Читать книгу Darwin schlägt Kant - Frank Urbaniok - Страница 12

1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!

Оглавление

Halten wir hier einfach einmal fest, dass es umstritten ist, ob es synthetische Urteile a priori geben kann oder nicht. Die meisten Autoren gehen aber – in Übereinstimmung mit Kant – davon aus, dass prinzipiell Erkenntnisse über Wirklichkeit nicht nur durch die Auswertung von Erfahrungen möglich sind, sondern – etwas zugespitzt ausgedrückt – auch durch reines Denken.

Ich teile diese Auffassung. So bin ich davon überzeugt, dass durch Gedankenexperimente oder durch die freie Variation im Sinne der Phänomenologie (vgl. Kap. 7.3) nicht nur eine Reproduktion bestehender Regeln oder eine haltlose Spekulation generiert werden können. Gerade Kant selbst ist ein Beispiel dafür, welch bahnbrechende Erkenntnisse durch Gedankenexperimente hervorgebracht werden können. Denn seine Untersuchungen im Zusammenhang mit synthetischen Urteilen a priori sind nichts anderes als das. Auch Einstein nutzte Gedankenexperimente sehr intensiv. Einige seiner Ergebnisse wurden sehr viel später durch Experimente bestätigt, andere widerlegt. Richtig ist aber der Einwand, dass zum Beispiel Gedankenexperimente nicht empirisch überprüfbar sind, sofern sie sich nicht auf theoretisch überprüfbare Schlussfolgerungen beziehen. Das mag ein Nachteil sein. Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass viele wichtige Fortschritte in der Wissenschaft nicht durch Experimente, sondern zunächst durch Gedankenexperimente erreicht wurden. Manchmal konnten sie erst viele Jahre später – a posteriori – experimentell bestätigt wurden. Ohnehin ist es so, dass die experimentellen Methoden der Empirie häufig überschätzt werden (vgl. Kap. 6).

Auch hier darf noch einmal auf Kant verwiesen werden. Er demonstrierte am Beispiel der Physik – übertragen gilt das für jede Naturwissenschaft –, dass experimentelle Methoden keineswegs mit Empirie gleichzusetzen sind. Patzig schreibt dazu: »Der Physiker, wie jeder Naturwissenschaftler, muß von einer bestimmten Hypothese ausgehen, und seine Experimente müssen Antworten auf gezielt formulierte Fragen liefern.« [3, S. 15]

Bei Kant klingt das so: »Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.« [2, S. XIII]

Die Vernunft erkennt Kant zufolge in der Natur also nur das, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe« in die Natur hineingetragen hat. »Diese Aussage«, so Patzig, »räumt der Spontanität der Vernunft bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit eine führende, ja ausschließliche Rolle ein.« [3, S. 15]

Neben der Vorstrukturierung durch Hypothesenbildung gibt es einen weiteren Nachteil von naturwissenschaftlichen Experimenten: Immer wird durch ein Experiment die Komplexität der wirklichen Verhältnisse drastisch reduziert. Häufig führt das auf dem Papier und in PowerPoint-Präsentationen zu schön darstellbaren Ergebnissen, die aber leider zu Verzerrungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Das ist ein gravierender Einwand gegen experimentelle Methodik. Wir werden uns mit den vielfältigen praktischen Konsequenzen dieser Problematik noch genauer beschäftigen. Genau das ist aber ein großer Vorteil von Gedankenexperimenten. Denn sie sind weit weniger auf die Reduzierung von Komplexität angewiesen.

Die Strukturregeln unseres Erkenntnisvermögens laden zwar zu Verzerrungen ein und sind mit zahlreichen Limitationen verbunden. Aber wenn man die Prinzipien und die Fallstricke kennt, lässt sich dessen Potenzial besser nutzen. Und dieses Potenzial ist trotz aller Einschränkungen groß. Denn die Strukturprinzipien unseres Verstandes eröffnen ein Spektrum von unendlich vielen möglichen Gedanken und Kombinationen von Gedanken. Dass dadurch – zumindest manchmal – nicht nur eine quantitative Aussage gemacht ist, sondern auch qualitativ – ähnlich dem oft zitierten Quantensprung – eine über die ursprünglich engen Grenzen hinausweisende Erkenntnis möglich sein soll, scheint mir eine plausible Annahme zu sein. Warum soll etwas Unendliches von vornherein begrenzt, also qualitativ endlich sein?

Darwin schlägt Kant

Подняться наверх