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Zu Hause

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Die ersten Singvögel regten sich in den Ästen, als Hanna leise die Haustür hinter sich schloss. Bis zuletzt hatte sie versucht, Rafael zu gestehen, wer letztlich für all das Unheil verantwortlich war, aber jedes Mal, wenn sie kurz davor stand, Karls Namen auszusprechen, waren ihr die Worte im Hals stecken geblieben. Stumm und irgendwie hilflos hatten sie beide sich vor ihrer Haustür die Hand gereicht und waren getrennter Wege gegangen. Sie ins Haus, er zurück ins Lager.

Hanna gähnte. Sie war todmüde. Zuallererst würde sie sich für ein paar Stunden hinlegen und schlafen. Danach würde sie erneut zum Lager gehen und Rafael die Wahrheit gestehen. Egal wie schwer es ihr fallen würde, es musste sein. Sie war es ihm und seiner Familie schuldig.

»Na, Schwesterherz auch schon da?«

Hanna zuckte, wie von einer Tarantel gestochen, zusammen. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Karl und blickte sie spöttisch an, während er sich mit seinem Taschenmesser die Fingernägel säuberte.

»Ich wüsste nicht, dass dich das etwas angeht.« Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen legte sie den Hausschlüssel auf die Ablage.

»Wenn du dich da mal nicht irrst, SCHWESTERHERZ!«

Hanna überhörte geflissentlich seine Worte und bewegte sich in Richtung Treppe. Sie wollte nur eins: So schnell wie möglich die Tür ihres Zimmers hinter sich zuschließen.

»Ich rede mit dir!«

»Ich aber nicht mit dir … Außerdem bin ich müde. Ich gehe jetzt schlafen!«

»Du gehst nirgendwohin, wenn ICH es dir nicht erlaube!«

»Du hast mir nichts zu befehlen!« Noch bevor sie den Satz zu Ende ausgesprochen hatte, war Karl bei ihr und schleuderte sie herum. »So meinst du!«, blaffte er sie höhnisch an, ehe er den eigentlich Pfeil abschoss: »Du kleine Zigeunerhure!«

Hanna zuckte getroffen zusammen.

»Hans hat recht gehabt!« Karls Augen verengten sich, dann holte er aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie kleine Sterne sehen ließ. »Du kleine Schlampe! Ich hätte es mir schon gestern Morgen auf dem Kirchplatz denken können. So geil, wie du den angeschmachtet hast ...«

»Nicht Karl!« Reflexartig hielt sie sich schützend die Hände vors Gesicht.

Aber statt zuzuschlagen, breitete sich in seinem Gesicht ein diabolisches Grinsen aus, das sie erzittern ließ. Langsam, ganz langsam beugte er sich vor, sodass sie seinen alkoholgeschwängerten Atem auf der Haut spüren konnte. »Was du von dem bekommen hast, Schwesterherz«, zischte er ihr leise ins Ohr, »das kannst du auch von mir haben!« Und schon packte er sie und zerrte sie ins Wohnzimmer, wo er ihr einen Stoß versetzte, der sie erst gegen einen Beistelltisch, dann gegen die Lehne des Sofas prallen ließ, sodass sie vor Schmerz neben der zu Bruch gegangenen Leselampe zu Boden sank.

»Bitte Karl …«, flehte Hanna ihn an, »Bitte, tu es nicht!« Auf allen Vieren kriechend versuchte sie, ihm zu entkommen. Aber Karl war schneller als sie. Seine Hand bekam ihr Bein zu fassen, sodass sie erneut der Länge nach auf den Boden stürzte und dort liegen bleib. »Es war nichts! Glaub mir!«, wimmerte Hanna, während er sie gewaltsam umdrehte und ihr in den Ausschnitt griff, um ihn mit einem einzigen Ruck zu zerreißen. »Karl …, bitte …, es … war nichts.«, schrie sie laut schluchzend. Zugleich versuchte sie hilflos, mit der einen Hand ihre nackte Brust zu bedecken, während die andere sich gegen seinen Oberkörper stemmte.

»Du bist so schön!«, stieß Karl erregt aus. Gebannt starrte er auf ihren Busen, der silberweiß im fahlen Licht des ersten Morgengrauens glänzte. Das verzweifelte Schluchzen seiner Schwester hörte er längst nicht mehr. Wie von selber streckte sich seine Hand gierig nach ihren Brüsten aus. Aber Hanna wich ihm geschickt aus, sodass er ins Leere griff, was seine Wut anstachelte. »Du Luder, du willst es wohl auf die harte Tour, was?«, schnaufte er. Mit der einen Hand griff er ihr ins Haar und drückte ihren Kopf fest auf den Boden. Mit der anderen schlug er ihr eins ums andere Mal ins Gesicht, bis sie aus Mund und Nase blutete. Angestachelt durch ihre gellenden Schmerzensschreie, die unbeachtet im Haus verhallten, riss er schließlich am Rest ihrer Kleidung, bis sie sich fast vollkommen nackt vor ihm wand.

»Nein …, nein …, nicht … Karl!«

»Du gehörst mir!«, stieß er schwer atmend aus. Gleichzeitig versuchte er seinen Hosengürtel zu lösen. »Hast du es immer noch nicht begriffen?!«

Noch einmal versuchte Hanna, sich zu befreien, musste letztlich aber einsehen, dass sie nicht einmal den Ansatz einer Chance besaß, ihrem Bruder zu entkommen.

Karl hingegen grinste hämisch. Ihre Gegenwehr stachelte seine Lust an. Je mehr desto besser. Mit aller Wucht ließ er seinen schweren Körper auf sie fallen und drückte sie dabei zu Boden, sodass sie kaum Luft bekam.

»Du entkommst mir nicht!« Keuchend und mit vor Erregung hochrotem Gesicht presste er ihre Beine auseinander, während ihre Hand verzweifelt nach einem Gegenstand tastete. Gierig presste er seine Lippen auf ihren Mund und drängte seine Zunge in ihr Mundinneres. Schon meinte sie zu ersticken. Kleine blaue Sterne blitzten vor ihren Augen. Wie eine Besessene strampelte sie mit den Beinen. Aber nichts half. Im Gegenteil! Je mehr sie sich unter ihm wand, desto erregter wurde er. Sein Glied wuchs und drängte sich in seiner pfählernen Härte zwischen ihre weichen Schamlippen, die ihm wehrlos preisgegeben waren. Hilflosigkeit, Angst, Ekel und Wut tobten in ihr und vermischten sich zu einem gefährlichen Elixier, das ihr unverhofft Kraft verlieh. Entschlossen tastete sie mit den Händen den Boden ab. Da, da war etwas! Etwas Hartes, Schweres. Nur mit Not schaffte sie es, den Gegenstand zu umfassen und anzuheben. Im gleichen Moment da er in sie eindrang, schlug sie zu und Karls Körper erschlaffte und begrub sie unter sich.

Hanna schnappte nach Luft. Angewidert und voller Ekel fasste sie ihn an den Schultern und versuchte ihn, von sich zu drücken. Es dauerte einige Zeit, ehe sie es endlich schaffte. Am Rand vollkommener Erschöpfung stehend stand sie auf und verließ, ohne ihn eines letzten Blickes zu würdigen, taumelnd das Wohnzimmer und wankte die Treppe empor. Mochte er Tod sein, ihr war es egal. Ihr war alles egal.

Kurz bevor sie am Schlafzimmer ihrer Mutter vorbeikam, wurde die Tür zugeschlagen. Blindlings vor Tränen taumelte sie an ihr vorbei. Schwere Atemgeräusche waren dahinter zu hören. Egal! Sie wollte nur noch auf ihr Zimmer, sich anziehen und dann weg von hier. Nie wieder, schwor sie sich, würde sie sich von Karl anfassen lassen. Nie wieder würde sie seinen faulen, alkoholgeschwängerten Atem riechen wollen. Nie wieder!

Am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und sank zu Boden. Ihr Kopf war leer, vollkommen leer. Dann als das Zittern endlich aufhörte, stand sie auf. Eine von Eiseskälte durchtränkte Ruhe durchströmte ihren Körper. Mechanisch schloss sie die Innentür ab, zog sich an, holte den Lederkoffer unter dem Bett hervor und legte ein Kleidungsstück nach dem anderen hinein. Dann kam der Schmuck. Es war nicht viel, was sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, aber es würde reichen, um ein neues Leben fern von hier anfangen zu können. Zumindest, sagte sie sich, würde sie nicht auf der Straße liegen und verhungern müssen. Zu guter Letzt kamen die Papiere sowie etwas Bargeld, das sie gespart hatte und vor ihrem Bruder unter einer Holzbohle versteckt hielt.

Ihr Blick durchstreifte ein letztes Mal das Zimmer. Da waren die Bücher, die ihr sooft geholfen hatten, alles andere um sich herum zu vergessen: Goethes Werther, Shakespeares Was ihr wollt und Der Sturm, ein kleiner Band mit Gedichten von Rilke und Hölderlin sowie Theodor Fontanes Effi Briest. Kurz überlegte sie, ob sie sie in den Koffer packen sollte, ließ es dann aber sein, da sie ihr zu schwer sein würden. Weiter ging ihr Blick und streifte den Schaukelstuhl auf dem ein selbstgenähtes Kissen lag, das sie mit singenden Vögeln bestickt hatte. Direkt daneben stand die Harfe. Es war eine Einfachpedalharfe. Das Gold der Harfensäule war fast vollständig abgeblättert. Aber der kunstvoll mit Rosengirlanden verzierte Kopf glänzte immer noch. Sie würde sie stehen lassen müssen.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte sich immer noch an den Tag erinnern, an dem sie sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte.

»Sie ist für dich, mein Herz. Man wird dir im Leben viel nehmen können, aber die Musik wird dir für immer bleiben. Du bist begabt. Lerne auf ihr zu spielen.«

»Ich kann sie nicht mitnehmen Großmutter ...«, flüsterte sie leise, während sie ein letztes Mal über die lange Harfensäule strich. Die Seiten traute sie sich nicht zu berühren. Nur nicht schwach werden Hanna, nur nicht schwach werden! Trotzdem meinte sie, dass sie leise vibrierten und ein hauchzarter, kaum wahrnehmbarer Klang durchs Zimmer strich. »Verzeih mir!«

Tränenüberströmt drehte sie sich, hob ihren Koffer und verließ, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen, das Zimmer, in dem sie groß geworden war.

Taubenjahre

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