Читать книгу Taubenjahre - Franziska C. Dahmen - Страница 6
Markttag
ОглавлениеJedes Jahr wurde in der Stadt am ersten Maiwochenende ein großer Jahr- und Viehmarkt abgehalten, und wie jedes Jahr waren auch er und seine Familie dabei. Mit etwas Glück würde er seinen Vater auf dem außerhalb der Stadtmauern angelegten Viehmarkt treffen. Ganz im Gegensatz zu seinen Schwestern: Die zogen den im Stadtkern abgehaltenen Jahrmarkt vor, um dort den gutgläubigen Backfischen aus der Hand zu lesen.
Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Die Wahrsagerei der Frauen war ein einträgliches Geschäft, das übers Jahr gerechnet, oft mehr einbrachte als der gesamte Pferdehandel. Seine kleine Schwester Lara konnte ein Lied davon zu singen. Sie wusste ganz genau, wie man den Gadje3 das Geld aus der Tasche zog. Das richtige Minenspiel zur richtigen Zeit gepaart mit einigen gezielt eingesetzten Ahs und Ohs und schon füllten sich bei ihr die Taschen mit Geld. Mit Leichtigkeit würde sie eines schönen Tages eine ganze Familie ernähren können. Der Mann, der sie bekam, konnte stolz auf sie sein. Er würde sich wie fast alle Männer seiner Familie deshalb fast ausschließlich dem Pferdehandel widmen können.
»Was ich jetzt langsam aber sicher auch endlich tun sollte!«, ermahnte Rafael sich selber. »Wenn ich weiter so trödele, komme ich nie an!«
Rafael schnalzte laut mit der Zunge und lenkte seinen Rappen in Richtung Viehmarkt.
Je näher er kam, desto lauter wurden die Geräusche. Gänse schnatterten, Schafe blökten und Schweine grunzten. Und wie es aussah, waren auch schon die ersten Tiere verkauft worden. Von weitem hörte Rafael die neuen Besitzer Rufen und Schreien, während ihr neu erworbenes Vieh lauthals gegen seinen Abtransport protestierte. Ein Pferd wehrte sich derart vehement mit Püffen und Bissen gegen die unsanfte Untersuchung seines Gebisses, sodass sein potentieller Käufer laut fluchend von einer weiteren Betrachtung absah und trotz etlicher Beschwichtigungsversuche seitens des Händlers lieber das Weite suchte. Zum Ausgleich dazu wurden sich ein paar Meter weiter Verkäufer und Käufer über den Preis zweier Mastferkel einig. Beide spuckten gezielt in die eigene Hand und besiegelten den Handel lauthals mit einem Handschlag.
Ja, es war Viehmarkt, und Rafael genoss es.
»Rafael!«, hörte er plötzlich eine helle Knabenstimme rufen. Es war sein kleiner Bruder Kore, der sich durch die lauthals schimpfende Menge wand und aufgeregt auf ihn zugerannt kam. »Wir sind hier. Papa hat schon vor ner Stunde deinen Schimmel verkauft.«
Rafael winkte ihm lächelnd zu und lenkte seinen Wagen auf einen etwas abseits stehenden Platz, wo sich zwei weitere Wagen befanden.
»Warum hat das so lange gedauert?«, fragte Kore, der mittlerweile zu ihm auf den Bock geklettert war, um sich die letzten paar Meter bis zum Stellplatz fahren zu lassen. »Wir haben dich schon gestern Abend erwartet. Dahinten im Bach gibt es Forellen. Ich habe zwei gefangen. Die eine war soooo groß.« Kore breitete die Arme weit auseinander und strahlte ihn mit seinen nussbraunen Augen an.
»Muss ja 'nen mächtiger Kampf gewesen sein!«
»Wenn du mir nicht glauben willst, kannst du ja Popo fragen!«, gab er frech zurück und sprang im nächsten Augenblick vom Bock herunter. »Bis später Raf!«, dabei hob er lässig die Hand zum Gruß. »Hab 'nen Friesen entdeckt, den ich mir genauer anschauen muss.« Und schon war er im dichten Gedränge der Menge verschwunden.
Nachdem Rafael Kosak ausgespannt und mit Futter versorgt hatte, steuerte er den Markt an. Mit etwas Glück würde er heute ein paar Pferde finden, die er im Herbst wieder mit Gewinn verkaufen konnte.
Interessiert warf er einer kleinen, braunen Stute einen Blick zu. Unscheinbar stand sie neben einem schwarzen Hengst, der bei einigen Gadje Aufsehen erregte.
Dass bisher niemand bemerkt hat, dass der Händler seine Blässe mit schwarzer Schuhwichse eingefärbt hat, grenzt an ein Wunder!, staunte Rafael. Dabei war das nun wirklich nicht zu übersehen! Und die stumpfe Stelle dort auf der Kuppe verriet eindeutig, dass das Tier zuvor mit Bier abgerieben worden sein musste. Wie sonst hätte es in der Sonne so glänzen können? Also wirklich, wie dumm die Gadje doch waren?! Kopfschüttelnd wandte er sich ab und machte sich auf den Weg in Richtung Innenstadt.
Im Gegensatz zum lautstarken Treiben auf dem Viehmarkt herrschte auf dem Jahrmarkt kaum Betrieb. Die Händler warteten darauf, dass die ersten Kirchgänger endlich die Messe verließen, nutzten aber gleichzeitig die ihnen verbliebene Zeit, um ihre Waren noch ein letztes Mal umzustellen. So drapierte der eine ein Stück Stoff neu, während ein anderer in aller Ruhe die letzten frisch gebrannten Mandeln in eine rot-weiß-gestreifte Tüte füllte.
Amüsiert beobachtete Rafael das gemächliche Treiben und schlenderte von einem Stand zum nächsten. Alles, was das menschliche Herz begehren konnte, war vorhanden: Stoffe, Seifen, Keramik, die ganze Palette der Handwerkskunst. Und auch für das leibliche Wohl war gesorgt. Der Duft von frisch gebackenem Brot vereinte sich mit dem von geräuchertem Speck und über offenen Feuerstellen brutzelndem Fleisch. Überall, wo man nur hinschaute, bogen sich die Stände unter der Last der Backwaren, Süßigkeiten und Fleischwaren. Einmach- und Marmeladengläser, in denen die Obstfülle des vorangegangenen Jahres eingefangen war, stapelten sich zu gefährlichen Höhen, während die dunkelrot und golden schimmernden Likörflaschen von den Sonnenstrahlen zum Funkeln gebracht wurden.
Gerade als er an einem Würstchenstand vorbeiging, fing sein Magen an, laut und vernehmlich zu knurren.
»Ei, a hübsch Zigeuner …Auf Freiersfüßen, was? Wenn's Geld hast, kannst eins haben. Is a gute Stärkung …«, rief ihm eine helle Frauenstimme zu, nicht ohne ihm ein zweideutiges Lächeln hinterherzuschicken.
Rafael drehte sich nicht um. Er konnte Gadjeweiber nicht ausstehen, die meinten, dass jeder Zigeuner ein geiler Bock sei. »Und wenn ich verhungere, die kann sich ihre Würste sonst wohin stecken.«, brummte er missmutig vor sich hin.
Seine Stimmung änderte sich erst, als sein Blick auf einen gegenüberliegenden Stand fiel, dessen Tische sich unter der Last frischer Semmeln und Teilchen bogen.
Demonstrativ lenkte er seine Schritte dorthin und erstand mit laut klingender Münze zwei Milchsemmeln, was von der aller Illusionen beraubten Marktfrau mit einem verächtlichen Schnauben und einem: »Wohl was Besseres der Herr Zigeuner …«, kommentiert wurde.
Jetzt erst recht!, dachte Rafael, und steuerte gezielt einen weiteren Stand an, an dem sich sein Besitzer auf luftgetrocknete Schinken und Jagdwurst spezialisiert hatte.
Bestens ausgerüstet mit Fleisch in der einen und zwei Milchsemmeln in der anderen Hand, kehrte er zurück und schlenderte erneut an ihrem Stand vorbei, um zum nonverbalen Gegenschlag auszuholen, indem er direkt vor ihrer enttäuschten Nase genüsslich in seine Jagdwurst hinein biss.
Die um ihren merkantilen Erfolg gebrachte Budenbesitzerin ließ einen kleinen empörten Aufschrei hören, ehe sie zum vernichtenden Schlag ausholte und ihm ein: »Dreckiger Hundsfot! Hast eh das Geld geklaut. Dei Sippschaft kann das gut!«, hinterher schoss .
Schon wollte Rafael das Ganze mit einem: »Und du hast das über-den-Tisch-ziehen mit der Muttermilch aufgesogen …«, parieren, als sich mit einem weit über den Markt schallendem AMEN die Kirchentore weit öffneten, sodass die ersten ungeduldigen Kirchgänger die Messe verlassen konnten, um sich in den Niederungen des irdischen Lebens zu verlustieren.
Amüsiert beobachtete Rafael, wie der gläubige Rest um einen Schlussakkord verzögert, das Tor zur Freiheit durchschritt, was die am Fuß der Kirche stehenden Händler endgültig aus ihrer Lethargie holte und in rege Betriebsamkeit versetzte.
»Bänder, seidene Bänder und Spitzen«, konkurrierten mit einem Mal lautstark mit: »Würstchen«, »Essigmuttern«, »Spinatsamen« und »Besen« um die Wette. Doch ein Teil der so Beworbenen hatte anderes im Sinn. Statt in das Jahrmarkttreiben einzutauchen, strebte ein Großteil der Männer, die doch den Weg in die Kirche gefunden hatten, strammen Schrittes dem sonntäglichen Frühschoppen entgegen. Himmlisches Manna wollte trotz missmutig hinterher geworfener Blicke von Seiten der so verlassenen Ehefrauen gegen irdisch gebrautes Bier oder gar hochprozentigen Schnaps eingetauscht werden.
Rafael musste unwillkürlich laut Auflachen, als er sah, wie selbst der Pfarrer, der mittlerweile seinen Talar gegen eine einfache, schwarze Soutane ausgetauscht hatte, geschickt einigen geschwätzeshungrigen Witwen auswich und treppab Richtung Grüner Bock eilte. Schon wollte er sich diesem irdischen Vertreter einer himmlischen Instanz anschließen, als er aus den Augenwinkeln ein junges Mädchen bemerkte, das auf das Markttreiben herabschaute. Ihr zu einem Kranz geflochtenes, weizenblondes Haar leuchtete golden im Sonnenschein und verlieh ihr einen unfreiwilligen Heiligenstatus, der allerdings durch die Lebensfreude, die sie ausstrahlte, zerstört wurde.
Wie alt sie wohl sein mochte, fragte Rafael sich. Achtzehn? Neunzehn? Älter auf keinen Fall!
Plötzlich wurde das Mädchen von einer alten Matrone fest am Arm gepackt. Beide wechselten kurz ein paar Worte miteinander. Die Mine des Mädchens verdunkelte sich dabei zusehends, während die alte Matrone zeitgleich ein paar grimmige Blicke auf das Marktgetümmel herabschoß.
Aha, dachte Rafael, da wo Licht ist, ist auch Schatten; und was für ein Schatten! Wer mit einer derart grimmigen Miene herumläuft, darf sich nicht wundern, wenn ihm die Milch vor Schreck sauer wird. Schade! Das war es dann wohl.
Mit einem letzten bedauernden Blick auf die helle Lichtgestalt, wollte Rafael sich abwenden, als er sah, wie sie die Stufen herabzutänzeln begann.
Was für ein Gang! Rafael schüttelte ungläubig den Kopf und geriet ins Schwärmen: Da ist Musik …, da ist Harmonie …, da ist Grazie drin! Wie sie schwebt, wie sie tanzt … Oh, dio! Ein Gang zum Niederknien. Das Mädchen hat Musik im Blut. Diese Harmonie, diese Lebensfreude … Selbst mit dem schweren stereotypen Grundschlag der Matrone, der in einem immer gleichen, stapfendem Tam, Tam, Tam bestand, schien sie zu spielen, indem sie ihn in jeder dritten Stufe aufnahm, nur um ihn direkt wieder aufzubrechen und in ein beschwingtes Tamtam umzuwandeln. Das Mädchen war wirklich fleischgewordene Musik, war Rhythmus pur. Es war einfach unbeschreiblich!
Ungewollt summte er mit. Niemals in seinem Leben hätte er es für Möglich gehalten, dass eine Gadje sich derart bewegen konnte. Doch halt! Ihr Gang hatte sich verändert. Etwas Zögerndes, Schweres, Erdiges hatte sich eingeschlichen und sie aus dem beschwingten Takt ihrer leichtfüßigen Schritte geraten lassen. Immer schwerer und langsamer war ihr Gang geworden, bis sie endgültig auf einer der noch wenigen, ihr verbliebenen Stufen stehen blieb.
Rafael runzelte die Stirn, als er ihrem Blick folgte, der auf einem schlanken, jungen Mann verharrte.
Wie ein im Wind schwankender Rohrkolben hatte er sich vor den beiden Frauen aufgebaut und fuchtelte mit den Armen, um einigermaßen aufrecht stehenzubleiben.
Besoffen! Der Kerl ist schlicht und einfach besoffen, stellte Rafael nicht ohne ein gewisses Maß an Schadenfreude fest, während er neugierig das weitere Geschehen beobachtete.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte das Gesicht der sauertöpfischen Matrone erst einen verschämten, dann einen trotzigen Ausdruck angenommen, ehe es das Leiden schlechthin manifestierte. Ein sich unmittelbar anschließender Wortschwall, der zielgerichtet auf den jungen Mann niederprasselte, sollte ihn wohl zur Räson bringen, aber die von ihr erhoffte Wirkung stellte sich nicht ein, sodass sie letztlich in einer gekrümmten Haltung erstarrte.
Der junge Mann hingegen, der die Worte der Matrone mit einer harschen Handbewegung abgewehrt hatte, wandte sich dem Mädchen zu, welches den Schwankenden mit bleicher, ausdrucksloser Miene anschaute. – Die Gerade pariert die Schräge, schoss es Rafael durch den Kopf. Und was für eine Gerade! Bewundernd verfolgte er, wie das Mädchen der Hitze des jungen Mannes eine eisige Kälte entgegensetzte, die ohne ein einziges Wort oder eine überflüssige Geste auskam.
Gleichwohl so ganz ans Aufgeben dachte das schwankende Schilfrohr auf zwei Beinen noch nicht. Je abweisender das Mädchen sich benahm, desto hitziger gebärdete sich der junge Mann, bis er schließlich an einen Punkt gelangte, an dem er sein Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinfiel.
Rafael lachte laut auf. Die Schräge war abrupt in die Horizontale geraten und bildete mit der Geraden einen perfekten Winkel von 180 °, während etwas abseits eine gramgebeugte Kurve verloren im Raum stand. Doch sowohl Krümmung, Gerade als auch Horizontale gerieten jetzt in Bewegung: Noch während die Matrone dem jungen Mann wieder auf die Beine verhelfen konnte, umrundete das Mädchen die beiden ineinander verhakten Körper und schritt hoch erhobenen Hauptes durch die kleine Menschentraube, die sich in einigem Abstand um das Trio gebildet hatte.
Schade!, schoss es Rafael mit leisem Bedauern durch den Kopf. Aus dem vivace der tänzelnden Schritte war ein grave geworden. Und das nur, weil so ein besoffenes Schwein wie das da hier auftauchen musste.
»Hanna! … Nun … sei doch nicht so! … Komm schon…, du … du musst mir helfen …«. Hilfe suchend streckte der junge Mann die Hände nach dem Mädchen aus und versuchte ihr mehr schlecht als recht auf den Fuß zu folgen.
Gleichzeitig schickte ihm die sich wieder zur Gerade mutierende Matrone lauthals ein: »Karl, so beruhige dich doch mein Junge! … Oh, mein Gott …, oh, Gott! Karl, lass deine Schwester …«, hinterher.
Aha, der besoffene Kerl hieß also Karl und war ihr Bruder, während es sich bei der entkrümmten Matrone um ihre Mutter handeln musste.
Rafael schüttelte den Kopf. Ein erwachsener Rom würde es niemals wagen, sich und seine Familie in der Öffentlichkeit derart bloßzustellen. Was dachte sich der junge Mann nur dabei?
Angewidert spuckte er auf den Boden. Noch während er sich von der ganzen Szenerie abwenden wollte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie dieser Grobian seine Schwester unsanft zu packen bekam und ihr dabei einen derart heftigen Ruck versetzte, dass sie zu stürzen drohte. Doch alles ging gut. Noch bevor er ihr zu Hilfe eilen konnte, gelang es dem Mädchen sich im allerletzten Moment zu fangen.
»He, du …! Lass das Mädchen endlich in Ruhe!«, fuhr Rafael unwillkürlich den jungen Mann an.
»Misch … dich da … nicht ein!«, knurrte dieser zurück. Zugleich quetschte er Hannas Arm dabei dermaßen stark, dass diese vor Schmerz laut aufschrie.
Das reichte! Rafael bewegte sich drohend auf den jungen Mann zu. »Und ich hab dir gesagt, dass du das Mädchen loslassen sollst!«
»Und ich … hab dir gesagt, … dass dich das nichts angeht, … du Drecksfot!« Im nächsten Augenblick versetzte er Hanna einen Stoß, sodass sie unter einem lautem Aufschrei auf die Knie stürzte.
»Karl! … Mein Gott, Karl! … Junge!… deine Schwester, du kannst doch nicht …« Hilflos blickte die Matrone abwechselnd auf Tochter und Sohn. Noch während Erstere versuchte mit vor Scham gerötetem Gesicht und blutenden Knien wieder auf die Beine zu kommen, stürzte Karl sich schwankend auf Rafael, nicht ohne ein: »Dir werde ich’s zeigen!«, zu brüllen.
Doch Rafael gelang es, Karls Angriff geschickt auszuweichen, sodass dieser torkelnd an ihm vorbeistürmte und stattdessen in den Stand eines Imkers krachte, wo er begraben von einer wahren Flut herabstürzender Honiggläser auf dem Boden liegenblieb.
»Mein Junge! Mein armer Junge!«, hörte Rafael Karls Mutter in einer Mischung aus blankem Entsetzen und purer Besorgnis kreischen, während sie ihm hilflos eine klebrige Strähne nach der anderen aus der Stirn zu streichen versuchte.
»Das wirst du mir alles bezahlen!«, wütete derweil der aufgebrachte Imker in Karls Richtung.
»Nichts da! Der da…! Der da ist an allem Schuld!«, verteidigte Karls Mutter entschlossen ihren Sohn und schoss pfeilschnell einen hasserfüllten Blick auf Rafael, dem sich ein ebenso schnell auf ihn gerichteter Zeigefinger seitens der Matrone anschloss. »Der hat meinen Sohn angegriffen. Ich habe es ganz genau mit meinen eigenen Augen gesehen!«
Einzig der Imker ließ sich nicht beirren. Renitent, wie er in den Augen der Matrone war, stieß er ein unwilliges Schnauben aus und ließ Karl nicht für einen einzigen Augenblick aus den Augen. »Ich weiß ganz genau, wer mir die Gläser zertrümmert hat! Und das ist das Bürschchen hier gewesen! Und so wahr ich Alfons Jager heiße, wirst du mir dafür bezahlen!«
»Der ist es gewesen! Der da!«, beharrte Karls Mutter steif und fest.
»Ge … nau!«, unterstützte Karl lallend seine Mutter und fügte der süßlich duftenden Honiglache den säuerlich riechenden Inhalt seines Magens hinzu, sodass der Imker angewidert Abstand von ihm nahm.
»Das ist nicht wahr!«, mischte sich Hanna dieses Mal ein. »Du weißt genau, dass es Karl war! … Wie immer!«, fügte sie leise in einem Nachsatz hinzu.
»Du fällst deinem eigenen Bruder in den Rücken?! Schämst du dich den überhaupt nicht?«, kreischte die von blinder Mutterliebe beseelte Matrone ihre Tochter an. »Der da ist nur Abschaum …, der da ist ein erbärmlicher Zigeuner!«, und wies dabei verächtlich mit ihrem Kinn in Rafaels Richtung.
Rafael wohnte indessen dem Debakel mit versteinerter Mine bei. Es war stets das gleiche Spiel: Egal, wer von den Gadje der eigentliche Übeltäter auch war, am Ende schob man es den Zigeunern in die Schuhe. So war es immer! Schon wollte er sich angewidert umdrehen und seiner Wege gehen, als ihn Hannas Blick traf und seine steinerne Fassade Schlag auf Fall, wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte.
Blau – grau – grün. Die Farbe ihrer Augen war blau – grau – grün! Wie ein tosender Wildbach, der alles mit sich reißt. – Oh, dio! Ich bin verloren! Rettungslos verloren!, schoss es ihm durch den Kopf.
»… du Heuchlerin!«, hörte er sie schimpfen, als er endlich wieder in der Lage war, auf seine Umgebung zu achten. »Du bist eben erst da oben in der Messe gewesen und hast nichts Besseres zu tun, als prompt dein unseliges Gift zu verspritzen. Mach endlich die Augen auf! … Du verschließt vor allem, was dir nicht passt, die Augen! … Ganz besonders, wenn es diesen Kretin«, sie wies dabei auf Karl, »betrifft!«
»Wie kannst du es wagen …?« Vor lauter Empörung schnappte ihre Mutter nach Luft, während sie ihrem Sohn mit einem frisch gestärkten, weißen Taschentuch übers Gesicht strich. Doch dieser wehrte sich gegen jegliche Form mütterlicher Fürsorge und würgte stattdessen erneut eine undefinierbar stinkende Masse hervor, die das ehedem blütenweiße Taschentuch innerhalb von Sekunden seiner Stärke und Reinheit beraubte.
»Mein armer Karl!«, seufzte sie, nicht ohne ihrer Tochter abschließend einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
Mit einem Harschen: »Was ist hier los?«, wurde den sich aufpeitschenden Unmutswogen ein Damm in Gestalt eines rundlichen Polizisten vorgeschoben. Er hatte sich seinen Weg durch die sich immer größer werdende Menschenmenge gebahnt und stand jetzt breitbeinig vor den Kontrahenten.
»Der besoffene Kerl hier hat mir mein ganzes Geschäft ruiniert. Schauen sie sich das an …«, brauste der Händler los und fackelte damit den Streit wieder an.
»Das ist nicht wahr! Wie können sie meinem Sohn dafür die Schuld geben?«, verteidigte Hannas Mutter ihren Sohn. »Der da ist an allem Schuld. Der hat meinen Sohn provoziert!«, und warf Rafael einen derart galligen Blick zu, dass dieser unbewusst einen Schritt zurückwich.
»Ich weiß nur eines, ihr Sohn ist gegen meinen Stand geprallt und hat alles zerstört. Er muss bezahlen!«, beharrte der Händler auf seinem Recht.
»Sie unverschämter Kerl! Sie stecken mit dem da unter einer Decke. Am Ende sind sie auch noch einer von diesem Zigeunerpack!«, fauchte sie ihn verächtlich an, ehe sie sich an die breitbeinig vor ihr stehende Personifikation von Recht und Ordnung wandte: »Herr Wachtmeister, heutzutage ist man seines Lebens nicht mehr sicher ...«, jammerte sie. »Man wird von diesem Pack verleumdet, bestohlen und betrogen. Dieses …«, verächtlich blähte sie die Backen, um zum Abschluss den zwar wortlosen, dafür aber um so beredeter wirkenden Rest auszublasen.
»Jetzt wollen wir mal sachlich bleiben. Was genau ist hier passiert?«, hakte der Ordnungshüter in aller Ruhe nach.
Ein: »Das habe ich ihnen doch schon gesagt …«, kreuzte sich mit einem: »Der da …«, und wurde im selben Augenblick von einem: »Stopp!«, geblockt.
»Einer nach dem andern oder ich nehme sie alle mit aufs Revier!«, verwarnte sie der Ordnungshüter und vergrößerte dabei gleichzeitig seine Breitbeinigkeit um einige Zentimeter. »Sie, Bürschchen«, er wandte sich dabei mit finsterem Blick an Rafael, »stellen sich da hin.« Er zeigte demonstrativ auf eine Stelle neben Hanna, die sich von ihrer Familie abgewandt hatte. »Und jetzt zu ihnen beiden. Sie reden nur dann, wenn ich ihnen sage, dass sie etwas zu sagen haben!«
»Also wirklich!«, empörte sich die so zurechtgewiesene Matrone.
»Ist das klar?«, donnerte es im gleichen Augenblick auf sie herab.
Seelisch getroffen, aber körperlich unversehrt, beschränkte sich Hannas Mutter auf ein wortloses Nicken, währenddessen sie sich innerlich auf einen erbitterten Kampf vorbereitete, der nur ein Ziel kannte: Die Unschuld ihres Sohnes mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.
»Und da ihnen«, fuhr derweil der Wachtmeister ungerührt fort und wies dabei auf den Händler, der ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken konnte, »das Ganze soviel Spaß bereitet, fangen wir direkt mit ihnen an!«
»Also, der da«, der Händler wies auf Karl, der aus glasig wirkenden Augen dumpf vor sich hinstarrte, »hat sich auf den da«, er zeigte auf Rafael, »gestürzt. Warum weiß ich nicht. Der«, wieder ein Fingerzeig auf Rafael, »ist ausgewichen, sodass der da«, erneut ein Verweis auf Karl, »in meinen Stand geknallt ist. Das Ende sehen sie ja: Totalschaden, den der da«, erneut ein anklagender Fingerzeig auf Karl, »mir ersetzen muss!«
»Das ist doch…«
Ein warnender Blick und eine um zwei weitere Zentimeter verbreiterte Standbeinigkeit des Polizisten ließen Karls Mutter verstummen.
»Geben sie mir ihre Personalien … Name?«
»Alfons Jager. Imker.«
»Und sie?«
»Helene Schubek, geborene Fluffen. Mein seliger Mann war Hauptmann Heinrich Schubek. Er ist 1916 bei Verdun …«
»Mutter!«, stöhnte Hanna auf, während Rafael, der eigentlich unbemerkt in der Menge hatte untertauchen wollen, Hannas unvermutete Nähe genoss.
»Du kannst stolz sein auf deinen Vater.«, fuhr diese entrüstet ihre Tochter an. »Schließlich hat er sein Leben für unser Vaterland gelassen. Das muss einmal gesagt werden! Gott hab ihn selig. Ich brauch mich seiner nicht zu schämen. Schließlich …«
Mit: »Name des Sohnes?«, wurde sie rigoros von der festen Stimme des öffentlichen Rechts übertönt.
»… also wirklich!«, empörte sich Hannas Mutter. »Ich bin immerhin die Ehefrau eines Hauptmanns und …«
»Name des Sohnes?«
Statt einer Antwort erntete er nur ein missbilligendes Schnauben.
»Name des Sohnes?«
»Mein Bruder heißt Karl Schubek.«, sprang Hanna für ihre Mutter ein, die ihr einen verächtlichen Blick zuwarf.
»Mhm …« Zum ersten Mal verringerte sich die Breitbeinigkeit des Polizisten um einen Zentimeter und wurde gegen ein tiefes Stirnrunzeln ausgetauscht. »Der Name kommt mir bekannt vor.« Die Augen des Polizisten verengten sich zu einem waagerechten Schlitz und fixierten Karl, der seinerseits vergeblich versuchte, sich in die Senkrechte zu begeben.
Mit einem: »Natürlich ... Dich kenne ich!«, brach sich die polizeiliche Erkenntnis bahn. »Du bist einer von den Halbstarken, die entweder im Grünen Bock oder im Colette rumlungern und für nichts anderes als Ärger sorgen … Karl Schubek und Hans Widerring … Dein Gesicht kam mir doch gleich so bekannt vor, Bürschchen!«
»Mein Sohn geht nicht ins … ich meine …, er verkehrt nicht …, er betritt nicht so ein Haus!«
»Tja«, meinte der Ordnungshüter trocken, »vielleicht sollten sie mal ein wachsames Auge auf ihren Filius richten. Die Tatsachen sprechen für sich. Wenn ich mich recht erinnere, ist ihr feiner Sprössling letzte Woche von einem Kollegen im Colette aufgegriffen und wegen Randalierens im betrunkenen Zustand verwarnt worden. Bei mir kommt er nicht so leicht davon. – Ab mit dir auf die Wache …«
»Ja, und der da?«, japste Karls Mutter empört auf und zeigte auf Rafael, der einzig und allein Augen für Hanna hatte.
Die Breitbeinigkeit des Wachmeisters verringerte sich für einen kurzen Augenblick, ehe sie wieder ihre alte Ausgangsstellung einnahm. »Ich habe nichts gegen …«, hier stockte er einen kurzen Augenblick und runzelte die Stirn, ehe er weiterfuhr, »diesen Herrn vorzubringen. Von daher …«
»Der ist ein Zigeuner!«
»Ich wüsste nicht, dass das in unserem Staat etwas Unrechtes wäre, gnädige Frau.«
»Sie wollen allen Ernstes den Sohn eines Hauptmanns verhaften und den da …, diesen Vagabunden, diesen Herumtreiber, der alles klaut, was nicht niet- und nagelfest ist, frei herumlaufen lassen? … Schauen sie nur, wie der Kerl alleine schon meine Tochter belästigt! – Hanna!«
Aber ihre Tochter reagierte nicht. Im Gegenteil: In aller Ruhe und ohne das geringste Anzeichen von Ekel oder Abscheu erkennen zu lassen, unterhielt sie sich mit diesem Kretin. Unfassbar! – Helene Schubek, verstand die Welt nicht mehr.
»Nun gut!«, die Breitbeinigkeit des Polizisten verbreiterte sich erneut, während er Rafael näher in Augenschein nahm. »Ich werde seine Personalien aufnehmen und mir seine Aufenthaltsbescheinigungen anschauen. Man kann ja nie wissen …«
Hannas Mutter nickte erstmals zustimmend.
Indessen hatte Rafael tatsächlich recht wenig, von dem, was um ihn herum geschah, bemerkt. Vergessen war der Gedanke, sich aus allen Angelegenheiten der Gadje herauszuhalten; vergessen sein Plan, unbemerkt in der Menge unterzutauchen und das, obwohl er sehr genau wusste, dass die meisten Gadje – egal ob Ordnungshüter oder nicht – nicht gerade gut auf Zigeuner zu sprechen waren. Letzteres eine Weisheit, die jeder Rom förmlich mit der Muttermilch aufsog und die sich im Laufe seines Lebens nur allzu oft bewahrheitet hatte, sodass er fast schon instinktiv Abstand zu den Gadje hielt.
Sicher, es gab immer wieder Ausnahmen: So war selbst er mit einigen von ihnen befreundet. Wobei Freundschaft nicht so recht den Kern ihrer Beziehung traf. Eigentlich handelte es sich eher um Nutzbekanntschaften, die zur Zufriedenheit beider Seiten bestanden. So gab es über ganz Europa verteilt Wirtsleute und Landwirte, die als sogenannte Briefkästen fungierten. Kurze Nachrichten konnten bei ihnen ohne Bedenken hinterlegt werden. Man wusste, sie würden den Empfänger erreichen. Im Gegenzug erhielt der Wirt dafür Geld sowie die Zusicherung, dass weder ein Sinti oder Roma sich in irgendeiner Art und Weise an seinen Sachen vergriff.
Neben diesen menschlichen Briefkästen gab es noch eine weitere Ausnahmegruppierung: Es waren ehemals zwangskolonisierte Roma oder Sinti. Einige wenige von ihnen benahmen sich gadjehafter als die Gadje und vermieden jeglichen Kontakt zu ihren Verwandten, da sie befürchteten unzähligen Ressentiments ausgesetzt zu werden. Andere hingegen, die den Sprung in die Sesshaftigkeit schon vor Generationen vollzogen hatten, pflegten einen wesentlich ungezwungeneren Umgang zu ihren nomadisierenden Verwandten.
Hanna wiederum gehörte einer dritten Gruppe an. Einer sehr gefährlichen sogar, wenn Rafael ehrlich zu sich selber war. Sie schien sich allen Ernstes für ihn und sein Leben zu interessieren. Sicher, er hatte mittlerweile so einige kurze Affären zu diversen Gadjefrauen unterhalten und es hatte ihm stets großes Vergnügen bereitet. Schließlich musste er seine sexuellen Bedürfnisse irgendwie ausleben. Bei einem jungen Mann von 24 Jahren war das nur natürlich. Und sich an einem Mädchen seiner eigenen Sippe zu vergreifen, ohne es zuvor zu heiraten … – Rafael fuhr allein bei diesem Gedanken ein eisiger Schauer über den Rücken – hätte ihn in Teufels Küche gebracht. Er wäre vor die Kris geführt worden und die Richter hätten ihn zu Recht aus der Sippe verstoßen. Nein, in dieser Hinsicht war ihm nichts anderes übrig geblieben, als immer wieder die Nähe zu den Gadjefrauen zu suchen, die ihn bereitwillig empfingen. Abgewiesen hatte ihn noch keine. Dem Reiz sich mit einem Zigeuner für ein oder zwei Nächte einzulassen, hatten sie nicht widerstehen können.
Rafael schmunzelte. Dann wurde er wieder ernst. Aber die da vor ihm, dieses nach frisch geschnittenem Heu duftende Mädchen mit Augen, die an einen sprudelnden Bergquell erinnerten, war anders; vollkommen anders!
Von Anfang an hatte sie ihn fasziniert: Schon als sie die Treppe herabgetänzelt war, hatte sein Herz einen wahren Trommelwirbel veranstaltet. Und dann diese Augen, dieser Mund, der ihn förmlich dazu aufforderte, ihn zu küssen! Gut und schön, ihr Bruder war mit Sicherheit ein notorischer Säufer und Schläger, dem man besser aus dem Weg ging. So einer verhieß in der Regel nichts Gutes. Und die Mutter? Die hatte eher Borsten denn Haare auf den Zähnen. Selbst mit einer Drahtbürste würde man nicht dagegen ankommen. Aber dieses Mädchen … – Rafael stöhnte innerlich auf. Statt sich aus dem Staub zu machen, stand er jetzt wie ein Trottel neben ihr und unterhielt sich mit ihr. Und das Schönste an der ganzen Angelegenheit war, dass niemand anderes als dieser Polizist dafür verantwortlich war; da sollte mal einer sagen, dass die Polizei nicht auch für einen Rom ein Freund und Helfer sein konnte. – Andererseits: Das Ganze war Wahnsinn! Vollkommener Wahnsinn! Wie überhaupt alles, was dieses Mädchen betraf, Wahnsinn war! Angefangen von ihrem Äußeren, bis hin zu ihrer Stimme. Aus der Ferne hatte sie hell und klar geklungen, dabei besaß sie einen dunklen, rauchigen Unterton, der so gar nicht zu ihr passen wollte. Und doch … Es lag ein unwiderstehlicher Reiz in diesem Widerspruch, der ihn nicht einfach nur anzog, sondern ihn geradezu dazu aufforderte, sich wie die Motte am Licht an ihr zu verbrennen. Hinzu kam, dass sie sich wirklich für ihn zu interessieren schien. Sie stellte Fragen. Nicht kichernd und verschämt, wie die andern Gadje, die im Grunde gar keine Antwort auf ihre Fragen erhalten wollten, sondern ernst und aufrichtig.
Zuerst hatte Hanna sich für das Verhalten ihres Bruders und ihrer Mutter entschuldigt, nur um ungekünstelt und direkt ihre erste Frage hinterherzuschicken: »Sie sind wirklich ein echter Zigeuner?«
Rafael lachte. »Ja.«
»Hm … Das ist doch keine Beleidigung für sie, wenn ich sie so nenne …? Hoffe ich …? Ich meine, ich weiß nicht … Tut mir Leid!«
»Es braucht ihnen nicht Leid zu tun. Es ist schon in Ordnung, wenn sie mich so nennen. Obwohl ich mich selber als Rom bezeichne, aber sie können mich auch einfach Rafael nennen.« – Was rede ich da für einen Quatsch!, hatte er im gleichen Moment gedacht, als ob das irgendjemanden interessieren würde.
»Rom? – Ja, kommen sie denn aus Rom, sind sie Italiener?«
Wieder musste er lachen. »Nein! Rom, mit einem kurz und nicht mit einem lang gesprochenem o. Und nein, wir kommen nicht aus Italien, obwohl es da sehr schön ist.«
»Sie waren schon einmal in Italien?« Sehnsüchtig schaute sie ihn dabei an.
Er nickte.
»Und woher kommt dieses … Rom?« Sie sprach es kurz und hart aus.
»Das ist der Name unseres Stamms – eigentlich Roma; dass heißt, wir sind Roma. Unsere Sprache ist das Romani.«
»Ah, wie die romanischen Sprachen: französisch, italienisch, …«
Rafael zuckte mit den Schultern. »Tut mir Leid, das kann ich ihnen nicht sagen. Unsere Sippe kommt ursprünglich aus der Walachei. Zumindest meine Familie, ehe wir über Ungarn nach Österreich und von da aus dann nach Deutschland gekommen sind. Aber das ist schon lange her.«
»Oh, dann sind sie ja richtig weit gereist …«
Rafael lachte wieder. Gerade als er ihr erzählen wollte, dass er zwar schon weit gereist, aber niemals in seinem Leben in der Walachei gewesen sei, wurde er von der sich verengt habenden Breitbeinigkeit des öffentlichen Rechts unterbrochen: »Sie kommen mit aufs Revier. Ich möchte mir ihre Papiere anschauen.«
»Aber der Herr Rom hat doch nichts getan!«, mischte sich Hanna empört ein. »Mein Bruder hat ihn angegriffen …«
»Miese Schlampe!«, schnaubte ihr Bruder ihr entgegen, woraufhin Rafael unwillkürlich seine Hände zu Fäusten ballte.
»Da, sehen sie nur!«, schrie Hannas wieder zum Leben erwachte Mutter aufgebracht. »Er bedroht meinen Sohn! Ganz eindeutig!« Triumphierend wies sie mit ihrem Zeigefinger auf Rafaels Fäuste. »Sehen sie nur Herr Wachtmeister, wie er die Fäuste ballt … Der ist gemeingefährlich!«
Fast in Zeitlupe konnte Rafael verfolgen, wie sich alle Blicke auf seine Fäuste richteten und sich regelrecht in sie verhakten. Schon meinte er ihr bleiernes Gewicht zu fühlen: Den zufriedenen der Matrone, den hämisch grinsenden Karls, den irritierten Hannas sowie den finsteren des Wachtmeisters. Doch es sollte niemand anderes als Hanna sein, die ihn im nächsten Augenblick von sämtlicher Last befreite.
»Wenigstens wollte der Herr Rom mir helfen. Etwas, das du nie tust – Mutter!«, stellte Hanna trocken fest und löste damit einen erneuten Blick- und Empfindungsreigen aus, der von mütterlicher Empörung über mühsam in Schach gehaltener Bruderwut bis hin zu fraglosem Erstaunen auf Seiten Rafaels reichte.
»Mhm, Fräulein Schubek …«, räusperte sich der Polizist und versuchte wieder seine kurzfristig verlorengegangene Breitbeinigkeit zurückzuerlangen. »Dass Beste ist, sie begleiten ihre Frau Mutter erst einmal nach Hause. Der Herr Rom und ihr Bruder kommen mit mir aufs Revier.«
Mit: »Ich lasse meinen Sohn nicht mit dem da alleine!«, brach sich der einseitig gepolte mütterliche Schutzinstinkt kurz Bahn, ehe er jählings durch die wiedergefundene personifizierte Breitbeinigkeit gestoppt wurde. »Gnädige Frau, ich möchte sie BITTEN, sich mit ihrem Fräulein Tochter zu entfernen. Und sie drei«, ein Rafael, Karl und den Imker umfassender Wink, »begleiten mich auf’s Revier. Guten Tag, die Damen!«