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Januar 1944

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»Thai mukhleom len othé kai avileom

Thai mothodeom tumaré raimaske.

Bachta tel del o Del!«

»Und dort habe ich sie zurückgelassen,

woher ich gekommen bin,

um euch dies zu erzählen. Gebe Gott Glück!« 1

(Aichele/Block; S.354)

Die ersten Schneeflocken rieselten vom nachtschwarzen Himmel herab und streichelten beiläufig sein ausgemergeltes, pergamentenes Gesicht. Als eine sich im dichten Gespinst seiner langen schwarzen Wimpern verfing, musste er unwillkürlich an Hanna denken und ein leichtes Lächeln durchbrach die schmerzhafte Starre seiner taub gewordenen Lippen.

»Es ist einfach unfair! Wie kann ein Mann nur solche Wimpern besitzen?! Und wenn du einen dann auch noch so anschaust, dann ..., dann …, ach, du weist schon, was ich meine ...«, hatte sie anfangs einmal zu ihm gesagt und ihn dabei derart verlegen angelächelt, dass er nicht anders konnte, als sie damit aufzuziehen.

»Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst …«

»Oh, du ...! Wer’s glaubt, wird selig!«

»Mhm, … lass mich überlegen, … meinst du etwa das hier?« Lachend hatte er sie in die Arme genommen und geküsst und um sich herum die Welt vergessen, wie er stets alles vergaß, wenn er mit ihr zusammen war.

Rafael schloss die Augen und sog tief die eiskalte Luft in seine Bronchien hinein, während zugleich das Bild einer jungen, schlanken Frau vor seinem inneren Auge erschien, deren weizenblondes Haar in der Sonne golden glänzte. Schon meinte er förmlich ihren fein-würzigen Körpergeruch in der Nase zu verspüren, aber tief in seinem Innersten wusste er, dass er nur träumte. Er träumte einen schönen Traum. Einen Traum von Liebe, der in seinem realen Leben selten unter einem guten Stern gestanden hatte. Und trotzdem, oder sollte er sagen gerade deswegen, genoss er ihn!

Zufrieden öffnete er für einen kurzen Moment die Augen und blinzelte, sodass die mittlerweile um ein Vielfaches angewachsene Schneeflocke langsam ins Wanken geriet und auf seine Wange herabrollte, wo sie unbemerkt liegenblieb.

Rafael zitterte; ob letztlich vor Kälte, Angst oder Schmerz, er wusste es nicht! Einzig dass das Atmen ihm zunehmend immer schwerer fiel, stellte sich für ihn als eine unumstößliche Gewissheit dar. Die eiskalte Nachtluft drang kaum noch bis in die tiefsten Tiefen seiner Lungen vor. Wie auch?!, dachte er verbittert. Immerhin lastete das Gewicht Balos wie Blei auf seiner Brust und presste ihn gegen etwas unbestimmt Weiches, das sich schräg in seinen Rücken bohrte.

Auf wem er wohl lag? Auf Stappo? Auf Nuri? Oder war es Baku, der sich da so rücksichtslos in seinen Rücken bohrte?

Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, aber ihm wollte beim besten Willen nicht mehr einfallen, wen sie zuerst erschossen hatten. Die Gesichter seiner Freunde und Bekannten waren so schattenhaft, so grau, so konturlos, so leer.

»Links neben mir hat Baku gestanden.«, murmelte er kaum hörbar. »Neben ihm befand sich Kalios. Aber wer zum Teufel hat auf der rechten Seite gestanden? … Verdammt! Ich kann mich nicht erinnern! … Es könnte Stappo gewesen sein. Obwohl Nuri …? Nein, doch nicht. Der stand ganz woanders. Dann wohl eher Josef. Der Kerl war schon immer ein brutaler Draufgänger. Zuzutrauen wäre es ihm.«

Auf jeden Fall musste es einer von den Dreien gewesen sein. Er war sich in dieser Hinsicht sicher. Nur wer genau? Wer bohrte sich da so rücksichtslos in seinen Rücken? – Wider eigenem Willen stahl sich ein Lächeln auf seine blau angelaufenen Lippen. Seine Welt war im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt geworden: Eine zum Rücken mutierte Gerade, die sich dank eines einzigen Schusses ihrer Vertikalität beraubt sieht und in der Horizontalen unversehens von einer rücksichtslosen Schräge bedrängt wird. Aufstand der Geometrie! Krieg der Körperteile! Leib gegen Leib. Bein gegen Rücken. Rücken gegen Arm. Kopf gegen … nein, an die Köpfe konnte er sich nicht mehr erinnern! Die waren konturlos, hatten sich längst zu Schatten ihrer selbst aufgelöst und blieben deformierte Kreise, deren Name für immer in der Versenkung verschwunden war.

Rafael schnaubte unwillig auf, um im gleichen Moment in einem Anflug von Galgenhumor kurz aufzulachen. Zumindest einem einzigen Kopf würde er konkret einen Namen geben können und damit aus seiner schattenhaften Existenz erlösen. – Ein jämmerlicher Erfolg, gewiss, aber immerhin ein Erfolg! Und das war es, worauf es ankam! Zumindest hier und jetzt.

Der bläulich-schwarz schimmernde Schädel, der sich mit seiner pausbäckigen Rundheit so unangenehm in seine Brust bohrte, war Balos’. Obwohl als pausbäckig konnte man sein Gesicht nicht mehr bezeichnen! Das war es einmal vor langer, langer Zeit gewesen. Genauer gesagt, bevor sich die Tore von Auschwitz hinter ihm geschlossen hatten. Jetzt war es nur rund und hohlwangig. Die Pausbäckigkeit hatten sie ihm ausgeschwitzt. Geradeso wie bei ihm. Doch das war nicht wichtig. Auf die Pausbäckigkeit konnte er verzichten. Auf die Wärme, die sein toter Körper ausstrahlte, nicht. Doch wie lange würde Balo ihn noch wärmen können? Wie lange mochte es dauern, bis der Körper eines Menschen gänzlich ausgekühlt war? Vielleicht eine Stunde oder bestenfalls zwei; vielleicht aber auch nur noch wenige Minuten? – Er wusste es nicht, wie so vieles in letzter Zeit.

Ein heiseres Krächzen, das eigentlich ein Lachen sein sollte, entrang sich seiner Brust. Dann kehrte wieder Stille ein. Nichts durchbrach sie: Weder das Säuseln des Windes, das sich weigerte das restliche Laub aufzuwirbeln, noch ein Knacken der Äste in einer der Tannen, die die Lichtung umsäumten, auf der sich das Massengrab befand.

Hier ist es wirklich totenstill, schoss es ihm durch den Kopf. Und das im wahrsten Sinne des Wortes!

Mit leicht angewinkeltem Kopf versuchte er der Stille zu lauschen. Aber schon nach ein paar Sekunden sank sein Kopf kraftlos auf einen der unter ihm liegenden Körper zurück.

Das Stille so dröhnen konnte, wunderte er sich. Sie war lauter als alles, was er kannte. Ob sie in der Lage war, einer Tretmine gleich Trommelfelle oder gar Köpfe zu zerplatzen? – Nein! Das war Wahnsinn! Seine Gedanken waren Wahnsinn. Das hier war Wahnsinn! – Galt in diesem verdammten Loch denn überhaupt nichts mehr? – Wenn er wenigstens seine Arme losbekäme, um sich die Ohren zuzuhalten … Diese verdammte Stille hielt doch keiner aus!

Als unvermutet ein: »Los Fritz, steig endlich ein, mir frieren gleich die Eier ab!«, bis zu ihm hinabdrang, hätte er vor Freude weinen können. Gierig sog er jeden weiteren Wortfetzen auf.

»… Rest erledigen wir morgen!«

»Ja, gleich! Will nur noch sehen, ob eins von den Schweinen überlebt hat.«

»Kannst du vergessen! Den Rest erledigt heute Nacht eh der Scheiß Frost. Und jetzt schwinge endlich deinen gottverdammten Arsch hier rein, mir ist kalt!«

Die Schreier waren also noch da! – Hätte ihm jemals jemand prophezeit, dass er sich eines Tages über ihre Stimmen freuen würde, er hätte ihn für verrückt erklärt. Über die Anwesenheit eines Schreiers freute man sich nicht. Jeder halbwegs vernünftige Mensch betete darum, ihnen aus dem Weg gehen zu können. Zumindest hatte auch er das die letzten Jahre über getan. Nur jetzt nicht! Jetzt kamen ihm ihre Stimmen wie Glockengeläut vor. Die Erkenntnis ließ ihn ein missglücktes Krächzen aus seiner Brust hervorbringen.

Immerhin blieben die Schreier sich bis zuletzt treu. Selbst in dieser Totenstille taten sie das, was sie am Besten konnten: Schreien und Brüllen.

Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe. Vielleicht war das eine Berufskrankheit? Geradeso wie man es von den Köchen her kannte? Die aßen permanent und konnten letztlich nicht mehr damit aufhören, weil sie es gewohnt waren. Genau das musste der Grund sein, warum die Schreier nicht mit ihrem Gebrüll aufhören konnten! Wer den ganzen Tag über schreit, kann irgendwann nicht mehr anders, als nur noch zu schreien. Er hat vergessen, dass es moderate, geschweige denn leise Töne gibt. Sie fallen nicht in sein Lautstärkerepertoire.

Würde ihn jemand bitten, einen von ihnen näher zu beschreiben, so hätte er sofort eine zweibeinige, amorphe Gestalt vor Augen, die von einem großen, aufgerissenen, schwarzen Mund beherrscht wird. Aus ihm werden ohne Unterbrechung tödliche Laute katapultiert, die da, wo sie auftreffen, nur Schutt und Asche hinterlassen.

Schreier eben! Schreier in Uniform, die ihn die letzten Jahre über tagtäglich gequält und fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Aber letztlich – so musste Rafael sich zu seinem eigenen Erstaunen eingestehen – waren sie ihm vollkommen egal!

Noch während Rafael sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte, wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Zuerst hörte er ein leises Fiepen, dann ein Rascheln. Gierig schaute er sich um und entdeckte eine kleine, braunen Maus, die behände über zwei Leichen kletterte und geradewegs auf den Grubenabhang zusteuerte.

Ich, dachte Rafael sehnsüchtig, würde an deiner Stelle auch die Beine in die Hand nehmen und zuschauen, dass ich so schnell wie möglich von hier fortkomme.

Gerade als die Maus den Grubenabhang hinaufkletterte, nahm Rafael aus den Augenwinkeln eine weitere Bewegung wahr. Es war ein Waldkauz, der im Sturzflug zielgerichtet auf die kleine Maus zusegelte. Schon wollte Rafael das Mäuschen warnen und ihm zurufen: »Mach, dass du wegkommst, der Tod hat seine Schwingen nach dir ausgebreitet!«, als der Waldkauz sich, aufgeschreckt durch das laute Aufheulen schwerer Motoren, von seinem Opfer abwandte und geradewegs auf eine Tanne zusteuerte, von wo aus er gewillt war, das weitere Geschehen aus hungrig blickenden Augen zu betrachten.

Erschöpft ließ Rafael seinen Kopf auf den Boden sinken.

Der stechende Geruch von Diesel breitete sich aus und legte sich schwer über den allgegenwärtigen, metallischen Geruch des Todes.

Noch während er nach frischer Luft röchelte, hörte er, wie ein Fahrzeug nach dem andern polternd die Lichtung verließ und ihn allein in der Stille des Waldes zurückließ.

Er war allein! Jetzt war er wirklich mutterseelenallein.

Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Nein, schoss es ihm durch den Kopf, ich bin nicht allein! Irgendwo da draußen sitzt der Kauz und hält Ausschau nach seinem Opfer. Immerhin wären wir damit sogar schon zu dritt: Ein krepierender Rom, ein im wahrsten Sinne des Wortes mordshungriger Kauz sowie eine ahnungslose Waldmaus, die nicht weiß, was ihr blüht. Wahrlich eine feine Gesellschaft, in der ich mich hier befinde!

Lachend hustete er etwas Blut heraus und versuchte einen Blick über den Rand der Grube zu werfen. Mit etwas Glück würde er die kleine Maus sehen können. Von Mördern, egal, ob potentiellen oder nicht, hatte er im Moment mehr als genug. Er solidarisierte sich lieber mit dem Opfer. Vielleicht würde er sie warnen können und mit etwas Glück in die Annalen ihrer Geschichte eingehen: Ich, Mäuserich Fibo, wurde im tiefsten Winter seit Mäusegedenken nächtens von Rafael Zlobek gerettet. Er ist ein homo sapiens, der offiziell der rassisch als minder zu bewertenden Unterart der Zigeuner zuzurechnen ist, würde dort schwarz auf weiß zu lesen sein.

Rafaels Kopf sank ermattet auf den unter ihm liegenden Leichnam.

Er schaffte es nicht. Er lag zu weit unten. Es mochten vielleicht gerade einmal zehn Zentimeter sein, die ihm fehlten. Zehn läppische Zentimeter, um nicht zu sagen eine Handbreit fehlten ihm, um sich mit einer Maus auf Augenhöhe zu befinden. Zehn läppische Zentimeter, die ihm schwarz auf weiß hätten bestätigen können, das er ein Mensch war.

Verbittert schloss Rafael die Augen, während er zugleich versuchte, seine rechte Hand zu bewegen. Aber es gelang ihm nicht. Kalios, der direkt neben ihm lag, hielt sie eisern umklammert. Doch während in seiner noch das warme Leben pulsierte, war Kalios Hand eiskalt und starr.

Ein Schauder durchfuhr Rafaels Körper.

Wie lange es wohl dauern mochte, bis auch sein Körper zu Eis erstarrt sein würde?, fragte er sich.

Egal! – Innerlich war er schon längst zu einem Eiszapfen mutiert. Und dabei war in seinem Leben einmal alles so hell, so warm, so voller Liebe, so voller Hanna gewesen. – Hanna! Seine wunderschöne, heißgeliebte Hanna. Sein Augenstern, seine Liebe.

Etwas weiter abseits stand ein Mann in SS-Uniform an einen Baum gelehnt und schaute voller Hass und Abscheu auf Rafael. Er wollte ihn Leiden sehen, so, wie er all die Jahre über gelitten hatte. Doch statt Schmerz und Leid entdeckte er ein Lächeln auf den Lippen des Sterbenden. Verbittert zog der Fremde an seiner Zigarette, während ihn seine Gedanken auf verborgenen Pfaden zu eben jener Hanna führten, der Rafaels letzte Atemzüge galten.

Taubenjahre

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