Читать книгу Taubenjahre - Franziska C. Dahmen - Страница 10

Musik und zwei Geschichten

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Es war stockdunkel als eine fröhlich schnatternde Frauengruppe in das Lager zurückkehrte und es mit neuem Leben erfüllte. Die Kinder, von denen Hanna angenommen hatte, dass sie längst schlafen würden, stürmten aus den Wagen und stürzten sich mit lautem Tohuwabohu auf die Heimkehrerinnen, die sie herzlich umarmten und küssten. Als dann die Hunde sämtliche Bewohner des Lagers bellend umsprangen, schien das Chaos komplett zu sein.

Was für ein Empfang!, dachte Hanna bei sich. Niemand in ihrer Familie oder in ihrer Nachbarschaft wäre auf den Gedanken gekommen, jemanden bei seiner Heimkehr so freudig zu empfangen. Da sie nicht Karl hieß, wurde sie zu Hause eh geflissentlich ignoriert. Allenfalls ein auf Abend reduzierter, kühler Gruß kam hin und wieder vor. Mit mehr war nicht zu rechnen.

Neidisch beobachtete Hanna, wie ein Mädchen von vier Jahren in den Rocktaschen seiner Mutter nach Süßigkeiten wühlte und sich mit glänzenden Augen ein Bonbon in den Mund steckte, während ihre Mutter ihr liebevoll übers Haar strich.

»Meine Familie!«, meinte Rafael mit weit ausgebreiteten Armen lachend. »Kommen sie. Ich werde sie meiner Mutter vorstellen.«

Schüchtern folgte Hanna Rafael, der auf eine hochgewachsene Frau zusteuerte, die lautstark im Begriff war, den schwarzschnäuzigen Köter zu vertreiben, der ihr wild wedelnd und winselnd um die Beine strich.

Wenigstens noch jemand, der diesen Köter nicht ausstehen kann!, dachte Hanna.

»Dej, darf ich dir Fräulein Hanna Schubek vorstellen? – Hanna meine Mutter Rupa Zlobek.«

Ein neugieriger, wenn auch etwas distanzierter Blick traf Hanna. Rupa Zlobek mochte an die vierzig sein. Dichtes, dunkelbraunes Haar, das von ersten grauen Strähnen durchzogen wurde, umschmeichelte ein klar geschnittenes Gesicht. Ein feiner Linienkranz, der sich um ihre blauen Augen gebildet hatte, verriet, dass sie gerne und oft lachte. Jetzt allerdings blickte sie Hanna ernst, fast zurückhaltend an.

»Freut mich, sie kennenzulernen Frau Zlobek.«, sagte Hanna mit einer etwas wackligen Stimme, die ihre Unsicherheit verriet.

Rafaels Mutter nickte verhalten, während ein kleines Mädchen angelaufen kam, um sich an ihren knöchellangen Rock zu schmiegen. Neugierig starrte sie Hanna aus großen, runden Augen an.

»Fräulein Schubek.« Ein kurzer Händedruck mehr nicht.

Hanna spürte, wie die anderen Frauen sie unter halb gesenkten Augenlidern misstrauisch beäugten.

»Ich habe sie zu unserm Fest eingeladen.«, meinte Rafael laut und schaute dabei seiner Mutter geradewegs in die Augen.

»Ich sehe es!«, kam es trocken zurück.

»Falls ich ihnen ungelegen komme, kann ich wieder nach Hause gehen. Bitte …, ich möchte ihnen keinerlei Umstände oder gar Unannehmlichkeiten bereiten.« Hanna war froh, dass sie endlich ausgesprochen hatte, was sie fühlte.

Ein erstes Lächeln huschte über das Gesicht von Rafaels Mutter. Aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, warf Rafael sich für sie in die Bresche und protestierte lautstark: »Bitte Fräulein Schubek, bleiben sie. Es war mein Fehler. Ich hätte ihnen von Anfang an sagen sollen, dass unsere Feste erst spät beginnen. Können sie mir noch einmal verzeihen?«, dabei bedachte er sie mit einem Blick, der einen Stein zum schmelzen gebracht hätte. »Kommen sie, geben sie ihrem Herzen einen Ruck und bleiben sie ... Ich verspreche ihnen, ich werde meinen Fehler wieder gut machen, ja? Sie werden es nicht bereuen.«

Trotz hochgezogener Augenbraue mütterlicherseits sowie trotz des spürbar leisen Getuschels von Seiten der anderen Frauen, die sich darum bemühten, nicht ein einziges Wort ihres Gesprächs zu verpassen, schmolz Hanna bei Rafaels Anblick dahin.

»Na, gut!« gab Hanna mit einem gepressten Lachen von sich. »Ich bleibe!«

»Wunderbar!« Rafael strahlte sie an und Hanna merkte, wie ihre Knie anfingen zu zittern. »Kommen sie, ich zeige ihnen wie es Fusco geht!«, und schon riss Rafael sie mit sich fort.

*

Hanna war satt und zufrieden und genoss die Wärme des Lagerfeuers in vollen Zügen. Nur mit einem Ohr lauschte sie der Musik. Ein Mann begleitete ein junges Mädchen auf seiner Geige. Mit halb geschlossenen Augen summte sie die Melodie mit, während ihre Gedanken unwillkürlich den bisherigen Abend Revue passieren ließen.

Es hatte einige Zeit gedauert, bis die Frauen aus ihrer Reserviertheit aufgetaut waren. Aber nachdem Rafael sie stur jedem einzelnen Clanmitglied meinte vorstellen zu müssen, war die anfängliche Skepsis verschwunden. Insbesondere Rafaels Großvater erwies sich als Charmeur. Der alte Zausel umgarnte sie derart mit blumigen Komplimenten, dass sie sich wie eine Prinzessin aus Tausendundeinenacht vorkam.

»Meine kleine duftende Rose, sie müssen noch eine Tasse türkischen Mocca trinken. Er ist so schwarz wie die Nacht und so süß wie die Liebe. Kennen sie eigentlich die Geschichte vom Nachtigallenmädchen und den 41 Räubern? – Sie wird ihnen gefallen, insbesondere da mich ihre Stimme an sie erinnert. Sie haben ein wunderbares Timbre in ihrer Stimme meine kleine duftende Rose.«

Erstaunt bemerkte Hanna, wie Rafael bei den Worten seines Großvaters nach Luft schnappte. »Ich würde eher sagen, dass Hanna wie eine Margerite aussieht! Hell und strahlend, umkränzt von einem unschuldigen Kranz weißer Blütenblätter. Abgesehen davon, Fräulein Schubek, glauben sie meinem Großvater kein Wort. Er ist ein wahrer Herzensbrecher. Abgesehen davon müssen sie wissen, dass er bei uns zu den besten Märchenerzählern gehört.« Rafael zuckte lachend mit den Schultern. »Tja, und wie so oft im Leben gilt auch in seinem Fall: Das, was man oft und leidenschaftlich gerne tut, färbt letztlich auf einen selber ab. Sie wissen schon: Zuviel Hantieren in roter Farbe führt zu roten Händen. Nicht wahr Popo?«

Popo lachte laut auf und zeigte dabei eine Reihe intakter Zähne. »Warte einmal ab, mein Junge. Wenn du erst in meinem Alter bist, dann wirst du dich darüber freuen, neben einer Rose … «, gespielt hielt er inne und streckte Rafael abwehrend die Hände entgegen, »einer Margerite sitzen zu dürfen. Und wenn sie dann mit dir spricht …«, gekonnt verdrehte er die Augen und griff sich mit beiden Händen ans Herz, »dann wirst du meinen, den Himmel auf Erden zu erleben.«

Alle lachten.

»Und sie sind wirklich Märchenerzähler von Beruf?«, hakte Hanna leicht ungläubig nach. Nur schwer konnte sie sich vorstellen, dass ein erwachsener Mann tatsächlich davon leben sollte. Im Orient mochte es so etwas vielleicht geben; schließlich waren die Geschichten aus Tausendundeinernacht voll davon, aber hier? Hier im Okzident erzählte man seinen Kindern oder Enkelkindern abends eine Gutenachtgeschichte, aber vor Publikum auftretend und seinen Lebensunterhalt damit verdienend … nein, nie und nimmer!

»Natürlich!«, mit vor Stolz erfüllter Brust sah Rafaels Großvater sie an.

»Er ist der Beste!«, bekräftigte Rafael.

»Das ist er!«, jubelten zwei Kinder und flehten den alten Mann an, ihnen eine Geschichte zu erzählen.

»Ich fürchte, die Sterne sind noch nicht weit genug vorbeigezogen.«, erwiderte der alte Mann gespielt abwehrend.

Ein pausbäckiger Junge von gerade einmal fünf Jahren schmiegte sich daraufhin an ihn. »Bitte Popo…«

»Der Mond steht noch nicht hoch genug.«

»Ganz bestimmt will er schon jetzt deine Geschichte hören, Popo. Bitte, bitte, bitte …«, meinte ein anderer, der die ganze Zeit über an den Haaren eines Fliegenwedels kaute, was Hanna jedes Mal, wenn sie ihn ansah, schaudern ließ.

Gespielt ergeben rollte der alte Mann mit den Augen, strich dem pausbäckigen Jungen übers dunkelbraune Haar und holte aus seiner Jackentasche eine Holzpfeife heraus.

»Ich weiß gar nicht, ob Fräulein Schubek sich für eines meiner Märchen interessiert.«, meinte er beiläufig und stopfte den Tabak fest in die Öffnung hinein.

»Das tut sie!«, versicherten sämtliche Kinder unisono und schauten sie dabei flehend an. »Sie mögen doch auch Märchen? Sagen sie ja? Bitte …?«

Hanna lachte und zuckte ergeben mit den Schultern.

»Bitte, sag ja. Ja?«, piepste ein kleines etwa vierjähriges Mädchen, das in ihrer Welt längst in Morpheus Armen gelegen hätte.

»Wie kann ich da noch nein sagen!« Schmunzelnd wandte Hanna sich an Rafaels Großvater, der mittlerweile genüsslich an seiner Pfeife zog und eine dicke Wolke Tabakrauch ausblies.

»Wenn sie mich so bezaubernd bitten, mein Nachtigallenmädchen, kann ich unmöglich nein sagen.«

Die Kinder jubelten laut und bildeten einen Halbkreis um Popo. Doch womit Hanna niemals in ihrem Leben gerechnet hätte, war, dass sich innerhalb kürzester Zeit sämtliche Erwachsenen zu ihnen ans Lagerfeuer setzten und den alten Mann abwartend ansahen. Erstaunt schüttelte Hanna den Kopf. Der Orient befand sich unmittelbar vor ihrer eigenen Haustür, wer hätte das gedacht!

Der alte Mann zog noch einmal an seiner Pfeife, deren Inhalt im Dunkel der Nacht rot aufglühte. Dann senkte er die Stimme und begann mit leiser Stimme zu erzählen: »Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da lebte ein armer Zigeuner, den alle nur den Lippenlosen, Bimuyakro, nannten. Warum sie ihn so nannten, … ich weiß es nicht! Denn ebenso wie du«, der alte Mann zeigte auf den pausbäckigen Jungen, »oder auch du«, dieses Mal kniff er dem kleinen Mädchen in die Wangen, das daraufhin verschämt kicherte, »besaß er einen Mund, der genau so aussah wie der deinige. Und reden, das konnte er ebenso gut wie du und ich.«

»Vielleicht haben sie ihn Lippenlos genannt, weil er immer auf ihnen gekaut hat, Popo.«, meinte der Junge mit dem Fliegenwedel.

»Dann hätten sie ihn Lippenkauer genannt.«, wies ihn ein anderer Junge zurecht, woraufhin der mit dem Fliegenwedel ihm einen bitterbösen Blick zuwarf.

Der Alte nickte bedächtig und fuhr fort. »Kann sein, wer weiß … Auf jeden Fall hatte der Stammeshäuptling eine wunderschöne Tochter, die er rote Blume, also Lolerme, nannte.«

»Wie du!«, flüsterte das kleine Mädchen, das an Hannas Beine gelehnt saß.

Hanna strich ihr zärtlich übers Haar.

»Nun war Bimuyakro in eben jene Lolerme bis über beide Ohren verliebt, doch Lolerme verachtete ihn und wies ihn ab. Wie, lachte sie abweisend, du willst mich heiraten? Du kannst mich doch noch nicht einmal küssen! Du bist doch der Lippenlose! Was bildest du dir ein?

Der Lippenlose senkte traurig den Kopf. Ich kann dich nicht zwingen mich zu heiraten. Ich werde mir ein anderes Mädchen suchen. Doch ich warne dich Lolerme, es wird der Tag kommen, da wirst du noch bereuen, dass du mich nicht gewollt hast.

Das Mädchen lachte ihn zusammen mit den anderen Stammesangehörigen aus. Wie konnte der Lippenlose nur so eingebildet sein?!

Bimuyakro hingegen drehte sich traurig um und verließ den Stamm noch in der selben Nacht. Einsam und verlassen wanderte er durch den finsteren Wald, bis er an eine Kreuzung gelangte, wo er sich müde und mit gebrochenem Herzen zu Boden sinken ließ. Eine Träne nach der anderen rann seine Wange herab, als ihn plötzlich etwas am Kopf berührte.«

Der alte Mann machte eine kurze Pause. Er zündete seine Pfeife erneut an, zog einmal tief an ihr und fuhr dann fort: »Erschrocken schaute der Lippenlose empor.« Popo riss dabei seine dunklen Augen auf. »Was er sah, war ein wunderschönes Nivaši-Mädchen, das da vor ihm stand.

Ich weiß, warum du weinst. Und ich bin gekommen, um dich zu trösten., sagte das Nivaši-Mädchen zu ihm. Anstatt Lolermes werde ich dich heiraten. Morgen um diese Zeit bringe ich dich in mein goldenes Haus, wo wir in Lust und Freude miteinander leben werden.

Daraufhin setzte sie sich neben ihn, umarmte und küsste ihn. Doch ihre Umarmung war so kalt wie Eis und ihr Kuss so kühl wie der Herbstwind.« Popo schüttelte sich und tat so, als fröre er. »Doch sie hörte nicht auf. Und als die Sonne aufging, da waren ihre Küsse und Umarmungen so warm, wie die einer jeden Frau. Kikeriki«, imitierte der alte Mann den Schrei eines Hahns, woraufhin sämtliche Zuhörer zusammenzuckten. » … machte es und das Nivaši-Mädchen verließ den jungen Mann, der daraufhin in sein Lager zurückkehrte. Als ihn die Leute wiedersahen, lachten sie laut und riefen: Gestern nannten wir dich ohne Grund den Bimuyakro, aber heute fehlt dir tatsächlich eine Lippe.

Bimuyakro sagte nichts, er nahm sich einen Spiegel und schaute hinein.Und tatsächlich: Ihm fehlte eine Lippe. Aber da sie nicht blutete, zuckte er nur mit den Schultern und ging seiner Arbeit nach.

Als es Nacht wurde, schlich er sich wieder zu dem Kreuzweg, wo das Nivaši-Mädchen auf ihn wartete. Dieses Mal nahm sie ihn an die Hand und führte ihn zu einem nahegelegenen See, der im Mondschein silbern glänzte. Noch während er ihn bewunderte, umfasste sie ihn mit beiden Armen und sprang mit ihm ins Wasser. Bimuyakro wusste nicht wie ihm geschah: Auf einmal befand er sich in einem wunderschönen Haus. Wo er hinsah, blinkte ihm Gold und Silber entgegen und auf dem Tisch befanden sich die ausgefallensten und delikatesten Speisen und Getränke.«

Popos Beschreibung ließ Hannas Geschmacksknospen aufblühen. Schon meinte sie den köstlichen Geschmack von Feigen und Datteln auf ihrer Zunge zu spüren.

»Die Tage vergingen und Bimuyakro war glücklich. Am neunten Tag jedoch sprach das Nivaši-Mädchen zu ihm: Höre, Bimuyakro, wir müssen uns für einen Tag und eine Nacht trennen. Ich werde dich hinauf auf die Erde bringen und du kannst solange zu deinem Stamm zurückkehren. In der daraufkommenden Nacht erwarte ich dich am Ufer des nächstgelegenen Flusses.

Und tatsächlich, das Nivaši-Mädchen setzte ihn in der Nähe seines Stammes ab. Im Lager angekommen, waren alle erstaunt ihn zu sehen und fragten ihn, wo er denn so lange gewesen sei. Doch Bimuyakro blieb stumm. Er setzte sich vielmehr ans Feuer, als plötzlich aus seiner Tasche ein paar Goldstücke fielen. Verwundert sah er nach und fand darin noch viel mehr Geld.

Der Stamm, der noch nie in seinem Leben soviel Geld und Gold auf einmal gesehen hatte, freute sich und feierte ein großes Fest, nur Lolerme stand traurig beiseite und weinte bitterlich. Gerade als sie Bimuyakro bitten wollte, ihr ihre Worte zu verzeihen und sich mit ihr zu versöhnen, war er wieder verschwunden.

Erst nach neun weiteren Tagen kehrte er zurück und brachte wieder viel Geld mit. Jeder freute sich darüber. Denn schließlich konnte der Stamm auf einmal ohne Arbeit gut von dem, was Bimuyakro mitbrachte und so freigiebig austeilte, leben. Egal wo sie ihr Lager aufschlugen, stets kehrte Bimuyakro am neunten Tag für einen einzigen Tag zurück, nur um in der darauffolgenden Nacht erneut zu verschwinden.

Eines Tages jedoch, genauer nach neun Monaten änderte sich alles: Bimuyakro war todtraurig, denn das Nivaši-Mädchen hatte einem Jungen das Leben geschenkt. Nun werdet ihr sagen, das ist doch etwas wunderbares, aber das Kind eines Nivaši-Mädchens ist kein normales Kind. Es ist ein Nivaši-Junge, was soviel bedeutete, dass der Junge den Menschen nur Leid und Unheil zufügen wird, um nach Verlauf von dreißig Jahren als Nivaši ins Wasser zurückzukehren. Genau dieses behagte Bimuyakro überhaupt nicht und er überlegte, wie er sich von seiner Geliebten befreien könnte.

Da trat Lolermes Vater auf ihn zu und sagte: Ich sehe, dass du traurig bist. Meine Tochter Lolerme ist es auch. Ich weiß, dass du ihr einen Heiratsantrag gemacht hast und dass sie abgelehnt hat. Es tut ihr Leid. Sie liebt dich. Auch wenn du nicht mehr so viel Geld nach Hause bringen solltest, so möchte ich dich doch als Schwiegersohn haben. Wenn du willst, dann feiern wir morgen Hochzeit. Bimuyakro, der Lolerme heimlich immer noch liebte, sprang voller Freude auf und willigte ein.

Schon am nächsten Tag feierten sie Hochzeit und Bimuyakro kehrte nicht mehr zu dem Nivaši-Mädchen, das einst seine Geliebte gewesen war und ihm einen Jungen geboren hatte, zurück.

Die Zeit verging und die beiden liebten sich sehr. Das Glück schien vollkommen und das Nivaši-Mädchen war vergessen. Da begab es sich, das Bimuyakro eines Nachts mit seinen Stammesgenossen ins nächste Dorf wanderte. Dabei passierten sie eine Brücke. Und wie es alter Brauch war, spuckten auch sie dabei dreimal ins Wasser.« Popo spuckte drei Mal ins Feuer. »Da geschah es: Plötzlich flog aus dem Wasser ein Nivaši-Junge und ergriff Bimuyakro und zog ihn mit sich in die dunkle Tiefe.

Natürlich waren alle zutiefst erschrocken und suchten ihn. Aber erst am nächsten Morgen fanden sie seine Leiche und trugen sie zurück ins Lager, wo Lolerme auf sie wartete.

Als sie ihren toten Mann da liegen sah, erschrak sie sosehr, dass sie starb, woraufhin man beide zusammen ins Grab legte und begrub.

Als der Stamm nach einer Weile zu dem Ort, wo die beiden toten Liebenden schliefen, zurückkehrte, da blühten auf ihrem Grab zwei weiße Blumen.«5

Rafaels Großvater zog an seiner Pfeife und nickte Hanna zu, die sich verschämt, die Tränen aus dem Gesicht wischte.

»Was waren das für Blumen, Popo?«, fragte ihn ein kleines Mädchen.

Noch einmal zog der alte Mann genüsslich an seiner Pfeife. »Nun mein kleines Rotkehlchen, das waren zwei ganz besondere Blumen, die man nur sehr, sehr selten im Leben zu sehen bekommt.«

Die Kleine starrte ihn mit großen Augen an. »Ich denn?«

Popo zuckte mit der Schulter und lächelte sie verschmitzt an. »Wer weiß!«

Eine der Frauen reichte ihm einen Becher mit Wein, den er dankend annahm. Erst dann wurden reihum die Gläser der anderen gefüllt, ehe die Frauen dazu übergingen, den Männern köstlich duftende Speisen zu reichen.

Für Hanna war der ganze Ablauf Neuland. Neugierig beobachtete sie das Geschehen. Allem Anschein nach schien es eine strickte Trennung zwischen Männern und Frauen zu geben. Keine der Frauen aß etwas, nur die Männer. Gerade als sie sich bei Rafael danach erkundigen wollte, fing ein Mann an zu singen. Es war ein melancholisches Lied. Und obwohl sie die Worte nicht verstand, meinte sie förmlich vor Sehnsucht und Traurigkeit zu vergehen. Erst als ihr Rafaels Mutter die Hand auf die Schulter legte, kehrte sie in das Hier und Jetzt zurück.

»Entschuldigen sie … «, sagte sie etwas gestelzt, »Sie sind heute unser Ehrengast. Meine Tochter hat sich ihnen gegenüber ungebührlich verhalten. Sie hätte ihnen längst etwas zu essen anbieten sollen. Es tut mir Leid. Ich kann mich nur für ihr Verhalten entschuldigen. Ich hoffe, sie können ihr verzeihen. Sie ist jung … Aber vielleicht schmeckt ihnen, was ich für sie ausgesucht habe ... Es ist gutes Essen.«, bekräftigte sie und hielt ihr einen überquellenden Steingutteller entgegen, auf dem sich neben Fleisch auch Brot und diverse Gemüsestücke stapelten.

Verwirrt nahm Hanna ihn an und nickte. »Das macht nichts. Danke. Die Geschichte von Rafaels Großvater war so wunderschön und jetzt die Musik…«

Ein erstes Lächeln verzauberte das Gesicht von Rafaels Mutter und ließ es von Innen heraus leuchten. »Ja, er ist ein großer Erzähler und Raoul ein großer Sänger. Aber er singt nur traurige Lieder. Er trägt zu viel Scherz in sich ... Warten sie ab, später werden wesentlich temperamentvollere Lieder gesungen. Mein Mann holt gerade seine Gitarre. Und wie ich sehe, haben ein paar andere auch schon ihre Instrumente ausgepackt. Es wird ihnen gefallen. Und entschuldigen sie bitte nochmals …«

»Das ist Spanferkel!«, erklärte Rafael ihr, während seine Mutter weiterging.

»Wie? - Ach!«, Hanna starrte auf ihren Teller und biss vorsichtig in das zu kleinen handlichen Stücken geschnittene Fleisch. Es schmeckte köstlich!

Amüsiert beobachtete Rafael sie. Die anfängliche Skepsis und Zurückhaltung hatte sich gelegt und Hanna langte herzhaft zu. Er war froh, dass seine Mutter ihr den Teller persönlich gebracht hatte, insbesondere da seine Schwester sie trotz zahlreicher, warnender Blicke seinerseits, beim Servieren der Fleischplatten ignoriert hatte. Zwar hatte seine Mutter im Laufe des Abends Sara zwei Teller in die Hand gedrückt und dabei auf Hanna und ihn gezeigt, aber Sara hatte nur abweisend mit dem Kopf geschüttelt. Erst als sich Rupas Gesicht zunehmend verdüsterte, war sie widerstrebend auf sie zugegangen. Aber ein gewisses Funkeln in ihren Augen, ließ Rafael ahnen, dass dieser Teller niemals bei ihm und Hanna ankommen würde. Und so kam es, wie es kommen musste: Kurz bevor sie sie erreichte, hatte sie trotzig die beiden Teller auf einem Baumstumpf abgestellt, ihren Rock genommen und mit dem Saum demonstrativ über die beiden Teller gestrichen. Anschließend hatte sie unverfroren mit den Schultern gezuckt, ihm übertrieben entschuldigend in die Augen geblickt, die beiden Teller wieder in die Hand genommen und war von dannen gezogen. – Hätte er gekonnt, er wäre am liebsten aufgestanden und hätte seiner Schwester dafür den Hintern versohlt.

»Das Essen … ist … köstlich. Mein Gott, … dass es so etwas Gutes gibt.«, stieß Hanna genüsslich aus, während sie mit einer Scheibe Brot sorgfältig den letzten Rest Bratensaft auftunkte und ihn in ihrem Mund verschwinden ließ.

Rafael starrte hingegen wie gebannt auf ihre vollen Lippen. Ein kleiner Krümel haftete auf ihrer Unterlippe. Am liebsten hätte er ihn mit dem kleinen Finger fort gestrichen. Ganz zart. Ganz vorsichtig. Als sie sich dann auch noch mit der Zunge über die Lippen leckte und dabei einen feucht glänzenden Film hinterließ, stöhnte er innerlich auf. Diese Frau machte ihn wahnsinnig.

»Rafael, jetzt bist du dran.« Ein junges Mädchen boxte ihn lachend in die Seite.

»Sina?!« Im ersten Moment irritiert, dann amüsiert, betrachtete er das junge Mädchen, das sich keck vor ihn hingestellt hatte und ihm eine reich mit Intarsien verzierte Gitarre hinhielt.

»Nun komm schon Rafael … spiel für uns …«, bettelte sie und zeigte dabei einen derart übertriebenen Schmollmund, dass Rafael unwillkürlich an zwei nebeneinander liegende Fahrradschläuche denken musste.

Um nicht laut auflachen zu müssen, sagte er stattdessen: »Hanna, darf ich dir Sina vorstellen?«

Hanna betrachtete das Mädchen neugierig. Sie mochte in etwa sechzehn Jahre alt sein und war eine glutäugige, dunkelhaarige Schönheit, die bis über beide Ohren in Rafael verliebt zu sein schien.

Eifersucht glomm in ihr hoch. Nie in ihrem Leben würde sie mit so einer Schönheit konkurrieren können. »Freut mich, sie kennen zu lernen«, stieß Hanna mit einer Stimme, die an Schmirgelpapier erinnerte, aus.

Das Mädchen ignorierte sie geflissentlich. Stattdessen konzentrierte sie sich weiterhin auf Rafael. »Nun mach schon … spiel eine Tarantella … Wenigstens für mich, ja?«

Rafael schüttelte den Kopf und hob ein kleines Stöckchen vom Boden auf. »Such dir jemand anderen aus Sina.«

»Ich wusste gar nicht, dass sie spielen können …?«, meinte Hanna.

Rafael zuckte leicht mit den Schultern. »Etwas.«

Hanna blickte wieder interessiert auf die Gitarre. Die Einlegearbeiten waren aus Ebenholz und – wenn sie sich nicht irrte – aus Elfenbein. »Das ist ein wunderschönes Instrument.« Unwillkürlich streckte sie die Hand nach ihr aus, um ihr seidig schimmerndes Holz zu berühren, doch Sina zog sie ruckartig zurück.

»Sina! Du kannst unserm Gast nicht einfach die Gitarre wegziehen, wenn er sie sehen will.«

»Aber sie ist eine Gadje!«, stieß diese mit einem feindseligen Blick, der Bände sprach, aus.

»Ach, lassen sie nur …«, versuchte Hanna zu beschwichtigen.

Aber Rafael nahm Sina die Gitarre aus den Händen und reichte sie ihr. »Hier bitte, nehmen sie sie und schauen sie sich sie in aller Ruhe an. Ein Onkel von mir hat sie gefertigt.«

»Aber Raf!«, empörte sich Sina ungehört.

Hanna strich zärtlich über das glatt polierte Holz, das sich warm und seidig anfühlte. Dann fuhr sie mit ihren Fingern den Verlauf des Intarsienmusters entlang, ehe sie dazu überging, dem Instrument ein paar Töne zu entlocken. Sie klangen satt und rund.

»Sie spielen Gitarre?«

Hanna nickte.

»Ich dachte, Frauen wie sie würden eher Klavier spielen oder singen.«, entfuhr es ihm ungewollt.

Hanna, gar nicht beleidigt, lachte laut auf. »Es braucht ihnen nicht peinlich zu sein. Sie haben durchaus recht. Aber ich habe sowohl die Laute als auch die Harfe schon …«

»Sie spielen ebenfalls Harfe?«

»Meine Großmutter, Gott hab sie selig, hat mir beides beigebracht.«

»Möchten sie auf der Gitarre spielen?«

»Raf!«, protestierte Sina erbost, »Du kannst doch nicht …«

»Was?!«, herrschte er sie an.

Beleidigt drehte Sina sich um die eigene Achse und stürmte mit wehenden Röcken in die Dunkelheit hinaus, während ihr teils verständnisvolle, teils missbilligende Blicke folgten.

»Ich möchte wirklich niemanden … Und außerdem ist es mir peinlich. Ich habe lange nicht mehr gespielt.«

»Bitte.« Rafael sah ihr tief in die Augen.

Röte schoss ihr ins Gesicht und sie meinte, wie eine Leuchtfackel zu glühen. »Glauben sie mir«, antwortete sie mit zittriger Stimme, »ich kann wirklich nicht.«

»Geben sie ihrem Herzen einen Ruck meine kleine Nachtigall und tun sie meinem Enkel den Gefallen.«, mischte sich jetzt Rafaels Großvater ein. »Abgesehen davon, würden wir uns alle sehr darüber freuen … Wir haben nicht oft Gelegenheit, jemanden zu hören, der nicht … – wie sagen sie noch einmal? Ach, ja! – unserem eigenen Kulturkreis angehört.«

»Ich habe wirklich nicht mehr gespielt … Seit Jahren! Glauben sie mir! … Und außerdem weiß ich nicht, was ich spielen soll.«

»Oh, wenn es das ist …«, lachte der alte Mann. »Ganz einfach: Hören sie in ihr Herz hinein. Und genau das, was es ihnen sagt, das spielen sie.«

Zweifelnd blickte Hanna ihn an.

»Glauben sie einem alten Mann!«, versicherte er ihr. »Versuchen sie es … Nur zu!«

Mit zitternden Fingern brachte Hanna die Gitarre in Position und strich sachte über die festgespannten Drahtseiten, die sich unendlich vertraut anfühlten. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. Was hatte der alte Mann noch einmal zu ihr gesagt? Folge einfach deinem Herzen. Als ob das so einfach wäre! Insbesondere wenn es wie wild raste. Es war kaum zu bändigen. Ebenso wie ihre Hände, die wie Espenlaub zitterten. Noch einmal atmete sie tief durch, dann zupfte sie sachte an der tiefen E-Seite. Der Klang war satt und warm und beruhigte sie merklich. Schon wesentlich selbstsicherer ließ sie in schnellem Lauf ein A – D – G – H – E folgen.

Wer auch immer die Gitarre gestimmt hatte, er musste das perfekte musikalische Gehör haben. Es war die reinste Freude! Wie von selbst spielten ihre Finger ein kurzes Adagio, ehe sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, zu einem fröhlichen Allegro überwechselten, das in einer Fantasia von Alonso Mudarra mündete.

Ihre Großmutter hatte die Noten von einem befreundeten Dirigenten geschenkt bekommen und sie hatte sich als Kind in die zwischen Melancholie und überschwänglicher Freude oszillierende Musik des Spaniers verliebt. Da ihre Mutter aber ihre Schwiegermutter hasste, hatte sie ihr die Noten nach deren Tod weggenommen und verbrannt. »Du spielst mir nicht mehr auf dem Teufelsinstrument!«, hatte sie am Tag der Beerdigung bestimmt und die Gitarre kurzerhand verkauft. Aber wenigstens war ihr die Harfe geblieben. Ihre Mutter hatte keinen Käufer für sie finden können. Zumindest keinen, der den Preis, den sie dafür verlangte, bezahlen wollte. Also war sie, für immer auf den Speicher verbannt und in Laken eingepackt, geblieben. Auch wenn sie sie nicht spielen durfte, sie war da. Gleichwohl war Hanna tagelang aufgrund des Verkaufs ihrer heißgeliebten Gitarre außer sich gewesen und hatte geweint. Für immer meinte sie die Musik verloren zu haben. – Aber sie hatte sie nicht verloren. Alles war da. Alles war in ihr. Wie selbstverständlich spielte sie die Noten Mudarras; gerade so, als lägen sie vor ihr.

Erschöpft ließ Hanna den Kopf auf den Korpus der Gitarre sinken. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Um sie herum herrschte Stille. Einzig und allein das Knistern des Lagerfeuers war zu hören.

Tausend Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf: Sie hatte Mudarra gespielt, ihren Mudarra! Oh Gott, was dachte Rafael? War sie zu schlecht? Hatte sie etwas Falsches getan? – Panisch riss sie die Augen auf und schaute in zutiefst erstaunte Gesichter. – Sie hatte versagt!

»Wo haben sie so spielen gelernt?«, fragte Rafael, nachdem er sich kurz geräuspert hatte. »Sie spielen phantastisch!«

»Wirklich?« Unsicher schaute sie ihn an.

»Aber ja doch!«

»Hier, nehmen sie.« Mit glänzenden Augen reichte ihr Rafaels Großvater ein Glas, das bis zum Rand mit Rotwein gefüllt war. Irgendetwas war geschehen. Nur Hanna war sich nicht sicher, was genau.

»Danke.«

»Wo haben sie so spielen gelernt?«, erkundigte sich Popo ebenfalls bei ihr.

»Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, hat mir das Spielen beigebracht. Sie war eine fantastische Harfenistin und Lautenspielerin. Sie hätten sie erleben müssen …« Hanna schaute ihn mit strahlenden Augen an. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie hat mir alles beigebracht. Als sie jedoch starb …«, Hanna biss sich auf die Unterlippe und verstummte. Am liebsten hätte sie wie ein kleines Kind losgeheult. Wie sollte sie einem Fremden vermitteln, was diese Frau ihr bedeutet hatte? – Traurig strich sie über das warme Holz der Gitarre und schluckte ihre ungeweinten Tränen herunter.

»Oh, meine kleine Nachtigall, deshalb brauchen sie nicht traurig sein. Sie müssen einfach nur spielen! Entweder man hat Musik im Blut oder nicht. Und sie haben sie im Blut. Glauben sie einem alten Mann. Sie brauchen keinen Lehrer! Vergessen sie es. Keiner hier hat einen gehabt. Und doch spielt jeder von ihnen wie der Teufel – oder wie ein Engel; je nach dem ...«, verschmitzt grinste er sie an. »Wenn sie mir nicht glauben wollen, dann hören sie! … Apiro!« Der Alte rief einen schmächtigen Jungen von gerade einmal 12 Jahren zu sich und hielt ihm die Gitarre entgegen. »Spiel!«, befahl er.

Nur langsam kam sie wieder zu Bewusstsein. Der Junge hatte längst aufgehört zu spielen und rannte unbekümmert zu seinen Freunden, die mit ihm zusammen in der Dunkelheit verschwanden.

Ungläubig schaute sie ihm hinterher. Das sollte ohne Lehrer möglich sein? Nie und nimmer!

Der Alte, der Hanna die ganze Zeit über beobachtet hatte, nickte ihr bejahend zu. »Glauben sie es!«

»Aber…«, versuchte sie einzuwenden.

»In der Musik gibt es kein Aber!«

Hanna blicke zu Boden. »Ja«, sagte sie nach einer Weile und blickte ihm direkt in die Augen. »ich glaube, ich verstehe wirklich, was sie meinen. Ich glaube, sie haben recht.«

Der alte Mann nickte ihr stumm zu, sog tief an seiner Pfeife und schenkte seine volle Aufmerksamkeit einer Frau, die gerade anfing, zu singen. Sie besaß eine warme Altstimme, die vom schluchzenden Klang einer einzelnen Violine begleitet wurde.

»Wovon singt sie?«, flüsterte sie Rafael leise zu.

»Von einem Mädchen … ihr Geliebter verschwindet plötzlich und sie sucht ihn … Sie wandert von einem Ort zum anderen. Doch von jedem, den sie fragt, erhält sie nur ein Nein als Antwort. Weder der Wind, die Erde noch das Wasser können ihr helfen. Erst das Feuer erinnert sich. Ihm fällt ein, dass es sich vor vier Jahren unsterblich in einen jungen Rom verliebt hatte. Doch schon bei der ersten Umarmung war er verbrannt. Das eifersüchtige Wasser, das gerade in der Nähe war, hatte zwar noch versucht, ihn zu retten, als es ankam, brannte der junge Mann aber schon lichterloh.«

»Oh, wie traurig.«, sagte Hanna voller Mitgefühl.

»Warte, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.«, meinte Rafael leise und fuhr fort das Lied für Hanna simultan zu übersetzen. »Als der junge Mann zu Staub zerfallen war und auf der Erde lag, kam der Wind und trug ihn in alle Himmelsrichtungen fort, sodass nichts mehr von ihm übrigblieb.

Das Feuer überlegt nun, ob der junge Mann von damals vielleicht Malinas Geliebter gewesen sei. Kam aber zu keinem Schluss. Also fragte es zur Sicherheit sowohl das Wasser, die Erde und den Wind, ob sie sich an den jungen Rom erinnern könnten.

Sicher meinten, die drei, aber ob es sich dabei um Malinas Geliebten gehandelt habe, könnten sie nicht sagen. Das Beste sei, man frage Malina selber.

Und so zogen das Feuer, das Wasser, die Erde und der Wind zu Malina und fragten sie, ob der junge Mann, der von ihr Gesuchte sei.

Malina bejahte und weinte bitterlich. Du Feuer verzehrtest meinen Geliebten mit der Glut deiner Flammen. Du Wasser ertränktest ihn, in der Flut deiner Nässe. Du Erde nahmst seinen Staub und du Wind verstreutest seine Asche. So will ich denn das du Feuer mich ebenfalls verzehrst, du Wasser mich ertränkst auf das ich, wenn ich auf dir liege, Erde, zu Staub werde, damit der Wind mich in alle Himmelsrichtungen verweht. Dann werde ich wieder bei meinem Geliebten sein.

So sei es!, sagten das Feuer, das Wasser, die Erde und der Wind und taten wie ihnen aufgetragen wurde.«

Hanna schniefte leise. »Warum müssen Liebesgeschichten immer tragisch enden? Wenn schon nicht im wahren Leben, so könnten sie doch wenigstens im Märchen gut ausgehen.«, meinte sie nach einer Weile.

»Damit man den Wert der Liebe erkennen kann ...«

Hanna warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Das meinen sie doch nicht im Ernst?«

»Natürlich!«

»Aber keiner wünscht sich so etwas im wirklichen Leben!«

»Wirklich?«, Rafael blickte ihr direkt in die Augen. Aber nach ein paar Sekunden wich sie dem seinigen aus und senkte unsicher den Kopf. »Was ist für sie Liebe?«, hakte er nach.

»Liebe ist ein Gefühl.«, meinte sie zunächst etwas unsicher, ehe sie ihm fast trotzig antwortete: »Es ist schön. Aber darauf kommt es nicht an. Worauf es im Leben ankommt, ist Sicherheit. Ein gutes zu Hause. Man muss sich mit seinem Ehemann verstehen, dann kann man auch mit ihm zusammen alt werden.«

»Spricht jetzt ihre Mutter aus ihnen?«

Sichtlich geschockt, blickte sie ihn mit großen Augen an. »Ich bin nicht wie meine Mutter! Ganz bestimmt nicht. Nie und nimmer! Wie kommen sie überhaupt darauf?«

»All das, was sie mir gerade gesagt haben, hört sich nach den Aussagen einer verbitterten, alten Frau an, die längst mit der Liebe abgeschlossen hat, aber nicht nach einer jungen Dame, der das pralle Leben noch bevorsteht.«

»Das stimmt nicht!«, empörte sie sich.

»Oh, doch! Wenn sie einmal lieben, richtig lieben, dann werden sie wissen, dass Liebe ein alles verzehrendes Gefühl ist. Ein so mächtiges Gefühl, dass es sogar den Tod in Kauf nimmt. Liebe ist Duft, ist Geschmack, ist Fliegen, ist Atmen, ist Leben. Der Körper pulsiert, das Herz pulsiert, die Seele pulsiert. Alles Andere wird nebensächlich.«

»Das mag ja für einen kurzen Moment so sein, aber was ist dann?«

»Ein Dann gibt es nicht! Nur ein Jetzt!«

»Das ist im Märchen so! … Da gibt es kein Danach, aber im richtigen Leben gibt es immer ein Danach!«

»Nicht in der Liebe! Sie ist das Intensivste das es gibt. Sie lässt keinen Raum für etwas anderes. Sie füllt den Raum selber so sehr aus, dass nichts anderes mehr da rein geht.«

»Schmuh!«

»Schmuh?«

Wie zur Bekräftigung nickte Hanna ihren Kopf. »Schmuh! Eindeutig Schmuh!«

Plötzlich fing sie an zu lachen. Erst war es ein leises Kichern, dann ein lautes Lachen, das an seinen Rändern von einigen Schluchzern durchsetzt wurde.

Rafael sah sie leicht betreten an.

»Wissen sie«, meinte sie schließlich, »eigentlich hätte ich all das, was sie da gerade gesagt haben, sagen müssen und sie das, was ich gesagt habe.«

Rafael schmunzelte.

»Normalerweise sind wir Frauen es doch, die derart romantisch über die Liebe denken. Zumindest, wenn man den Liebesromanen glauben schenken kann.« Hanna verdrehte dabei die Augen.

Nachdenklich schaute er sie an, dann meinte er: »Ich glaube ..., nein, ich weiß es mit Bestimmtheit, sie werden dieses Gefühl noch kennenlernen.«

Etwas in seinem Blick machte ihr Angst.

»Vielleicht«, fuhr er fort, »werden sie in dieser Hinsicht mehr zu spüren bekommen, als ihnen lieb sein wird, … oder als sie ertragen können. … Sie werden es kennenlernen, so wahr ich Rafael Zlobek heiße. Und wenn dies geschieht, dann werden sie Malinas Lied und meine Worte verstehen.«

Hilflos und bestürzt sah sie ihn an. Gerade als sie ihn fragen wollte, ob er Hellseher sei, brach an anderer Stelle ein ohrenbetäubender Tumult los.

Taubenjahre

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