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Der große Irrtum
ОглавлениеBeginnen wir mit der menschlichen Vernunft. Sie unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Sie ist eingebettet in die allgemeine menschliche Psychologie (= menschliche Natur) und hat ein gigantisches Potenzial. Aber, Vorsicht. Die Vernunft hat auch viele Schwachstellen, die den meisten Menschen unbekannt sind. Räumen wir gleich mit einem Irrtum auf, der seit Jahrtausenden gepflegt wird. Ja, die menschliche Vernunft ist ein faszinierendes Instrument dafür, uns selbst und die Welt um uns herum zu erkennen und einzuordnen. Aus dieser Tatsache wird ein unreflektierter Kurzschluss abgeleitet. Weil man mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen kann, sei das genau auch der Zweck unserer Vernunft. In der christlichen Tradition klingt das so: Gott habe den Menschen die Vernunft gegeben, um Gott und Gottes Schöpfung erkennen zu können. Denn nur mit diesem Geschenk sei es möglich, die Existenz und die Größe Gottes zu erkennen, sich für die richtige Religion zu entscheiden und die Welt sowie die eigene Existenz zu verstehen. Aber auch ohne diesen religiösen Bezug hat man immer angenommen, der Mensch besitze seine Vernunft, damit er die Welt und sich selbst richtig erkennen und einordnen könne. Das ist falsch. Vor allem aber ist dieses Missverständnis über den Zweck der Vernunft eine schlechte Voraussetzung, die Vernunft »vernünftig« anzuwenden. Denn es macht die Vernunft noch viel fehleranfälliger, als sie es ohnehin schon ist. Ich will den Gedanken anhand eines Beispiels verdeutlichen. Dabei versetzen wir uns in die Zeit der Urzeitmenschen.
Stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hörten in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der eine Urmensch geht stets davon aus, das Rascheln stamme von einem Löwen. Er macht sich blitzschnell aus dem Staub. Der andere wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungsgrundlage zu haben. Der erste ist ein wahrhaft einfältiger Geist. Bei jedem Rascheln sieht er vor seinem geistigen Auge einen hungrigen Löwen und nimmt schnurstracks die Beine in die Hand. Er lebt in einer eigenen Vorstellungsblase, die wenig mit der Realität zu tun hat. Die Welt erfasst er nur rudimentär. Anders sein Kollege. Der ist neugierig und will seinen Verstand nutzen. Mittlerweile hat er das Phänomen des Raschelns gut verstanden. Er weiß, dass es meistens der Wind ist, der geräuschvoll die Blätter bewegt. Er hat beobachtet, dass auch eine Vielzahl kleiner und großer Tiere solche Geräusche verursachen kann. Nur selten steckt tatsächlich ein Löwe dahinter. Mithilfe seines Verstandes und seiner Beobachtungsgabe hat er ein differenziertes Bild der Wirklichkeit entwickelt, das ihm viele faszinierende Details offenbart. Er kennt die Welt sehr viel besser als sein Artgenosse, der die Präsenz von Löwen in grotesker Weise überschätzt. Aber er hat leider einmal zu lange überlegt und gewartet. Da nutzte es ihm auch nichts, dass er in mehr als 99 Prozent der Fälle mit seinen Beurteilungen über die vielfältigen Ursachen des Raschelns goldrichtig lag. Die eine tragische Fehleinschätzung war eine zu viel. Sie ereignete sich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem er noch keine Kinder gezeugt hatte. Da zeigt sich der evolutionäre Vorteil seines in seinen Wahrnehmungen und Urteilen total verpeilten Kollegen. Der wurde nie gefressen und zeugte zehn Kinder. Die Evolution hatte also gute Gründe – diese personifizierende Darstellung eines Prinzips sei aus Gründen der Anschaulichkeit erlaubt (vgl. Kap. 2.8) –, die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit einer Urteilsbildung weit höher zu gewichten als deren Wahrheitsgehalt. Hier wird klar, worin der schlagende Vorteil dumpfer Automatismen und total verzerrter Beurteilungen liegt. Die Folgen dieser evolutionären Ausrichtung der Vernunft sind insbesondere in der modernen Informationsgesellschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen.