Читать книгу Schloßstraße - Franziska Steinhauer - Страница 5

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»Echt? Du hast schon einen konkreten Plan?«, erkundigte ich mich aufgeregt. »Wie sieht der aus?« Ich ruckelte nervös auf meinem Stuhl hin und her, beugte mich weit über den Tisch, um nur nichts zu verpassen. Endlich eine Route!

»Nun, am besten starten wir in Bogotá. Es gibt einen direkten Flug ab Berlin. Wir sehen uns die Stadt an, tauchen ein bisschen ein in den Trubel dieser riesigen Metropole. Nur weil wir aus humanitären Gründen hinfliegen, müssen wir ja nicht darauf verzichten, uns Sehenswürdigkeiten anzusehen. Wer weiß, wann wir später wieder so eine Chance bekommen werden!« Nicolas blaue Augen blitzten voller Vorfreude, er lachte leise. Bei seiner Statur geriet es dennoch laut. Ein sportlicher junger Mann, muskelbepackt, tätowiert, dessen ursprünglich modischer Haarschnitt mit üppiger, zur Seite gewellter Tolle inzwischen einer praktischeren Frisur gewichen war, einer Art Bürstenschnitt mit Seitenscheitel. Unser Plan sah einen Koffer für Pflegeprodukte und Styling-Technik nicht vor. »Es gibt eine Kontaktadresse für Interessenten, die sich bei einer Hilfsorganisation engagieren wollen. Dort habe ich mich bereits hingewandt, die vermitteln uns einen Kontakt vor Ort.«

Ich beobachtete die Kellnerin, die von Tisch zu Tisch lief.

Für jeden hatte sie ein freundliches Wort, erkundigte sich nach Angehörigen. Stammkunden, konstatierte ich. Sie möchte ihnen ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, Kundenbindung.

Mir kam es so vor, als werfe sie immer wieder misstrauische Blicke in unsere Richtung. Wahrscheinlich entsprachen wir zu wenig dem Bild der »normalen« Cafébesucher. Drei junge Männer mit dunklen Haaren, kurzen Bärten, legerer Kleidung, die konspirativ beieinandersaßen und offensichtlich Pläne schmiedeten. Möglicherweise finstere. Wir waren auf jeden Fall suspekt.

Die Kellnerin trat zu ihrem Kollegen an den Tresen, es entwickelte sich ein kurzes Gespräch zwischen den beiden.

»Wir fallen auf«, erklärte ich den anderen beiden. »Die Kellnerin ist davon überzeugt, dass wir uns hier treffen, um einen Banküberfall zu planen. Das liegt an unserem Aussehen.«

»Quatsch. Warum sollte sie? Dann müsste sie ja auch annehmen, die alten Damen da drüben«, Nicola deutete mit dem Kopf leicht nach links, »gehören zu einem Kinderschmugglerring. Woher willst du überhaupt wissen, was sie denkt? Gedankenlesen war schon immer eine Fähigkeit von dir?«

Nicola eben. Arrogant.

»Nein, ich habe einen Freund, der nach einer Infektion sein Gehör verloren hatte. Ich kann Lippenlesen.«

»Das ist ja toll!« Felipe war ehrlich erstaunt. »Das kann man einfach so lernen?«

»Einfach so nicht. Nur mit Ausdauer«, gab ich mich bescheiden, freute mich aber sehr darüber, wenigstens Felipe beeindruckt zu haben.

»Und der Kollege hinterm Tresen glaubt auch, wir hätten Böses vor?«

»Nein«, konnte ich Nicola beruhigen. »Er glaubt, wir organisieren eine Überraschungsparty für einen Freund.«

»Na, dann ist ja alles geklärt. Kommen wir zum Thema zurück.«

Wir bestellten drei Gin Tonic.

Legten die Speisekarte griffbereit an den Rand des Tisches, signalisierten so, dass wir noch mehr ordern würden.

Das Café in der Schloßstraße war gut besucht.

Die übrigen Gäste schienen an uns sehr interessiert zu sein, es kam mir vor, als versuchten sie zu erlauschen, was wir wohl zu besprechen hatten.

»Vielleicht sollten wir uns etwas leiser unterhalten«, gab ich zu bedenken.

Nicola sah sich kurz um, nickte.

»Okay. Wir haben nichts zu verbergen, aber unser Plan muss auch nicht Stadtgespräch werden.«

Fortan wurde bei uns eher geflüstert, um ausschließen zu können, dass an den Nachbartischen etwas von unserem Gespräch aufgeschnappt würde. Was uns sicher in den Augen der Kellnerin und der anderen Gäste noch verdächtiger machte.

Mit der Zeit würde man sich an unseren Anblick und unsere Art gewöhnen.

»Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass es mit der Organisation unseres Einsatzes so einfach funktionieren wird.« Felipes Hände waren sorgfältig manikürt, sahen weich und zärtlich aus. Während er mit warmer Märchenerzählerstimme sprach, bewegten sie sich sanft, unterstrichen seine Worte perfekt, gaben ihnen Gewicht – selbst wenn die Aussage im Grunde gar nicht fundamental wichtig war. Der Blick, mit dem seine braunen Augen Nicola streiften, war ein wenig skeptisch, vielleicht ein bisschen ängstlich. Die langen, dunklen Haare wurden von einem weichen Gummiband gehalten, das er während des Sprechens immer wieder neu fixierte.

Ich warf einen Blick auf meine derben, klobigen Finger und schob sie unter die Oberschenkel.

»Kennt ihr beide euch gut?«, fragte ich unvermittelt, rau und ein wenig besorgt. Die Rolle als mitgeschlepptes Anhängsel würde mir nämlich nicht gefallen.

Nicola überließ es Felipe zu antworten.

»Wir wohnen in einem Haus mit lauter WGs. Gesehen haben wir uns schon öfter, aber ich wurde erst aufmerksam, als Nicola einen Aushang am schwarzen Brett gemacht hat. ›Soziales Engagement in Kolumbien‹. Das hat mich angesprochen. Und, wie gesagt, ich nahm an, es könnte eine komplizierte Angelegenheit werden. Und nun sieht es gar nicht danach aus.«

»Wie abgemacht: Wir sprechen uns nur mit den spanischen Namen an.« Nicolas Ton wurde eindringlich. »Wenn wir erst in Kolumbien sind, sollte uns besser kein Fehler mehr unterlaufen. Ihr wisst ja, es gibt dort Gruppen, Untergrundorganisationen oder auch Clans, Kartelle – wie auch immer man sie bezeichnen will –, die Menschen verschleppen und gegen Lösegeldzahlungen freigeben, oder auch nicht.«

Ich nickte. »Die gewählte Präsidentin haben sie auch verschleppt. Ingrid Betancourt. Seit etwa drei Jahren wird sie irgendwo gefangen gehalten. Unfassbar.«

»Genau. Deshalb verwenden wir dort keine deutschen oder nordeuropäischen Namen. Nur die Organisation kennt unsere wahren Identitäten, ich musste uns natürlich mit ordentlichen Papieren anmelden. Kopien der Originale liegen also schon dort. Aber ansonsten ist niemand eingeweiht. Auch unsere Begleiter direkt vor Ort wissen nicht, woher wir kommen. Wir werden uns bei jeder Gelegenheit nur mit unseren Vornamen vorstellen. Dann ist es einfach.«

»Im Grunde kannst du doch gar nicht mehr sicher sein. Trotz all der Verschleierungsmaßnahmen. Denkt mal an dieses Ehepaar, das auf den Malediven entführt wurde. Gefühlt haben die mich ein ganzes Jahr lang in jeder Tagesschau genervt. Die beiden mussten sich an den Kosten für die ›Befreiung‹ beteiligen. Fand ich nur gerecht.« Felipe, Jurastudent, grimassierte wild. »Aber bei uns ist nichts zu holen. Da haben wir im Ernstfall vielleicht schlechte Karten.«

Nicola lächelte beruhigend. »Macht euch keine Sorgen. Uns wird man nicht für eine gute Einnahmequelle halten. Wir tragen Jeans und möglichst unifarbene T-Shirts ohne Aufdruck oder sichtbares Label. Normale, stabile Turnschuhe, keine Luxusmodelle. Niemand wird Notiz von uns nehmen.«

»Muss man Spanisch können?« Ich rutschte wieder unruhig auf meinem Stuhl hin und her. »Also, wenn es notwendig ist, dann besuche ich einen Kurs an der Volkshochschule. Aber ehrlich, ich bin kein Sprachenlerngenie.«

»Wie schon gesagt, wir werden an eine Kontaktperson vermittelt. Dann klappt die Kommunikation auf Englisch.« Nicola hatte sich offensichtlich bereits umfassend informiert. Ich fand, er hatte viel von einem Beamten. Bürohengst, der alles minutiös durchplante.

Wenn man so einen Trip plant, sollte man sich in der Gruppe wohlfühlen, den anderen vertrauen. Falls wir wirklich in eine brenzlige Situation geraten würden, konnte ich sicher sein, dass die beiden sich auch um mich scherten?

Wäre sich nicht doch jeder selbst der Nächste?

Deshalb beschloss ich, sehr aufmerksam zu sein.

Ich beobachtete meine zukünftigen Reisebegleiter unter meinen halb geschlossenen Augenlidern, als ich vorgab, die Karte des Cafés zu studieren. Die beiden kannten sich ganz offensichtlich nicht erst seit dem ersten Treffen der Dreiergruppe. Wie lange genau, wie eng, darüber hatten sie nur nebulöse Angaben gemacht, auch über die Anzahl der weiteren Mitbewohner der angeblichen WGs. Ich selbst hatte auch nicht jedes Detail meiner Biografie preisgegeben, es gab einfach Dinge, die waren eben privat!

Wenn man mich nicht direkt danach fragen würde, blieben sie es auch.

Mir ging ein Spruch durch den Kopf, den meine Mutter immer gern verwandt hatte, wenn sie der Meinung war, ich sei zu leichtgläubig, zu vertrauensselig.

Der mit der sprichwörtlichen Leiche im Keller. Jeder hat seine eigene. Solange sie nicht stinkt, ist alles in Ordnung.

»Wusstet ihr eigentlich, dass dieses Café hier eine bemerkenswerte Historie hat?«

»Nein. Es ist ein Café, mehr nicht.« Nicola hasste es offensichtlich, wenn man ein Thema anschnitt, das ihm unbekannt war.

»Ja, wirklich. Das Café Reichert ist ein Traditionsbetrieb, wenn auch an dieser Adresse erst seit etwa einem halben Jahrhundert. Es hatte Zeiten gegeben, da gehörte es neben dem Kranzler und dem Mohring zu den berühmtesten der Stadt. Aber die Gründung des Caféhauses, das ursprünglich eine Confiserie war, ging auf das Jahr 1822 zurück. Finde ich toll. Aber das erklärt vielleicht auch, warum wir hier wie Paradiesvögel wirken.«

»Möglich.« Nicolas Blick war deutlich.

Unterbrechungen dieser Art hätte ich in Zukunft zu vermeiden, war klar darin zu lesen.

»Gesundheitscheck ist notwendig. Schließlich will wohl keiner von uns ausgerechnet während dieses Aufenthalts in ein lokales Krankenhaus.« Felipe lachte leise, wollte wohl die Situation entschärfen. Warm, sympathisch, trotz der mahnenden Worte unbesorgt. »Extraktion von Zähnen ohne Anästhesie? Huh!«

»Ne. Klar nicht.« Ich nickte. »Ich mache einen Termin zum Check für etwa vier Wochen vor Abflug aus. Wenn dann doch was ist, kann man es vielleicht rechtzeitig bis zum Reisetermin in den Griff kriegen.« Ich hörte selbst, dass ich unsicher klang. Dabei wollte ich eigentlich als abenteuerlustiger Draufgänger rüberkommen, das musste besser werden. Unangenehm deutlich spürte ich den investigativen Blick Nicolas, der offensichtlich versuchte, meine Tauglichkeit zu checken. Immerhin würden wir drei aufeinander angewiesen sein, gerade in brenzligen Situationen. Ein Bedenkenträger und Angsthase könnte entstehende Probleme durch unüberlegtes Handeln vergrößern. Ganz automatisch straffte ich meinen Körper, richtete den Rücken auf, präsentierte eine unbeeindruckte Miene und breite Schultern, ließ meine Bizepse zucken. Mit den Muskeln Nicolas konnten sie natürlich nicht mithalten. Dennoch schien er beruhigt von dem, was er sah, nahm seinen Blick zurück und atmete tief durch.

Nicola zog ein buntes Buch aus der Jackentasche und blätterte es an einer markierten Stelle auf. »Ich habe hier einen Reiseführer. In dem findet man auch die Durchschnittstemperatur für die einzelnen Monate und die ›feuchten‹ Zeiten. Je nachdem, wo unser soziales Engagement stattfinden soll, werden wir mit zum Teil extremen Wetterbedingungen zu tun haben.« Neugierig beugten wir uns darüber.

»Okay. Ich verstehe, was du meinst.« Felipe strich nachdenklich durch den Bartansatz am Kinn. »Das müssen wir bedenken. Vielleicht können wir uns mit der Hilfsorganisation enger abstimmen, was dieses Thema angeht.«

»Anden. Dort kann es verflixt kalt werden, in anderen Landesteilen ist es zur selben Zeit schwül und lastend heiß. Was können wir besser ab, warm oder kalt? Oder nehmen wir es, wie es kommt?«

»Das Problem ist ja die Ausrüstung«, wandte Felipe vernünftig ein. »Mir wird schnell kalt. Aber wir wollen natürlich nicht den ganzen Kleiderschrank einpacken, für alle Fälle. Also denke ich, es wäre schon ganz praktisch, genauer zu wissen, welches Wetter uns erwarten wird.«

»Ich friere auch leicht«, sprang ich dem eher zarten jungen Mann zur Seite. »Du hast recht, wir sollten nicht unnötig Kleidung mitnehmen, die wir absehbar nicht benötigen werden.«

»Ich habe schon mal grob geguckt. Vielleicht wäre es ganz gut, Ende Dezember oder kurz nach Silvester aufzubrechen. Ich versuche unseren Einsatzort zu klären, bevor wir uns das nächste Mal treffen. Klar ist schon jetzt: Wir landen in Bogotá. Dort verbringen wir ein paar aufregende Tage, bevor wir in unser Einsatzgebiet gebracht werden.« Nicola zog eine Karte aus seinem Rucksack. »Hier sind alle Museen eingezeichnet und im Begleitheft gibt es Rezensionen dazu.«

Schnell waren wir drei in unsere weiteren Planungen für den ersten Reiseabschnitt vertieft.

Vielleicht verpassten wir zu diesem Zeitpunkt den richtigen Moment für ein Gespräch über unsere unterschiedlichen Motivationen. Damals erschien es uns nicht wichtig.

Meine Geschichte hätte sich in etwa so angehört: Als ich um die fünfzehn Jahre alt war, sagte meine Mutter zu mir: »Schnäpschen, weißt du, bis zu deinem zwanzigsten Geburtstag solltest du wirklich wissen, was du werden willst und wie du es erreichen kannst. Setz dir ein Ziel, verliere es nicht mehr aus den Augen.«

»Schnäpschen«. Natürlich wusste sie, dass ich diesen Spitznamen hasste. Immer wenn ich mir etwas hinter die Ohren schreiben sollte, verwandte sie ihn. In ihrer Konnotation positiv besetzt, denn ein kleiner Schnaps wirkte sich gut auf Stimmung und Verdauung aus – tat einfach gut.

Dennoch, mir gefiel er nicht.

Es macht keinen Spaß, ständig damit rechnen zu müssen, plötzlich »Schnäpschen« gerufen zu werden. Das war unendlich peinlich. Besonders, wenn auch noch meine Klassenkameraden neben mir standen!

»Was deine Mutter meint, Zwerg, ist, dass, wenn du noch immer Lokomotivführer werden möchtest, du es bis zu deinem zwanzigsten Geburtstag geschafft haben solltest, im Führerstand oder neudeutsch Cockpit zu sitzen. Wenn du absiehst, dass das nicht klappen wird, such dir beizeiten etwas anderes. Wichtig ist nur, dass du weißt, ab wann du eine Familie gründen und ernähren kannst.« Typisch mein Vater. Planung war das Wichtigste.

»Zwerg«. Seine Art sich über meine Statur lustig zu machen. Sogar zum Arzt waren sie mit mir gegangen! Der hatte meine Hände geröntgt und einige andere Untersuchungen durchgeführt. Danach stellte er lachend klar, es sei alles in Ordnung mit dem Kind, es werde einfach deutlich länger als die anderen Kinder wachsen. Das Problem werde sich also im wahrsten Sinne des Wortes auswachsen. Diese Prognose hatte gestimmt.

Der »Zwerg« war dennoch an mir hängen geblieben.

In Bezug auf die Pläne meiner Eltern erschien mir »eine Familie gründen« der am schwierigsten zu erfüllende Teil zu sein. Wahrscheinlich war es gar nicht möglich. Ein unerreichbares Ziel.

Aber das hatte ich bisher wohlweislich verschwiegen.

Präferenzen ändern sich, Dinge nehmen einen anderen Lauf als geplant.

Als mein zwanzigster Geburtstag anstand, war ich noch immer nicht Lokomotivführer geworden.

Ich studierte.

Philosophie und Soziologie.

Und nun, da mein Weg abgesteckt schien, wollte ich noch ein letztes Mal richtig aussteigen. Der Plan: Für kurze Zeit in definiertem Rahmen etwas ganz anderes zu tun. Den theoretischen Teil des Studiums mit Realitätskontakt konkret zu hinterlegen.

Deshalb saß ich mit den beiden anderen hier.

Und ganz nebenbei würde mich der Sozialeinsatz weit weg von zu Hause führen. Weit weg von all den Lebenslügen, Zwängen, Vertuschungen, psychischen Verletzungen und dem ständigen Leugnen.

Weder kannten die anderen diese noch ich ihre Geschichte.

Wirklich, wir hätten vor der Reise alle ehrlicher miteinander über unsere Motivation sprechen sollen!

Schloßstraße

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