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Mai 1930
ОглавлениеVon den nahegelegenen Streuobstwiesen wehte ihm der süße Duft sich öffnender Apfelblüten entgegen. Tief sog er ihn ein und schloss dabei für ein paar Sekunden die Augen, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages sein Gesicht wärmten. Das Brummen einer Hummel, die dicht an ihm vorbeiflog, gesellte sich zum rhythmischen Geklapper der Pferdehufe. Zusammen mit dem wohlvertrauten Rollen der Räder seines Wohnwagens bildeten sie eine höchst eigenwillige Melodie, die immer dann, wenn er auf dem holprigen Feldweg in ein Schlagloch eintauchte, einen Kontrapunkt erhielt. Rafael hätte vor Freude laut jauchzen können. Er war glücklich. Er liebte es, unterwegs zu sein. Die Räder seines Wagens waren seine Flügel der Fortbewegung. Schon drei Mal hatte er ein Flugzeug gesehen: Das erste Mal, da war er gerade in Frankreich unterwegs gewesen, einen Doppeldecker. Dann im letzten Jahr, genauer gesagt am 20. Oktober 1929, hatte er durch Zufall dem Jungfernflug des ersten Flugbootes der Dornierwerke beigewohnt. Dass er ein paar Wochen später den neuen Star der Zeppelinflotte zu sehen bekommen sollte, grenzte förmlich an ein Wunder. In seinen kühnsten Träumen hätte er das nicht erwartet. Aber direkt über seinen Kopf hinweg war die riesengroße, brummende Zigarrenhummel geflogen. Noch am gleichen Tag hatte er sich in Friedrichshafen eine Zehnerpostkarte mit echt Fotografien gekauft, die er seitdem wie einen Schatz hütete.
»Baunummer: LZ 127 (das 117. Zeppelin-Luftschiff). Eigentümer: Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Friedrichshafen a. B. Hauptabmessungen: Nenn-Gasinhalt des Tragkörpers 105 000 cbm. Länge 236,6 m. Größter Durchmesser 30,5 m. Größte Höhe 33,7 m. Stromlinienkörper (Querschnitt: regelmäßiges 28-Eck)«, rezitierte er leise den umseitigen Text, ehe er lautstark singend mit seiner Lieblingsstelle fortfuhr: »530pferdige direkt gesteuerte Maybach-Motoren für Betrieb mit gasförmigen oder flüssigem Brennstoff.«
Seitdem stellte er sich jedes Mal 530 geflügelte Schimmel vor, die ihn in rasendem Galopp durch die Luft zogen. Was für ein Spaß! Natürlich war diese Vorstellung vollkommen abstrus, und er würde sich hüten, sie jemanden zu erzählen, aber hin und wieder der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen, schadete schließlich niemanden. Allein die Vorstellung, dass sein eigener Rappe hier auf Erden von 530 imaginären weißen Bundesgenossen begleitet wurde, beflügelte ihn und ließ ihn in Gedanken zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen. Höher und höher ging es, bis zu den Sternen, ja, bis zur Sonne hinauf.
Ganz kurz meinte er Popo zu hören, der ihm hinterherrief: »Denk an das Märchen vom fliegenden Prinzen, Rafael. Er flog zu hoch hinaus. Seine Flügel fingen Feuer, sodass er abstürzte!«
Aber im Gegensatz zu ihm, beruhigte Rafael sich, hatte dieser auch keine 531 galoppierenden Helfer gehabt, die mit einem als Zigarre getarnten Schiff durch die Luft segelten. Was zum Teufel sollte einem da schon passieren?
Rafael lachte aus vollem Herzen, bis ihn urplötzlich ein recht irdischer Stolperstein unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurück katapultierte.
Doch ein Absturz!, dachte er erstaunt. Was musste er auch an diesen griesgrämigen alten Kerl denken, der an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und mit den schicksalsträchtigen Mule2 auf Du und Du stand? Natürlich mussten die ihm prompt einen Stolperstein in den Weg legen, über den er fuhr! Hatten die denn nichts Besseres zu tun? Immer mussten sie ihn ärgern!
»Dio!«, schimpfte er. »Setz mich in der Wüste aus. Fülle sie bis zum Rand mit feinstem Sand. Verstecke darin einen einzigen Stein, dessen Spitze herausschaut. Anschließend lass hundert Männer sie durchqueren. Garantiert werde ich der Einzige sein, der darüber stolpert.«
Verärgert sprang er vom Wagen und lief einmal um ihn herum, um sämtliche Räder zu kontrollieren. Verflixt und zugenäht! Er konnte froh sein, dass ihm dabei kein Rad oder gar die Deichsel zu Bruch gegangen war. Wütend über sich selber schüttelte er den Kopf und dachte mit leisem Bedauern daran, wie das Zigarrenschiff mitsamt seinen 530 Schimmeln die Wolkendecke durchbrach, während er sich hier auf Erden mit den Tücken des Alltags herumschlagen musste. Und was für Tücken! Rafaels Gesicht verdüsterte sich zusehends erneut, während er wieder auf den Bock kletterte. Vor knapp zwei Tagen war er Popo zum letzten Mal begegnet. Die ganze Familie hatte gerade am nahe gelegenen Fluss ihr Lager aufgeschlagen, als ein kleiner Trupp Landjäger sie dort aufspürte.