruuls und seiner Mitverschwörer befand. Es waren nicht allzu viele, vielleicht drei oder vier, aber genau wusste sie es nicht, denn in dem dunklen, fensterlosen Raum hatte sie jedes Gefühl für die Zeit verloren. Die meiste Zeit hatte sie geschlafen, zumal ihr nicht viele andere Möglichkeiten geblieben waren, sich zu beschäftigen. Wenn sie wach war, hatte sie dumpf vor sich hin gegrübelt und versucht, Fluchtpläne zu schmieden. Einige hätten sogar durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn sie beispielsweise Scruul durch einen Hexenzauber (den sie nicht beherrschte) unter ihren Willen hätte zwingen können, oder wenn sie einen Schlafzauber über alle ihre Entführer hätte werfen können, oder sonst irgendwelche Dinge hätte tun können, die außerhalb ihrer Fähigkeiten lagen.

Ansonsten jedoch waren ihre sämtlichen Fluchtpläne undurchführbar, und dass sie sie überhaupt so lange wieder und wieder im Kopf durchspielte, war nicht mehr als ein Versuch, sich gedanklich zu beschäftigen, da sie sonst nichts tun konnte. Zurzeit war sie ihren Entführern hilflos ausgeliefert.

Immerhin hatte man ihr einige Stunden nach ihrem ersten Erwachen die Handfesseln abgenommen, als man ihr etwas zu Essen brachte, und darauf verzichtet, sie ihr anschließend wieder anzulegen. Ihre Füße blieben jedoch gefesselt, außerdem war sie durch eine stählerne Manschette um das linke Fußgelenk und eine Kette, die zu kurz war, als dass sie auch nur von ihrer Pritsche hätte aufstehen können, an die Wand gekettet. Das Schloss der Manschette war einfach aber stabil; ohne irgendwelche Hilfsmittel konnte sie es unmöglich öffnen.

Außer Scruul bekam sie niemanden von ihren Entführern zu sehen. Der Magier jedoch suchte sie noch mehrfach auf und versuchte, sie in eine weitere Diskussion zu verwickeln, doch Miranya ließ sich schließlich erst gar nicht mehr darauf ein. Sie hatte erkannt, dass sie im Kampf der Worte gegen ihn keine Chance hatte, weil es ihm meisterhaft gelang, mit seiner Mischung aus Tatsachen, Thesen und subjektiven Schlussfolgerungen immer wieder Zweifel in ihrem Herzen zu säen. Er wirkte ernsthaft enttäuscht, dass es ihm nicht gelang, sie auf seine Seite zu ziehen, doch Miranya war fest entschlossen, sich nicht von seinem Netz aus Halbwahrheiten und Verdrehungen einwickeln zu lassen. Auch wenn seine Besuche die einzige Abwechslung von der Langeweile ihrer Gefangenschaft darstellten, verzichtete sie lieber von vornherein darauf, sich noch einmal mit ihm zu unterhalten.

Auch ihr gefiel die bisherige Entwicklung der Menschheit nicht, aber das war in ihren Augen noch kein Grund, sich zu ihrem Herrscher aufschwingen und ihr auf diese Art den Frieden der Sklaverei bringen zu wollen. Und mochte Scruul auch noch so hehre Gründe anführen, dass er und die anderen Magier des Dunklen Bundes Kenran'Del, sein Wissen und seine Machtmittel nur bräuchten, um die Damonen erfolgreich zurückzuschlagen, so wusste sie doch, dass die Caer-Sharuun alles in erster Linie benutzen würden, um ihre eigennützigen Interessen durchzusetzen und jeden Widerstand dagegen gewaltsam zu brechen. Daran würde sie sich niemals beteiligen, und nach einiger Zeit schien Scruul auch einzusehen, dass es ihm nicht gelingen würde, ihre Ansichten zu ändern, denn er gab seine diesbezüglichen Versuche schließlich auf.

Dabei hatte sie ein paarmal bereits darüber nachgedacht, wenigstens zum Schein auf sein Angebot einzugehen, um ihr Leben zu retten. Allerdings hatte Scruul ihre Hoffnung, sich auf diese Art zu retten, rasch zunichte gemacht. Wer sich einmal dem Weg des Dunklen Bundes verschrieben hätte, für den gäbe es keine Rückkehr hatte er behauptet. Obwohl er keine nähere Erklärung dafür geliefert hatte und die Caer-Sharuun als Meister von Lüge und Betrug bekannt war, hatte Miranya ihm dies auf Anhieb geglaubt. Sie hatte von Anfang an die ihn durchdringende Finsternis gespürt, und sie war nun sicher, dass diese etwas mit seiner Entscheidung für den Dunklen Bund zu tun hatte.

Bislang hatte sie Magie stets als neutral betrachtet, weder als gut, noch als böse, sondern allein abhängig davon, wozu man sie einsetzte. Es schien jedoch durchaus auch eine finstere Seite der Magie zu geben, derer sich Scruul bediente, die Miranya aber mit abgrundtiefem Schrecken erfüllte. Ehe sie so wie Scruul wurde, würde sie lieber sterben. Das hatte sie ihm deutlich ins Gesicht geschleudert, und seither hatte er auf weitere Versuche verzichtet, sie zur Zusammenarbeit zu überreden.

Immerhin brachte er ihr regelmäßig zu Essen und zu Trinken. Meist gab es nur Brot und Wasser, manchmal aber auch eine Suppe oder etwas Wein.

Zu ihrer eigenen Verwunderung verspürte Miranya kaum Furcht. Sie zweifelte nicht daran, dass Scruul seine Drohung, sie zu töten, wahr machen würde, doch der Gedanke an ihren eigenen Tod war noch nicht einmal richtig bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Irgendwie war die Vorstellung viel zu abstrakt für sie, um sie wirklich zu ängstigen. Alles kam ihr seltsam unwirklich vor und schien an ihr vorbeizulaufen, als wäre sie in einem Traum gefangen, in dem sie gleichzeitig die Hauptrolle und die eines unbeteiligten Zuschauers spielte. Vielleicht war es einfach ein Schutzmechanismus ihres Verstandes, auf diese Art die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, doch wenn, dann funktionierte er hervorragend.

"Maziroc ist in Therion eingetroffen", berichtete Scruul ihr schließlich bei einem seiner Kontrollbesuche. "Es ist ihm gelungen, Kenran'Del aus seinem magischen Schlaf zu erwecken, denn der befindet sich bei ihm, und wie ich es erwartet habe, ist er bereit, sich uns im Austausch gegen dich zu stellen."

"Und was hättet ihr gemacht, wenn mein Schicksal ihm egal gewesen wäre?", erkundigte sich Miranya. "Immerhin kennt er mich ja nicht einmal."

Lachend schüttelte der Magier den Kopf.

"Diese Möglichkeit habe ich nicht einmal ernsthaft in Betracht gezogen. Das ist das Problem mit Helden oder Menschen, die sich zumindest dazu berufen fühlen. Sie handeln immer und in jeder Situation so albern heldenhaft, was ihr Verhalten leicht berechenbar macht." Er wurde wieder ernst. "Damit er und Maziroc erst gar keine Gelegenheit bekommen, irgendwelche Vorbereitungen zu treffen, um uns zu hintergehen, werden wir den Austausch schon direkt heute Abend durchführen. Ich denke, du weißt, was das für dich bedeutet."

"Allerdings." Miranya musste schlucken, weil sie plötzlich einen Frosch im Hals verspürte.

"Wir werden dich töten, sobald sich Kenran'Del in unserer Hand befindet, aber das muss nicht sein. Noch ist es nicht zu spät, dich anders zu entscheiden und dein Leben zu retten. Wechsle nur auf unsere Seite, dann wird dir nichts geschehen."

"Lieber sterbe ich", wiederholte sie, was sie ihm schon bei einem der letzten Gespräche gesagt hatte. Diesmal allerdings fiel es ihr deutlich schwerer. Ihre Ermordung war nicht länger ein zu einer ungewissen Zeit bevorstehendes Ereignis irgendwann in der Zukunft. Es war näher gerückt, hatte einen genaueren Zeitpunkt, und allmählich spürte Miranya nun doch, wie sich Angst in ihre Gedanken schlich und von ihr Besitz ergriff.

"Wie du willst, ich wollte es dir nur noch einmal anbieten." Scheinbar gleichgültig zuckte Scruul mit den Schultern. Er schien einzusehen, dass er sie nicht umstimmen konnte, denn ohne einen weiteren entsprechenden Versuch zu unternehmen, verließ er den Raum.

Miranya blieb allein zurück. Schon in den vorangegangenen Tagen war ihr langweilig gewesen, doch es hatte nichts gegeben, worauf sie warten konnte, abgesehen von dem ungewissen Zeitpunkt, an dem Maziroc und Kenran'Del nach Therion kommen würde. Nun jedoch war das anders. An diesem Abend sollte der Austausch stattfinden, und dabei würde sie sterben, wenn kein Wunder geschah. Vermutlich waren dies die letzten Stunden ihres Lebens, und sie sollte versuchen, jede einzelne Minute zu genießen, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Die Zeit schien noch langsamer als zuvor zu verstreichen. Miranya fühlte eine kaum bezwingbare innere Unruhe und Ungeduld; sie konnte kaum erwarten, dass es Abend wurde, obwohl sie dann sterben würde. Wenigstens hätte sie dann alles hinter sich, und das war besser, als dieses tatenlose Abwarten, Grübeln und sich fürchten.

"Verdammt!", stieß sie hervor. Sie war eine Vingala, auch wenn ihre Weihe erst ein knappes Jahr zurücklag, und auch wenn sie nicht gedacht hätte, dass ihr Leben so frühzeitig und unter solchen Bedingungen enden würde, so wollte sie ihrem Orden doch keine Schande bereiten und ehrenvoll sterben.

Das Warten ging weiter ...

*


Man hatte Miranya die Fußkette gelöst und ihr einen Mantel übergezogen, ihr dann jedoch die Hände wieder gefesselt, ihr die Augen verbunden und ihr außerdem einen Knebel in den Mund gesteckt, als man sie abholte und sie erstmals seit ihrer Entführung ihre Zelle wieder verließ. Den Knebel sah sie ein, immerhin mussten die Caer-Sharuun verhindern, dass sie um Hilfe schrie oder Maziroc und Kenran'Del warnte und den Plan dadurch auffliegen ließ. Warum man ihr jedoch die Augen verband, blieb ihr schleierhaft. Wenn alles wie von Scruul geplant verlief, würde sie ohnehin sterben, und anderenfalls würde sie auch nicht viel mehr als seine Beteiligung an dem Komplott verraten können. Aber vielleicht hatte man sie nicht einfach nur in irgendeinem beliebigen Haus festgehalten, sondern es handelte sich um einen wichtigen Stützpunkt, dessen genaue Lage man unbedingt geheim halten wollte.

Sie musste durch zwei Räume gehen, dann eine Treppe hinauf und durch einen weiteren Raum oder einen Korridor, ehe eine Tür vor ihr geöffnet wurde und sie ins Freie trat. Nach dem tagelangen Aufenthalt in der fensterlosen Zelle war die frische, kalte Nachtluft, die ihr entgegenschlug, die reinste Wohltat, und sie atmete ein paarmal tief durch die Nase ein.

Ihr Vorhaben, sich den Weg einigermaßen einzuprägen, musste sie direkt darauf schon aufgeben. Der vereinbarte Treffpunkt befand sich vermutlich in einem abgelegenen Teil der Stadt oder sogar außerhalb, aber es hätte sicherlich Aufsehen erregt, wenn eine gefesselte, geknebelte Frau mit verbundenen Augen durch die Straßen geführt worden wäre. Stattdessen brauchte sie nur wenige Schritte im Freien zu gehen und musste dann in eine Kutsche steigen. Außer ihr stiegen drei weitere Personen ein, dann setzte sich das Gefährt rumpelnd in Bewegung.

Die Fahrt führte über unebenes Kopfsteinpflaster, und immer wieder bog die Kutsche nach rechts oder links ab, sodass Miranya schon nach kurzer Zeit gänzlich die Orientierung verloren hatte. Die ganze Zeit über wechselten ihre Begleiter kein Wort miteinander. Es war kalt in der Kutsche, und da sie keinen Mantel trug, fror Miranya erbärmlich.

Nach mehr als einer halben Stunde schließlich hörte das Pflaster auf und wich einem mit Schlaglöchern und Baumwurzeln übersäten Weg. Offenbar hatten sie Therion verlassen. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich eine Berührung am Kopf spürte, doch zu ihrer Überraschung nahm man ihr lediglich die Augenbinde ab.

Miranya warf einen Blick aus dem Fenster. Sie hatte sich nicht getäuscht, sie hatten die Stadt tatsächlich bereits verlassen. Außer schneebedeckten Büschen und Bäumen war nichts zu sehen, allerdings war es noch nicht so spät, wie sie gedacht hatte. Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt. Sie wandte sich den drei Männern zu, die mit ihr in der Kutsche saßen, doch konnte sie auch jetzt ihre Gesichter nicht erkennen, da sie sich Tücher um ihre Köpfe gewickelt hatten, die nur schmale Schlitze für die Augen freiließen.

Nach einigen Minuten bog die Kutsche in einen anderen, noch schmaleren Weg ein, der fast nur noch aus Schlaglöchern zu bestehen schien. Sie wurden ordentlich durchgeschüttelt, und zweimal wäre Miranya, die sich mit den gefesselten Händen nirgendwo festhalten konnte, fast von ihrem Sitz zu Boden geschleudert worden, ehe sie schließlich vor einer heruntergekommenen, ehemaligen Mühle hielten. Ein gefrorener Bach schlängelte sich daran vorbei. Von dem Mühlrad waren nur noch Trümmer übrig, und im Dach das Hauses klafften gewaltige Löcher. Von allen Ecken und Kanten hingen lange Eiszapfen herunter.

Unter anderen Umständen hätte das halb verfallene Gemäuer inmitten der dick verschneiten Winterlandschaft vermutlich einen überaus romantischen Anblick geboten, doch so hatte Miranya keinen Blick dafür übrig. Auf einen entsprechenden Befehl hin stieg sie gemeinsam mit ihren Bewachern aus der Kutsche aus. Hier im Freien, wo es noch kälter war, fror sie in ihrem dünnen Gewand erbärmlich.

Aufmerksam blickte sie sich um. Von Maziroc oder gar dem geheimnisvollen Kenran'Del war noch nichts zu entdecken, doch dafür traten nun mehrere weitere Männer aus dem Haus, die ihre Gesichter gleichfalls hinter Tüchern verborgen hatten.

"Ist alles in Ordnung?", erkundigte sich einer ihrer Begleiter. Miranya war sich nicht ganz sicher, aber der Stimme nach könnte es der Rattengesichtige aus dem Gasthaus sein.

"Alles okay", erwiderte einer der anderen Männer. "Wir warten schon den ganzen Nachmittag. Niemand hat versucht, sich der Mühle auch nur zu nähern."

"Gut. Ich möchte keine unliebsamen Überraschungen erleben", sagte der Rattengesichtige. Trotz seiner Maske war Miranya sich mittlerweile fast sicher, dass es sich um ihn handelte. Er wandte sich ihr zu. "Vorwärts!", befahl er und versetzte ihr einen derben Stoß, der sie fast in den Schnee geschleudert hätte. Nur mit Mühe konnte sie mit den gefesselten Armen das Gleichgewicht halten.

Sie gingen auf die Mühle zu und traten ein. Das Gemäuer musste schon sehr lange leer stehen. An mehreren Stellen war die Decke herabgebrochen, Schutt und Geröll bedeckten den Fußboden, dazwischen waren noch vereinzelt die Überreste alter Möbel zu sehen, die von den früheren Bewohnern zurückgelassen worden waren.

Auf einen Befehl des Rattengesichtigen hin stieg einer der Männer vorsichtig eine altersschwache Holztreppe hinauf. Er hatte sich einen Bogen um die Schulter gehängt, und Miranya konnte sich vorstellen, was er damit vorhatte. Von den Fenstern im Obergeschoss aus hatte er ein hervorragendes Sichtfeld auf den freien Platz vor der Mühle. Sobald sich Kenran'Del in der Hand seiner Begleiter befand und sie freigelassen wurde, würde er von dort oben aus den tödlichen Pfeil auf sie abschießen.

"Kannst du dir denken, was seine Aufgabe sein wird?", fragte der Rattengesichtige. Trotz seiner Maske meinte Miranya sehen zu können, wie sich sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzerrte. "Er sorgt dafür, dass alles genau wie geplant verläuft. Alles, verstehst du? Du hast deine Chance gehabt, dein Leben zu retten. Jetzt ist es zu spät."

Da sie aufgrund des Knebels ohnehin nicht antworten konnte, beschränkte Miranya sich darauf, ihn nur zornig und voller Verachtung mit den Augen anzufunkeln und sich nicht anmerken zu lassen, wie groß die Angst war, die sie inzwischen empfand.

Nach einigen Sekunden packte der Mann sie grob am Arm und zerrte sie auf eine Tür zu, dann versetzte er ihr abermals einen Stoß, der sie in den dahinterliegenden Raum taumeln ließ.

"Dein Hochmut wird dir schon noch vergehen", zischte er. "Weißt du was? Ich freue mich sogar richtig darüber, dass du Scruuls Angebot ausgeschlagen hast. Am liebsten würde ich dich sogar eigenhändig töten. Schade nur, dass Scruul uns ausdrücklich verboten hat, uns vorher noch ein bisschen mit dir zu amüsieren."

Lüstern ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern, und Miranya fühlte sich fast wie von unsichtbaren Händen begrapscht. Angeekelt wich sie zurück. Lachend schlug Rattengesicht, wie sie den Mann für sich selbst getauft hatte, die Tür zu und schob von der anderen Seite einen Riegel vor.

Als sie allein war, trat Miranya wütend mit dem Fuß gegen eine Wand, um sich abzureagieren, dann erst blickte sie sich um. Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, durchmaß nur wenige Schritte und war völlig leer. Es war nicht ganz dunkel, durch ein kleines Fenster dicht unter der Decke, viel zu hoch und zu klein, als dass sie dadurch hätte fliehen können, fiel etwas Licht herein. Zwar war die Sonne längst untergegangen, doch dafür schien der Mond hell und fast voll vom Himmel herab.

Mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, ließ Miranya sich auf den Boden sinken. Sollte ihr Leben wirklich an diesem Abend hier an diesem abgelegenen, von allen Göttern verlassenen Ort in einem Land, das sie noch nie zuvor betreten hatte, enden? Bis zuletzt hatte sie nicht wirklich geglaubt, dass ihr etwas passieren würde, auch wenn es nur eine Mischung aus Zweckoptimismus und jugendlicher Unbeschwertheit gewesen war, alles Unangenehme einfach zu verdrängen. Sie war nicht davon ausgegangen, dass Scruul nur bluffte, doch hatte sie unterschwellig darauf vertraut, dass irgendein Wunder geschehen und sie gerettet würde, einfach deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnte zu sterben. Sie war noch viel zu jung dafür und sie wollte es nicht, und allein schon deshalb durfte und konnte es einfach unmöglich dazu kommen.

Nun jedoch sickerte nach und nach die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass genau das doch geschehen würde, und dass es ausgesprochen unwahrscheinlich war, dass sich noch ein Wunder ereignete, durch das sie gerettet wurde. Resignation begann sich in ihr breitzumachen.

Ein halbe Stunde, vielleicht eine Stunde, in der sie trübsinnig ihren Gedanken nachhing und zwischenzeitlich immer wieder im Kreis in dem Zimmer herumrannte, um sich ein wenig aufzuwärmen, verging, bis sie von draußen plötzlich sich nähernde Hufschläge hörte. Kurz darauf wurde der Riegel zurückgezogen und die Tür wieder geöffnet.

"Es ist so weit", sagte Rattengesicht. "Komm schon, Schätzchen, dein großer Auftritt steht bevor. Und zugleich auch dein letzter."

Umständlich richtete sich Miranya auf und trat auf ihn zu. Als sie sich für seinen Geschmack zu langsam bewegte, packte er sie und stieß sie vor sich her. Sie gingen auf die nach draußen führende Tür zu, doch bevor sie sie erreichten, hielt er Miranya noch einmal zurück.

"Eines solltest du noch wissen", sagte er. "Nimm es als einen freundschaftlichen Rat. Scruul hat kein Interesse daran, dass dein Magierfreund Maziroc getötet wird, solange er sein Vertrauen genießt und es unter Umständen noch zu seinem Vorteil ausnutzen kann. Solltest du jedoch nicht mitspielen und ihn trotz des Knebels irgendwie warnen, dann wird auch er sterben. Ich habe mehrere Bogenschützen im Gelände postiert. Wenn du also nicht willst, dass Maziroc mit dir zusammen stirbt, dann mach besser keine Dummheiten. Hast du verstanden?"

Miranya nickte niedergeschlagen. Sie wollte nicht, dass Kenran'Del in die Hand des Dunklen Bundes geriet, aber sie wollte auch nicht, dass Maziroc starb, und natürlich wollte sie auch ihren eigenen Tod nicht. Aber sie war hilflos, es gab nichts mehr, was sie dagegen tun, wie sie die anderen warnen konnte. So alt, erfahren und mächtig in der Magie Maziroc auch war, die Fähigkeit, ihre Gedanken zu lesen, beherrschte er nicht, und sie glaubte auch nicht, dass Kenran'Del dazu in der Lage war.

Sie verließen das Haus. Etwa drei Dutzend Schritte von ihr entfernt, am Ende des freien Platzes, standen Maziroc und ein ihr fremder Mann. Beide waren von ihren Pferden abgestiegen. Der Fremde war groß und schien sehr kräftig zu sein, obwohl dieser Eindruck auch durch den dicken Mantel erweckt werden konnte, den er trug. Dichtes dunkelblondes Haar umgab sein markant geschnittenes Gesicht. Obwohl er angespannt und ernst blickte, glitzerte in seinen Augen ein leicht spöttischer Ausdruck.

Es musste sich um Kenran'Del handeln.

Interessiert betrachtete Miranya ihn. Er war ein sehr gut aussehender Mann, offenbar sogar ein wahrer Hüne, und sie konnte sich vorstellen, dass ihm so manches Frauenherz zuflattern würde, wenn er es nur darauf anlegte. Auch auf sie machte er einen sympathischen Eindruck, aber das war auch alles. Fast war Miranya ein wenig enttäuscht. Sie wusste nicht recht, was sie erwartet hatte. Nach allem, was sie gehört hatte, wahrscheinlich eine Art Überwesen, eine Gestalt mit einem fast gottartigen Charisma, dabei hatte auch Maziroc in seiner Geschichte von seinem ersten Zusammentreffen mit Kenran'Del diesen als äußerlich völlig normalen Menschen mit ziemlich genau diesem Aussehen geschildert.

"Du bist Kenran'Del?", rief der Rattengesichtige.

Der blonde Mann nickte. "So ist es."

"Dann beweise es uns. Der Legende nach besitzt der echte Kenran'Del ein einzigartiges Flammenschwert."

"Wie du willst." Der Mann drückte Maziroc die Zügel seines Pferdes in die Hand, dann schlug er langsam seinen Mantel zur Seite, griff an seinen Gürtel und zog ein Schwert aus der Scheide. Es sah aus wie jede andere Klinge, wie Miranya feststellte. Als er es jedoch ein paar Sekunden in der Hand gehalten hatte und auf einen Busch am Rande der Lichtung richtete, begann die Klinge plötzlich zu leuchten. Ein greller Blitz löste sich aus der Spitze, zuckte auf den Busch zu und ließ ihn in einer Stichflamme auflodern. Nur Asche und etwas brodelndes Wasser, in das sich der Schnee verwandelt hatte, blieben zurück.

"In Ordnung", sagte Rattengesicht. "Jetzt steck das Schwert wieder weg! Leg die Hände auf den Kopf und komm langsam zu uns herüber!"

Widerspruchslos folgte Kenran'Del dem Befehl. Er steckte das Schwert vorsichtig in die Scheide zurück, faltete die Hände über dem Kopf und kam auf die Mühle zu.

"Nicht erschrecken", hörte Miranya plötzlich eine männliche Stimme leise in ihr rechtes Ohr wispern, aber natürlich tat sie es doch. Sie zuckte zusammen wie unter einem Hieb und blickte sich hastig um, doch niemand stand rechts von ihr.

Der Rattengesichtige hatte ihr Zusammenzucken bemerkt und warf ihr einen kurzen misstrauischen Blick zu. Gleich darauf aber zuckte er mit den Schultern und beobachtet wieder den sich nähernden Kenran'Del.

"Hab keine Angst", vernahm Miranya erneut die leise Stimme. "Dir wird nichts passieren, aber lass dir jetzt nichts mehr anmerken, sonst bringst du uns nur beide in unnötige Gefahr."

Sie warf einen nervösen Blick zur Seite, doch auch weiterhin konnte sie niemanden sehen. Nicht nur das, sie spürte auch geistig nichts. Jedes intelligente Wesen, selbst die meisten ihr bekannten größeren Tiere, strahlten eine mentale Aura aus, eine Art geistiges Rauschen, das ein Magier und eine Hexe auffingen, auch wenn sie es meist nur unterbewusst wahrnahmen. Miranya bezweifelte, dass so etwas überhaupt möglich war, doch selbst wenn sie es mit einem so mächtigen Magier zu tun hätte, dass dieser sich unsichtbar machen könnte, müsste sie seine Gegenwart zumindest mental spüren. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie empfing absolut nichts.

Obwohl es unmöglich war, weil sich neben ihr absolut niemand befinden konnte, spürte sie jedoch im nächsten Moment die Berührung einer kalten Messerklinge an ihren Handgelenken. Ihre Fesseln wurden bis auf einige dünne Faserstränge durchgeschnitten.

"Den Rest kannst du selbst zerreißen", raunte ihr die Stimme zu. "Warte, bis ich es dir sage, dann befreie dich und lauf zu Maziroc hinüber. Keine Sorge wegen der Heckenschützen, um die kümmere ich mich."

Unter anderen Umständen hätte die Gegenwart eines Mannes, den sie weder sehen noch mental spüren konnte, sie sicherlich geängstigt. Jetzt aber hatte sie nichts mehr zu verlieren, und offensichtlich versuchte der Fremde ihr wirklich zu helfen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für sie.

Kenran'Del hatte mittlerweile mehr als die Hälfte der Strecke bis zur Mühle zurückgelegt. Er schien wirklich bereit zu sein, sich ohne jede Gegenwehr zu ergeben und den Caer-Sharuun auszuliefern, allerdings stand für Miranya außer Frage, dass er etwas von dem Befreiungsversuch wusste und vermutlich auch etwas mit ihrem unsichtbaren Helfer zu tun hatte.

In diesem Moment zuckte der Rattengesichtige plötzlich zusammen. Miranya sah, dass er ein Stück neben ihr zu Boden starrte, und als sie seinem Blick folgte, sah auch sie, was er entdeckt hatte. Ihr unsichtbarer Helfer mochte aufgrund einer ihr unbekannten Magie unsichtbar und mental stumm sein, aber in dem gut knöchelhohen Schnee hinterließ er Fußabdrücke wie jeder andere Mensch auch.

Der Rattengesichtige hielt sich nicht erst lange mit Überlegungen auf, woher die Abdrücke stammten, obwohl er niemanden sehen konnte. Er stieß einen warnenden Ruf aus, während seine Hand zum Gürtel glitt. Blitzschnell zog er sein Schwert und ließ die Klinge in Leibeshöhe dort durch die Luft wirbeln, wo am Boden gerade ein weiterer Abdruck unter der Last eines unsichtbaren Fußes im Schnee entstand. Ein Schmerzensschrei ertönte aus dem Nichts.

Nur wenige Sekunden später wurde die alte Mühle von einer Explosion erschüttert. An gleich drei verschiedenen Stellen loderten Stichflammen empor, die in dem trockenen Holz sofort frische Nahrung fanden und sich in rasendem Tempo weiterfraßen. Die Männer, die sich noch in dem Gebäude aufhielten, kamen in Panik ins Freie gestürzt; sogar der Heckenschütze, der im Obergeschoss gelauert hatte, sprang voller Furcht direkt aus dem Fenster, da die Flammen ihm jeden anderen Fluchtweg abschnitten. Sekundenlang herrschte völliges Chaos.

Miranya sah, dass Kenran'Del mittlerweile wieder umkehrte und zu Maziroc zurückhastete. Sie zerriss die Reste ihrer Fesseln, tauchte unter dem Schwert des Rattengesichtigen hindurch und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. Gleich darauf wollte sie ebenfalls zu Maziroc hinüberrennen, doch die Hand ihres unsichtbaren Helfers ergriff sie am Arm und zerrte sie in eine andere Richtung, direkt auf die nächststehenden Büsche zu.

Hinter ihnen brüllte der Rattengesichtige irgendwelche Befehle, doch niemand hörte auf ihn. Die Mühle loderte bereits lichterloh, viel schneller, als sie in den wenigen Sekunden, die seit der Explosion erst verstrichen waren, eigentlich hätte brennen dürfen. Kopflos flüchteten die Männer vor dem Flammeninferno und der Höllenhitze, die von dem Gemäuer ausstrahlte. Keiner dachte daran, die flüchtende Miranya zu verfolgen, und von dem Unsichtbaren schien außer dem Mann mit dem rattenähnlichen Gesicht ohnehin keiner etwas mitbekommen zu haben. Dafür war alles zu schnell gegangen.

Als er merkte, dass niemand seinen Befehlen gehorchte, nahm der Rattengesichtige schließlich selbst die Verfolgung auf, doch hatten Miranya und ihr unsichtbarer Begleiter bis dahin bereits einen beträchtlichen Vorsprung. Sie tauchten in das dichte Buschwerk ein.

"Lauf noch ein Stück weiter und warte dann auf mich!", befahl der Unbekannte. "Ich halte ihn auf."

Er ließ ihren Arm los. Wie er es ihr aufgetragen hatte, lief Miranya weiter. Zwischen den Sträuchern lag nicht so viel Schnee, als dass es deutliche Spuren gegeben hätte, außerdem ließ sie bei jeder Berührung der Zweige hinter sich so viel Schnee herabwirbeln, dass dieser ihre Abdrücke sofort wieder verdeckte.

Sie bekam nicht genug Luft für die Anstrengung, aber immerhin hatte sie jetzt die Hände frei. Während des Laufens zerrte Miranya den Knebel aus dem Mund, schleuderte ihn zur Seite und genoss es, wieder frei durchatmen zu können.

Hinter sich hörte sie einen Schlag, dem ein Schmerzenslaut und gleich darauf ein dumpfer Fall folgten. Wenige Sekunden später trat ein ihr unbekannter Mann aus dem Unterholz. Er besaß eine vage Ähnlichkeit mit Kenran'Del, doch war er nicht ganz so groß und kräftig. Außerdem wirkte sein Gesicht feiner und ausdrucksstärker. Kleine Fältchen um seinen Mund und seine Augen und zwei Grübchen an seinen Wangen verrieten, dass er gerne lachte, doch in seinen braunen Augen, die durch die langen, seidigen Wimpern noch betont wurden, stand auch der Ausdruck eines tief in ihm verborgenen Schmerzes geschrieben; eine Melancholie und Traurigkeit, die sie auf sonderbare Weise anrührten. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er mochte Anfang dreißig sein, vielleicht einige Jahre jünger, vielleicht älter.

Mit Schrecken registrierte Miranya, dass sie ihn selbst jetzt mental nicht spüren konnte, obwohl sie ihn sah. Er war in dieser Hinsicht so stumm, als gäbe es ihn gar nicht, eine gänzlich fremde und unangenehme Erfahrung für sie. Aber auf jeden Fall hatte er ihr erst die Flucht ermöglicht und sie damit gerettet, also stand er wohl auf ihrer Seite. Dann sah sie, dass im linken Ärmel seines Mantels ein Loch klaffte. Die Ränder waren blutverschmiert, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass der Rattengesichtige ihn mit seinem Schwert angegriffen hatte.

"Du bist verwundet", stieß sie hervor und griff nach seinem Arm, um nach der Wunde zu sehen, doch er entzog sich ihr.

"Das ist nur ein kleiner Kratzer", behauptete er. "Darum können wir uns später kümmern. Jetzt müssen wir erst einmal weg von hier, bevor diese Kerle sich von ihrem Schrecken erholt haben und sich an die Verfolgung machen. Noch ein Stückchen weiter, dort warten zwei Pferde auf uns."

"Dann sag mir wenigstens, wie du heißt", verlangte Miranya. "Immerhin hast du mir das Leben gerettet. Diese Kerle wollten mich gar nicht austauschen. Sie hätten mich getötet, sobald sie Kenran'Del in ihrer Gewalt gehabt hätten."

"Ich weiß", erklärte der Fremde. "Maziroc und ich dachten uns bereits, dass irgendetwas an der Sache faul wäre. Deshalb habe ich mich unsichtbar schon vor der Ankunft deiner Entführer in der Mühe versteckt und dort einige Vorbereitungen getroffen. Anschließend habe ich sie unbemerkt belauscht und konnte mir anhand dessen zusammenreimen, was sie vorhatten."

"Dann kannst du dich wirklich unsichtbar machen?"

"Nicht aus eigener Kraft, aber ich besitze so etwas wie eine Tarnkappe."

Von der Seite her warf Miranya ihm einen verständnislosen Blick zu.

"Du und Maziroc, ihr würdet es wohl als eine Art Skiil bezeichnen."

"Dann musst du ein äußerst mächtiger Magier sein", sagte Miranya staunend. "Trotzdem hat Maziroc dich bislang nicht erwähnt. Kennst du ihn schon länger?"

"So könnte man es wohl nennen", erwiderte der Mann mit eigentümlicher Betonung. Als Miranya ihn anblickte, sah sie, dass er grinste. "Seit ungefähr tausend Jahren, wie ich mittlerweile erfahren habe, auch wenn ich den allergrößten Teil dieser Zeit verschlafen habe. Wesentlich mehr, als ich eigentlich geplant hatte. Diese Kerle waren hinter mir her. Ich bin Kenran'Del. Der echte."

Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten

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