Читать книгу Schloßstraße - Franziska Steinhauer - Страница 14

11

Оглавление

Marga hatte den Kanal gestrichen voll.

Sicher, auch andere Jugendliche hatten Problemeltern. Es war kein seltenes Phänomen. Allerdings lag bei Phillipp und ihr die Sache deutlich anders.

Jeden Tag der gleiche Ärger, der gleiche Zoff.

Schon als sie die Wohnungstür öffnete, konnte sie spüren, wie der Abend verlaufen würde.

Katastrophal.

Ganz eindeutig.

Aus dem Kinderzimmer – kein Laut.

Schlecht.

Das wusste sie aus Erfahrung.

So lange randaliert wurde, gab es noch eine Chance auf einen prügelfreien Abend. Viel mehr Alkohol wirkte dann einschläfernd. Wenn allerdings um diese Zeit schon Stille einzog, konnte man diese Hoffnung nur begraben.

Ohne die Jacke auszuziehen, schlich Marga in Richtung Kinderzimmertür. Zu Phillipp. Ihr kleiner Bruder – ein Sexunfall, wie ihre Eltern immer wieder betonten – kam ihr an »normalen« Abenden entgegengelaufen.

Heute nicht.

Also war nicht das Übliche zu erwarten.

Marga straffte ihren schmalen Körper, wappnete sich.

Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher.

Solange sich dort niemand rührte, blieb sie unentdeckt.

Lautlos waren in dieser Familie nur die Kinder. Hoch sensible Leisetreter mit zu jeder Zeit ausgefahrenen Sensoren.

Wachsam.

Selbst im Schlaf.

Als sie die Tür aufschob, fiel ihr im diffusen Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster das Chaos im Raum auf. Das war nicht erlaubt. Wurde drakonisch geahndet. Phillipp hätte niemals solch ein Durcheinander angerichtet. Offensichtlich hatte man einen Grund konstruiert, um …

»Phillipp«, flüsterte Marga eindringlich.

Keine Antwort.

Vorsichtig, um nicht auf ein Hindernis zu treten, das ihre Anwesenheit lärmend verraten würde, tastete sie sich im Halbdunkel voran.

»Phillipp«, raunte sie erneut.

Eine eiskalte Hand umspannte ihre Fessel.

Erleichtert atmete sie auf.

Beugte sich zu dem Kleinen hinunter.

»Hey, kannst du aufstehen?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Seine Antwort war ein leichter Druck am Fußgelenk. Marga wusste, was das bedeutete.

»Okay. Ist nicht schlimm. Ich werde dich einfach tragen. Sei ganz still. Wir gehen jetzt.«

Ihre Hände glitten sanft über seinen Körper.

Beruhigend.

Phillipp trug nur einen Schlafanzug.

Zu kalt für draußen. Sie würde ihn wärmen müssen.

»Es war besonders schlimm heute. Ich kann fühlen, wo du Schmerzen hast. Wenn ich dich jetzt aufhebe, kann es schlimmer werden.«

Sie lud das Leichtgewicht auf ihre Hüfte. Setzte es auf ihrem Becken ab, drückte mit der Hand seinen bebenden Körper an ihren.

Kein Laut.

Nun wieder durch den Flur zurück.

Als sie die Wohnungstür ins Schloss zog, den Schlüssel vorsichtig aus dem Schließmechanismus gleiten ließ, wusste sie, dass weder ihr Bruder noch sie selbst je wieder zurückkehren würden. Ohne Abschied, für immer.

Unter der ersten Straßenlaterne hielt sie an.

Inspizierte mit geschulten Händen und Augen Phillipps Körper.

Vorsichtig löste sie das Tuch von seinem Hals, das so festgezurrt worden war, dass es ihn langsam, fast spurlos erstickt hätte. Tränen drängten aus den Augen des Mädchens.

»Scheiße, mein Kleiner! Das war wirklich ein besonders übler Abend für dich!« Marga schluchzte. »Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, dir zu helfen!«

Phillipp kuschelte sich fest an seine Schwester.

Schluchzte ebenfalls.

Zitterte.

Hustete.

Probierte erfolglos seine Stimme zu aktivieren.

Margas Parka stammte aus einem Secondhandshop. Ausgewählt nach Preis, Größe egal, vielleicht dachte ihre Mutter, das Kind wachse noch rein.

Jetzt war er genau richtig für zwei.

Phillipp vor dem Bauch, schloss sich der Reißverschluss problemlos hinter seinem Rücken. Perfekt, dachte Marga, so ist es warm genug für ihn.

»Diesmal sind sie entschieden zu weit gegangen. Wir nehmen keine Rücksicht mehr. Ich bringe dich ins Krankenhaus. Dort wird man sicher die Polizei verständigen. Zurück muss keiner von uns, dafür sorge ich«, flüsterte die Schwester Phillipp ins Ohr. »Diesmal machen wir alles richtig. Du brauchst keine Angst mehr zu haben!«

Entschlossen stapfte Marga durch die Nacht.

Zunächst lief alles wie erwartet.

Phillipp wurde gründlich untersucht. Alle waren sehr freundlich, bemühten sich um die Geschwister, dokumentierten die Spuren der häuslichen Gewalt akribisch.

Polizei und Jugendamt wurden eingeschaltet.

Phillipp schlief unruhig.

Marga saß neben seinem Bett, sah die Nähte, die seine Augenbraue hielten, die Schwellungen und roten Flecken. Fühlte sich schuldig. Der linke Arm war gebrochen, die Hüfte stark geprellt, drei Rippen gebrochen, der Kehlkopf gequetscht. Der Kleine hatte sehr viel Glück gehabt, dass seine Schwester ihn rechtzeitig gefunden und gerettet hatte, lautete die einhellige Meinung der Ärzte. Als Marga ihm vorsichtig den Schlafanzug abgestreift hatte, war das ganze Ausmaß vergangener und aktueller Gewalt sichtbar geworden. Eine der Krankenschwestern fragte, warum sie, die große Schwester, nicht viel früher Hilfe gesucht habe. Darauf hatte Marga keine Antwort geben können. Sie konnte nicht wirklich gedacht haben, es könne besser werden. Warum also? Ihr hatte man die gleichen Dinge angetan – Spuren verrieten den Medizinern jahrelanges Leid für beide Kinder. Warum? Wäre ich Anfang der Woche mit ihm gegangen, hätte ich ihm diesen Abend erspart, dachte Marga verzweifelt, weinte leise, während sie ihren Bruder streichelte.

»Es tut mir so leid«, wisperte sie immer wieder. »Es tut mir so leid.«

Schloßstraße

Подняться наверх