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Manja und Tobias tobten durchs Wohnzimmer.

»Nein! Das ist nicht wahr! Ich habe die Gummibärchen nicht allein aufgegessen!«, brüllte Tobias bebend vor Zorn und stampfte mit dem Fuß auf. »Du warst das! Ich habe nur ganz wenige davon abgekriegt.«

»Und es ist trotzdem so«, gab die Schwester patzig zurück. »Bei der Schokolade neulich hast du das auch behauptet. Und da klebte der Rest noch an deinen Fingern. Mama weiß genau, dass du sie weggenascht hast. Sie wird dir nicht glauben. Auch wenn du lügst: Ich weiß, dass du es warst. Es ist die Wahrheit!«

»Ist es nicht!«, beharrte der Kleine. »Du hast sie alle aufgegessen! Ich nicht. Das ist nicht wahr!«

»Ist es doch!«

»Nein!«

Als den beiden die Worte ausgingen, flogen die Fäuste, kratzten Fingernägel, hackten Tritte. Handgreifliche Argumente hatten, Manjas Meinung nach, bei ihrem Bruder größere Überzeugungskraft.

Hatten sie nicht.

Zumindest nicht heute.

Tobias war nicht gewillt, in diesem Punkt nachzugeben.

»Was ist denn hier los?« Die Mutter trennte mit geübten Griffen die beiden Streithähne aus der gegenseitigen Umklammerung.

»Ich habe von den Gummibärchen nur ganz wenige genascht«, quengelte Tobias weiter. »Manja sagt immer, sie darf mehr davon abbekommen, weil sie schon sechs ist und ich erst vier.«

»Sicher, sie ist die Ältere von euch beiden«, bestätigte die Mutter. »Aber beim Teilen von Süßem spielt das gar keine Rolle.«

Der Kleine fing an zu weinen. »Sie hat meine …«

»Das ist doch nicht so schlimm. Wir werden sicher noch ein paar finden«, beschwichtigte die Mutter.

Die Schwester grinste. Triumphierend. »Siehst du. Mama glaubt dir nicht.«

»Aber es stimmt! Sie hat …«

»So, Schluss jetzt mit dem Gezanke. Wir gehen alle zusammen in den Zoo. Papa kommt mit.«

»Juchhhuh!«, jubelten die Geschwister einträchtig.

Wischten sich die Spuren der Tränen von den Wangen, funkelten sich ein letztes Mal wütend an.

»Kommt, ich mache noch einen heißen Kakao für euch.« Monika wusste, Schlichtung funktionierte in beinahe allen Fällen auf diese Weise. Lachend sah sie den Kindern nach, die in die Küche tobten.

Der Streit war fast vergessen.

Björn Andermatt stand unter der Dusche und genoss das warme Wasser, das über seinen durchtrainierten Körper floss.

Frei!

Ein ganzes Wochenende mit der Familie. Gestern Weihnachtswaldspaziergang, heute Zoo.

Sein Handy klingelte fordernd.

»Ich habe frei!«, rief er ihm zu. Als es nicht aufhörte, stöhnte er genervt. Stellte das Wasser ab.

»Andermatt hier – und nur zur Info: Ich bin nicht im Dienst!«

»Wir haben hier einen Notfall!«

»Ich nicht! Ihr vielleicht. Johann, dieses Wochenende gehört meiner Familie.«

»Björn, wir brauchen dich. Geiselnahme im Cube. Steglitz ist doch bei dir um die Ecke. Der Täter hat schon eiskalt zwei Leute erschossen, sich nun im Möhrchen, diesem Bioladen im Erdgeschoss, verschanzt. Er stellt keine Forderungen, die von ihm als Voraussetzung für die Freilassung der Geiseln benannt werden, kein Laut ist zu hören. Wir haben nur die Drohung von ihm, es werde noch viel mehr Opfer geben, und die Aussage, er wolle den Besten. Dich!«, haspelte Johann Steinmann eilig, als fürchte er, Björn könne das Gespräch beenden, bevor er alle Informationen gegeben hatte.

»Was?« Björn zuckte zusammen.

»Er will, dass du den Einsatz übernimmst.«

Andermatts Gedanken überschlugen sich. »Seit wann suchen sich Kidnapper ihre Gesprächspartner bei der Polizei selbst aus? Habe ich da was verpasst? Und woher weiß der Kerl von mir?«

»Wir wissen nichts. Gar nichts. Vielleicht hat er dich ja mal bei einer Liveübertragung von irgendeinem Einsatz gesehen. Alles Spekulation.«

»Wer ist er?«

»Wissen wir auch noch nicht. Er macht keine Angaben. Bisher gibt es nur den Zettel mit der Drohung. Computerausdruck, also vorbereitet. Kein Hinweis auf eine Organisation oder Gruppe von Aktivisten im Hintergrund, für die er stellvertretend Geiseln genommen hat. Komm her, sieh dir das Video an. Dann verstehst du, was das für einer ist. Wir haben erste Opfer – einfach so abgeknallt. Der Kerl ist irgendwie unheimlich.«

»Habt ihr Kontakt?« Der Einsatzleiter seufzte.

»Nein. Wir haben keine Ahnung, wie er reagiert, wenn plötzlich das Telefon klingelt. Und selbst hat er noch keinen Versuch unternommen, uns zu erreichen.«

Björns gute Laune war wie weggeblasen.

»Okay. Ich komme vorbei. Aber nur damit das klar ist – ich lasse mich nicht auf solche Spielchen mit Geiselnehmern ein. Ich sehe mir alles an, aber übernehme nicht den Einsatz. Wer ist vor Ort? Das Center ist evakuiert? Alles abgesperrt?«

»Yupp. Alles gesichert. Tom Sendelmann ist schon hier, Technik steht, SEK hält sich bereit. Und eine Polizeistreife patrouilliert als Sahnehäubchen on top.«

»Bis gleich.«

Mürrisch vor sich hin murmelnd, trocknete Björn sich ab.

Der Millimeterschnitt bedurfte keiner besonderen Zuwendung.

Er schlüpfte schuldbewusst in sein Arbeitsalltagsoutfit. War sich im Klaren darüber, dass er seine Familie enttäuschen musste.

Nicht das erste Mal. Die Kinder würden später über ihn erzählen, dass seine Versprechen nicht die Spucke wert waren, die man brauchte, um sie auszusprechen.

Die Mienen der Kinder verfinsterten sich, als er ins Wohnzimmer trat.

»Papa! Du kannst doch nicht so in den Zoo gehen! Mit der dicken Polizeijacke.« Manja sah ihn flehend an. »Und du willst doch mitkommen?«

Der Vater ging in die Hocke, umfasste mit jeder seiner Pranken zwei Kinderhände. »Doch, ich will. Und das klappt auch. Wir machen es so: Ihr fahrt mit Mama vor und wir treffen uns später bei den Eisbären. Ich komme, so schnell ich kann!«

»Und wie schnell kannst du?«, erkundigte sich Monika, seine Frau. Er hörte die mühsam unterdrückte Wut unter ihren Worten, konnte ihre Enttäuschung physisch spüren.

Schnell richtete er sich auf und schloss die zierliche Gestalt in seine trainierten muskulösen Arme, die ohne Mühe einen Kleinwagen anheben konnten.

»Du hast frei!«, protestierte sie bebend.

»Ja. Das bleibt auch so. Wir haben eine Geiselnahme im Blue Cube«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Der Kerl will mit mir sprechen. Ich aber nicht mit ihm. Sie haben ein Video von der Geiselnahme. Das sehe ich mir an und treffe euch danach bei den Eisbären.«

Im Flur angelte er den Autoschlüssel aus der Schublade, winkte der Familie zu und stürmte los. Ahnte noch nicht, dass er sein Versprechen nicht würde einlösen können.

Schloßstraße

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