Читать книгу Taubenjahre - Franziska C. Dahmen - Страница 8

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Rafael kehrte zum Pferdemarkt zurück. Die kleine, braune Stute war ebenso verschwunden wie der Rappe. Beide hatten einen neuen Besitzer gefunden. Ersteres Pech für ihn, zweiteres wesentlich größeres für den neuen Besitzer. Es würde nicht lange dauern, bis dieser herausfand, was für ein faules Ei man ihm angedreht hatte. Schade, dass ich nicht dabei sein werde, wenn er die schwarze Schuhwichse im Striegel bemerkt, dachte Rafael. Immer noch grinsend lenkte er seinen Schritt durch einen neuen Gang, aber keines der Pferde konnte sein Interesse erwecken. Entweder waren sie viel zu teuer oder ihr Zustand war als so erbärmlich anzusehen, dass sie eine längere Reise nicht überleben würden. Allein das asthmatische Röcheln des Schimmels, an dem er gerade vorbeiging, sprach Bände. Der gehört zum Abdecker und sonst nirgendwo hin! Rafael fuhr sich verärgert durchs Haar. Er hatte es vermasselt und zwar gründlich!

»Du Satansvieh!«, hörte er auf einmal jemanden vor Wut brüllen, kurz darauf gefolgt von lautem Gewieher und undifferenzierbarem Geschrei.

Interessiert versuchte Rafael einen Blick auf das Geschehen zu werfen, aber eine Menschentraube verwehrte ihm die Sicht. Erst als sie sich für einen kurzen Moment öffnete, sah er, wie eine Frau schluchzend einen Mann begleitete, der von zwei Sanitätern auf einer Trage davongetragen wurde.

»Wenn der mal nicht tot ist!«, hörte er einen Frauenstimme sagen.

»Nee, glaub ich nicht! Der atmet noch. Siehst'e doch.«, meinte ein Mann und wies mit seinem spitzen Kinn in gerader Linie auf den sich schwach hebenden Brustkorb des Bewusstlosen.

»Dat Vieh hat dem Müller Hannes och noch den Kiefer jebrochen!«, mischte sich jetzt ein anderer Mann in das Gespräch ein.

»Kein Wunder, dat der den los werden will!«. Dieses Mal zielte das Kinn auf den sich aufbäumenden Hengst.

»Den kooft doch keener. So blöd kann keener sein!«

»Nach dem dat, jarantiert net!«

»Nee!«

Zufrieden in ihrer Einigkeit schüttelten beide Männer synchron den Kopf.

Neugierig geworden, drängte Rafael sich an den beiden Männern vorbei und sah, wie der vor Zorn bebende Pferdebesitzer verzweifelt versuchte, die Herrschaft über seinen immer wieder mit den Vorder- und Hinterhufen ausschlagenden Unglückshengst zu erlangen.

»Dat kannste vergessen, Otto!«, rief ein Mann, während ein anderer aufgebracht dazwischen brüllte: »Der gehört erschossen! Dat Vieh ist gemeingefährlich, dat hat den Düvel im Leib!«

Erneut versuchte der Besitzer des Hengstes, das Ende der Trense zu erreichen. Aber der Hengst, der ihn nicht für einen einzigen Moment aus den Augen ließ, stieg und zielte drohend mit seinen Vorderhufen auf dessen Kopf, was wiederum dazu führte, dass ihm sein Besitzer eins ums andere Mal mit der Peitsche über die Beine schlug.

»Gib’s ihm Otto!«, feuerte ihn ein dickbäuchiger Mann an, dessen Gesicht vor Aufregung rot anlief.

Kein Wunder, dass der Hengst sich wehrt, dachte Rafael. Ich würde mir so etwas auch nicht gefallen lassen.

Angewidert verfolgte er eine dunkelrote Blutbahn, die sich das Röhrbein des Hengstes hinabquälte.

Der Hengst mochte in etwa 5 Jahre alt sein und ein Stockmaß von 170 – 175 cm besitzen, was für einen Trakehner gerade noch so ging, überlegte Rafael. Unter der dicken Staubschicht konnte man ein sattes Dunkelbraun erahnen. Schweif und Mähne waren kohlrabenschwarz. Kopf und Hufe zierlich geformt. Der Widerrist war ausgeprägt und die schräg gerundete Kruppe muskulös. Vorder- und Hinterbeine wiesen ebenso wie die Hufe eine korrekte Stellung auf. Samt und sonders ein Traum von einem Reitpferd. Zumindest seinem Äußeren nach. Wenn, ja, wenn da nicht das Verhalten des Hengstes gewesen wäre, das es zu beachten galt.

Rafael biss sich auf die Unterlippe und beobachtete den Hengst genau. Er wusste, dass es ab einem gewissen Punkt keine Umkehr mehr für ein Pferd gab. Die Summe seiner schlechten und guten Erfahrungen entschied darüber, wie es sich dem Menschen gegenüber verhielt. Und dieses hier hatte entschieden schlechte Erfahrungen gesammelt. Zahlreiche halb verheilte Striemen sprachen Bände. Und dennoch … , dachte Rafael, während er den Hengst dabei beobachtete, wie er nervös auf der Stelle tänzelte und dabei gleichzeitig den Händler im Blick behielt.

Er ist defensiv. Er verteidigt sich nur.

Erneut näherte sich ihm der Händler und holte mit seiner Peitsche zum Schlag aus. Und wie zu erwarten, versuchte der Hengst, den Peitschenhieb mit Tritten abzuwehren.

»Hol mal endlich einer den Abdecker!«, rief einer der umstehenden Männer.

»Der sitzt garantiert im grünen Bock und besäuft sich.«

»Das kann ja keiner mit ansehen.«, brüllte ein kleiner, graubärtiger Mann. »Der Satansbraten gehört erschossen!«

»Schieß du ihn doch über den Haufen!«, brüllte ihm ein anderer, der ihm in der Arena diagonal gegenüberstand, zu. »Machst'e doch sonst auch gern, wenn de auf Sauenjagd gehst.«

Die Menge lachte, was den Hengst dazu brachte, panisch an dem langen Seil zu ziehen, das ihn mittlerweile mit einem Querbalken verband und daran hinderte, seinem Fluchttrieb nachzukommen. Als alles Ziehen und Zerren nichts half, blieb er zitternd und mit weißen Schaumflocken übersät, stehen.

»Ich geb auf!« Hochrot im Gesicht spuckte der Händler auf den Boden und schleuderte dem Hengst wütend seine Peitsche ins Gesicht. »Der ist keine Mark mehr wert. Soll ihn Fassbender haben.«

»Ich kaufe ihn!«

Wie von selbst hatten sich die Worte aus Rafaels Mund gelöst und sich ihren Weg über den Platz hinweg in das Ohr des Händlers gebahnt. Und wie alle andern, war auch er fassungslos über das Angebot, das er soeben abgegeben hatte.

Stille!

Das ist Wahnsinn! Vollkommener Wahnsinn!, schalt er sich selber aus, während ihn alle anstarrten, und doch! »Ich kaufe ihn!«, wiederholte er dieses Mal mit fester Stimme.

Der perplexe Gesichtsausdruck des Händlers verwandelte sich innerhalb von Sekunden in einen von Gier beherrschten. »Der ist aber nicht billig ...«, meinte er, während er Rafael aus schmalen Augenschlitzen anvisierte.

Einige Umstehende fingen an leise zu lachen.

»1000 Reichsmark ist der allemal Wert.«

Rafael hörte wie seine Nachbarn den Atem anhielten.

»Reinblütiger Trakehner. So was gibt es nicht oft.«

»Das glaub ich. Ein so störrisches und unbändiges Pferd gibt es wirklich nicht oft.«

Der Händler wedelte mit den Armen, als wolle er damit alle unliebsamen Argumente vertreiben. »Der wird schon. Den muss man nur richtig anpacken.«

»Das hab ich gesehen.« Rafael wies auf die neuesten Striemen, auf denen sich eine rostrote Blutborke bildete.

»Also, was ist?«

»30 Reichsmark.«

»Jungchen, dafür kannst du dir 'nen Holzpferd kaufen, aber keinen Trakehner!« Gespielt gelangweilt, drehte er sich um, und versuchte sein Publikum durch das Schneiden von Grimassen zum Lachen zu bringen, nur um jählings wieder auf den steinharten Boden der Tatsachen zurückgeworfen zu werden, als eine Stimme ihm zurief: »Fassbender kommt. Aber er sagt, bei dem Satansgestell wirst’e ihm noch was draufzahlen müssen. Wenn er ihn hier umlegt, darf er ihn nicht mehr im Laden verkaufen. Wegen Reinheit … Bestimmungen halt! Er will ihn von dir lebend auf den Hänger gebracht kriegen ...«

Die zu einem schmalen Strich mutierten Lippen des Pferdehändlers gerieten gänzlich in eine nicht mehr zu übersehende Schieflage. Neben realistisch zu erzielenden 100 Reichsmark, die er dem Zigeuner vielleicht hätte abluchsen können, löste sich nun auch noch das Geld, das er vom Abdecker hätte bekommen können, in Luft auf. Wutentbrannt zog er mit der Peitsche über die Nüstern des Tieres, das vor Schmerz laut aufwieherte und sich erneut vergebens vom Querbalken zu befreien suchte.

»30 Reichsmark.«, wiederholte Rafael stoisch sein Angebot.

»300!«

»30!«

»150!«

»30!«

»100!«

»30!«

»80!«

»30!«

»50!«

»30!«

»Mensch Otto … «, rief ihm einer zu, »schlag endlich ein. Mehr kriegst'e für den Gaul nicht!«

Der so Angesprochene warf erst Rafael, dann dem Hengst einen bitterbösen Blick zu, spuckte säuerlich auf den Boden, um dann noch säuerlicher in die eigene Hand zu spucken, die er abschließend Rafael hinhielt: »30!«

»30!« Rafael schlug ein.

»Geben sie mir das Geld und dann machen sie, dass sie mit dem Satansbraten von hier verschwinden. Ich will sie beide nicht mehr sehen.«

Unwillkürlich schnellte Rafaels linke Augenbraue in die Höhe, aber er schwieg und zog in aller Ruhe seine Geldkatze aus der Hosentasche und zählte 30 Reichsmark ab.

»Papiere?«

»Für den da?« Der Kopf des Händlers zielte auf den Hengst, der sich allmählich wieder beruhigte.

Rafael nickte.

»Elchschaufeln sind drauf.«

»Meinte nicht das Brandzeichen, sondern richtige Papiere!«

»Überschlau, was?«

Dieses Mal schüttelte Rafael nur mit dem Kopf. »Nur genau!«

»Willst'e etwa behaupten, dass ich 'nen Betrüger bin?«, brauste der Händler auf.

Erneut schüttelte Rafael mit dem Kopf.

»Mensch Otto, ...«, meinte ein mit einem stattlichen Bauch ausgestatteter Bauer, während er ihm die feiste Hand auf die Schulter legte, »gib dem Kerl das Zeugs, nimm das Geld und sei froh, dass de den da los bist!«

Der Pferdehändler gab ein widerwilliges Schnauben von sich, wühlte dann aber in seiner Innentasche und holte ein zusammengefaltetes Papier heraus.

»Name?«

»Rafael Zlobek!«

Ergänzt um seinen Namen und das aktuelle Kaufdatum, überreichte er ihm nach wenigen Sekunden das Dokument. »Und jetzt mach, dass du mit dem Gaul da fortkommst!«, blaffte er Rafael an und spuckte dabei verächtlich auf den Boden.

Davon unberührt, ließ Rafael seinen Blick über die einzelnen Eintragungen schweifen, die die amtliche Existenz des Hengstes bezeugen sollten und konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Fein säuberlich fand er Name, Geburtsort/Gestüt, Eltern, Maße, besondere Merkmale und Besitzer aufgelistet.

Fehlt nur noch ein Hufabdruck, dann könnte man die Papiere Fuscos mit den seinigen eins zu eins austauschen. Fingerlabyrinthe auf der einen und Hufabdrücke auf der anderen Seite – keine schlechte Mischung! So langsam füllte sich sein imaginärer Tapetendruck, der eines Tages ganze Amtsstuben zieren würde.

Noch immer grinsend, steckte er die Papiere ein, nickte dem sein Geld zählenden Viehhändler ein letztes Mal zu und näherte sich langsam dem Hengst, der wieder anfing, nervös auf der Stelle zu tänzeln. Erst als er begriff, dass Rafael unmittelbar vor ihm stehenblieb und keinerlei Anstalten machte, ihn zu berühren, beruhigte er sich etwas.

Langsam, ganz langsam zog Rafael ein Tuch heraus, von dem er wusste, dass es vor ein paar Tagen mit einer rossigen Stute seines Vaters in Berührung gekommen war und rieb seine Hände daran. Dann streckte er seine Hand aus und hielt sie dem Hengst entgegen.

»Na, Fusco … , das ist doch was Feines. Das gefällt dir bestimmt.«

Im ersten Moment scheute Fusco. Doch dann nahmen seine Nüstern diesen unwiderstehlichen Duft wahr. Er ging von diesem Mann aus. Unmöglich! – und doch schien er der Quell des Ganzen zu sein. Interessiert beäugte er ihn. Die Hand bewegte sich nicht. Sie verharrte weiterhin bewegungslos in der Luft. Vorsichtig, mit weit vorgestrecktem Hals näherte er sich ihr und sog den betörenden Duft tief ein. Der Mann, der jetzt vor ihm stand, war anders als die andern. Man konnte es vielleicht wagen. Immerhin war da dieser Duft …

Rafael ließ sich Zeit. Das Gros der sensationslüsternen Zuschauer zog nach und nach missmutig von dannen. Nichts schien zu passieren, außer dass der Gaul an der Hand eines Zigeuners roch. Selbst der cholerisch veranlagte Pferdehändler lenkte letztlich seine Schritte in Richtung Grüner Bock, um dort zusammen mit dem mittlerweile eingetroffenen Schlachter sein Missgeschick in Bier zu ertränken.

Rafael blieb von all dem unberührt. Ihn interessierte einzig und allein dieser Trakehnerhengst. Und wenn er hier noch Stunden wie zur Salzsäule erstarrt stehen bleiben musste, er würde den Platz nicht ohne Fusco verlassen. Das Tier brauchte Zeit, viel Zeit sogar, um wieder einigermaßen Vertrauen zu einem Menschen zu fassen. War das geschafft, würde er eines Tages nicht nur ein hervorragendes Reittier abgeben, sondern ihm auch viel Geld einbringen. Der Preis, den er mit ihm erzielen könnte, würde sich sehen lassen.

Rafael schielte zu Fusco herüber und sah, wie der Hengst erneut seinen Hals ausstreckte, um erst an seiner Hand, dann an seiner Kleidung zu riechen. Zufrieden schnaubte er und wagte sich einen weiteren Schritt vorwärts, um letztlich an seinen Haaren zu knabbern. Langsam, ganz langsam drehte Rafael sich um und streichelte behutsam Fuscos Hals entlang. Der Hengst ließ es sich gefallen und äpelte ab. Rafael grinste. Er wusste, er hatte gewonnen!

»Na, dann wird es wohl Zeit, dass wir Dich auf die Weide bringen. Hm ...?«, um Zustimmung heischend sah er den Hengst an, als er unverhofft die rauchige Stimme Hannas neben sich vernahm: »Ich glaube niemand hier, hätte einen Pfennig darauf gewettet, dass sie es schaffen.«

Der Hengst schnaubte nervös, tänzelte kurz auf der Stelle, brach aber nicht aus.

Rafael grinste verschmitzt. »Wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht. Zumindest nicht so schnell. Wie lange schauen sie mir zu?«

»Von Anfang an. Ich habe gesehen, was Hinrichs mit ihm gemacht hat. Er ist bekannt dafür … Wie heißt er?«

»Fusco.«

Leise wiederholte sie den Namen: »Fusco – schöner Name.«

Hanna schlenderte im gleichen Takt neben ihnen her. »Was werden sie mit ihm machen?«

»Schauen, dass ich ihn wieder hinbekomme und dann verkaufen.«

»Verkaufen?«

»Von irgendetwas muss ich leben …«

»Dauert das lange?«

Rafaels Augenbraue schnellte fragend nach oben.

»Ich meine, Fusco wieder hinzubekommen.«

Rafael zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Das liegt an ihm.«

»Sie … sie haben viel Erfahrung? … Ich meine mit Pferden, oder?«

Rafael nickte stumm und fragte sich, ob es klug war, in aller Öffentlichkeit mit Hanna zusammen spazieren zu gehen.

»Tut mir Leid wegen … Ich meine, mein Bruder … Ich wollte nicht, dass er und meine Mutter ihnen soviel Ärger bereiten.«

Erneut zuckte er mit den Achseln. »Sie können schließlich nichts dafür.«

Rafael blieb stehen. Ihr Duft nach frisch geschnittenen Heu stieg ihm in die Nase. – Verdammt!, fluchte er innerlich, die junge Frau neben ihm machte ihn noch ganz verrückt.

Indessen schaute Hanna ihn abwartend an. Ihr Herz trommelte wie wild. Noch nie hatte ein Mann eine derartige Wirkung auf sie ausgeübt. Eher im Gegenteil. Dank Karl …, aber nein, daran wollte sie jetzt nicht denken! Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken herab und brachte sie dazu, für einen kurzen Moment die Augen zu schließen.

Irritiert bemerkte Rafael, dass Hanna sich innerhalb weniger Sekunden veränderte. Urplötzlich war sie totenbleich im Gesicht geworden. Als sie dann auch noch mit geschlossenen Lidern vor ihm stand, war er vollkommen ratlos. Hatte er etwas Falsches gesagt? Fühlte sie sich unwohl? – hilflos starrte er sie an.

Derweil streckte Hanna sich, schüttelte kurz den Kopf und schenkte ihm ein Lächeln, das aber ihre wieder geöffneten Augen nicht erreichte.

Was zum Teufel war mit dieser Frau nur los? Immer noch ratlos versuchte er seine Hilflosigkeit mit: »Hinter der Kurve ist unser Lager.«, zu überspielen und wies auf einen schmalen Feldweg, der eine starke Linkskurve nahm und hinter einer Wand aus Birken verschwand.

»Oh, schon?«, entfuhr es Hanna ungewollt.

Unwillkürlich musste Rafael grinsen. »Ja, schon!«

»Ja, dann …«, verlegen blieb sie stehen und schaute unschlüssig auf die vegetative Mauer, die Rafaels Welt von ihrer trennte. Zwei separat nebeneinander existierende Welten, die sich durch ihr Zusammentreffen für einen kurzen Moment berührt hatten. Die eine war ihr wohlvertraut, aber sie konnte nicht behaupten, dass sie von ihr begeistert war. Eher im Gegenteil: Hinter der Fassade gutbürgerlicher Rechtschaffenheit verbargen sich Abgründe, die zeitweilig einem Albtraum gleichkamen, aus dem man nur hoffen konnte, zu erwachen. Die andere war ihr vollkommen fremd. Ihr Ruf nicht gerade der beste. Zigeuner: Ein Wort, das zum Synonym für Vagabundentum, Kindsraub und Diebstahl geworden war, und doch – nachdenklich schaute sie den Mann an, der ihr auf dem Markt geholfen hatte und jetzt versuchte, dem malträtierten Hengst sein Vertrauen in die Menschheit zurückzugeben – gefiel ihr das Wenige, das sie bis jetzt von ihm über seine Welt erfahren hatte, wesentlich besser als dasjenige, das sie von der ihrigen her kannte.

Auch Rafaels Gedanken liefen Sturm. Er war unsicher, was er mit Hanna anfangen sollte. Zum Lager führen? – Ein Unding! Gadje, insbesondere Gadjefrauen brachte man nicht ins Lager. Man vergnügte sich mit ihnen an abgelegenen Orten oder bei ihnen daheim, mehr nicht! Er konnte sich schon jetzt vorstellen, wie man im Lager darauf reagieren würde: Die Frauen würden sie mit keinem einzigen Blick würdigen, während die Männer entweder anzügliche Bemerkungen von sich geben oder sie gänzlich ignorieren würden. Nein, dachte er, er konnte Hanna unter keinen Umständen mit ins Lager nehmen.

Ein entschlossener Zug breitete sich in seinem Gesicht aus, als er sagte: »Das Beste ist, sie gehen jetzt nach Hause.«

Hanna fühlte sich verletzt. Gerade als sie den Entschluss gefasst hatte, sich von ihm überreden zu lassen, ihn ins Lager zu begleiten, wies er sie ab und schickte sie nach Hause. Ob er wohl verheiratet war? Vielleicht hatte er Kinder? – Hannas Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken. Bestimmt war er verheiratet und wollte nicht, dass seine Frau sie sah! Unwillkürlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Wie konnte sie nur so abgrundtief dumm sein? Sie war eine dumme Gans! Ja, das war sie! Sie hätte auf seine Hand schauen sollen. Verheiratete Männer trugen immer einen Ehering!

Verstohlen warf sie einen Blick auf seine rechte Hand, konnte aber keinen entdecken. Erleichtert atmete sie aus, nur um im nächsten Moment wieder in Panik zu geraten: Vielleicht trugen Zigeuner gar keine Eheringe? Was wusste sie schon von seinen Sitten und Gebräuchen? Nichts! – Sie war eben doch eine dumme Gans! »Tragen sie Eheringe?«, entfuhr es ihr unwillkürlich. – Am liebsten wäre sie vor lauter Scham im Boden versunken.

Rafael starrte sie perplex an.

»Vergessen sie es!«, stieß Hanna hervor und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Manche ja.«, antwortete er zögernd und fragte sich im gleichen Atemzug, wohin das Ganze nur führen sollte. Dieses Mädchen war eine Gadje, hielt er sich zum x-ten Mal vor Augen. Mochte sie noch so schön sein, mochte sie nach Heu duften, mochten ihre Bewegungen getanzte Musik sein, sie war und blieb eine Gadje und dementsprechend sollte er jeden weiteren Kontakt zu ihr abbrechen. Punkt, Schluss, aus! Etwas Gutes konnte dabei nicht herauskommen.

»Warum nicht alle?«, hakte Hanna nach.

»Weil…, ja weil nicht alle Roma gleich sind.«

»Nicht gleich?« Hannas Stirn runzelte sich für einen Sekundenbruchteil, dann lächelte sie ihn unbefangen an. »Sie müssen entschuldigen, ich habe ganz vergessen, dass sie ja gar nicht Rom mit Nachnamen heißen …«

»Wie?« Irritiert schaute er sie an, dann lachte auch er. »Nein, das tue ich wirklich nicht. So wie es bei ihnen Franken, Friesen oder Sachsen gibt, gibt es bei uns Roma; Sinti, Lowara, Calé…«, Rafael vollführte eine entsprechende Handbewegung. »Und ich heiße schlicht und ergreifend einfach Rafael, Rafael Zlobek.«

»Hanna Schubek.«

Hanna streckte ihm lächelnd die Hand entgegen.

Warm, weich und fest in einem fühlte sie sich an und passte genau in seine Hand.

»Freut mich sie kennenzulernen Fräulein Schubek.«

»Mich auch, Herr Zlobek.«; wobei es Rafael so vorkam, als betone sie seinen Nachnamen besonders.

Noch immer hielten sie einander fest und schauten sich in die Augen. Unendlich vertraut und fremd in einem, dachte Hanna, während Rafael auf dem besten Weg war, vollends zu kapitulieren. Jegliche Vernunft hatte sich in Schall und Rauch aufgelöst. Was übrigblieb, war ein mittlerweile irisblau gewordener Bergquell, der ihn mit sich riß. Ein Zurück war nicht mehr möglich. Die geduldete scheinbar alltägliche Berührung hatte sich in eine Fessel verwandelt, die ihn vollends band.

»Hätten sie Lust, heute Abend unser Gast zu sein? Es wird ein Fest geben.« Die Worte sprudelten wie von selber aus ihm heraus. Rafael verfluchte sich innerlich selber für seine Dummheit und jubelte doch im gleichen Augenblick.

»Ja, gerne! Wann soll…, ich meine…, wann darf ich denn kommen?« Das strahlende Lächeln, das Hanna ihm daraufhin schenkte, setzte ihn endgültig Schachmatt.

»Wann sie wollen.«

Hanna nickte. »Ich …, ich geh dann mal besser …«

»Ja …«

»Der Hengst …, er ist gar nicht mehr aufgeregt.«

Rafael warf seiner vierbeinigen Neuerwerbung einen irritierten Blick zu. Er hatte Fusco vollkommen vergessen. Friedlich an einem Grasbüschel knabbernd, kümmerte sich dieser um keinen von ihnen. Erst als er merkte, dass er wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der beiden Zweibeiner stand, wurde er nervös und fing an, zu tänzeln. Rafael hatte Mühe und Not ihn einigermaßen im Zaum zu halten und zu beruhigen. »Ganz ruhig, mein Schöner!«, murmelte er leise. »Keiner tut dir was.«

»Ich bringe ihn wohl besser ins Lager.«, wollte er gerade an Hanna gewandt sagen, doch diese befand sich schon auf dem Weg nach Hause.

Taubenjahre

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