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Der Blue Cube.

Schon als das futuristische Bauwerk nur als Architektenentwurf vorlag, hatte es heftige Diskussionen gegeben. Ein dunkelblauer Riesenwürfel, ohne Fenster in der Fassade, mit indirektem Lichteinfall. Massig würde das Center werden, befürchteten viele Berliner, kalt die Außenhaut, abweisend, sachlich, ungemütlich.

Als Björn die Mall im Sonnenlicht des Winters von fern sah, schien keine der Befürchtungen wahr geworden zu sein. Samtig, warm und einladend sah der Komplex aus, der ohne reißerische Aufmachung auskam. Keine Fahnen oder Banner, keine LED-Reklame, blinkend und nervig. Fast geheimnisvoll, dachte Andermatt, verströmte der Blue Cube ein wohliges Gefühl von Geborgenheit und versprach grenzenlose Freude an Entdeckungen, die man hier machen könnte.

Das Ungewöhnlichste: Wenn man an der blauen Fassade entlangschlenderte und stehen blieb, wurde das Blau plötzlich durchsichtig. Gab den Blick frei auf Mode, Schmuck und Accessoires. Schaufenster on demand – sozusagen.

Heute allerdings war alles anders.

Beim Näherkommen blieb von der sonst so einladenden Atmosphäre nichts übrig.

Das beliebte Einkaufscenter in der Schloßstraße wirkte an diesem Morgen gespenstisch – ja beinahe feindselig. Blaulicht zuckte, Polizisten riegelten weiträumig ab. Hektische Betriebsamkeit störte die vorweihnachtliche Stimmung und Konsumlaune.

Björn wies seinen Ausweis vor, wurde durch die Absperrung gewinkt.

Sein Kollege Tom Sendelmann erwartete ihn bereits an einem der hinteren Eingänge, führte ihn durch das Labyrinth von Passagen, Fluren und separaten Treppenhäusern zu den Räumen, die den Besuchern verborgen blieben.

Monitore an den Wänden.

Auf den ersten Blick wirkte es, als habe jemand auf allen Frequenzen das Standbild festgehalten. Björn wusste, dass dieser Eindruck daher rührte, dass sich tatsächlich niemand mehr durchs Haus bewegte. Alles still, seltsam ausgestorben. Wie in den Stunden nach Ladenschluss.

»Also? Was soll ich mir nun ansehen?«

Tom zog ihn zu einem Schreibtisch, auf dem ein Laptop stand.

»Hier. Das sind die Bilder, die eine der Überwachungskameras von der Geiselnahme aufgezeichnet hat.«

Björn beugte sich weit vor.

Wollte sich kein noch so winziges Detail entgehen lassen.

Eine Mitarbeiterin des Bioladens »Möhrchen« schob mit behandschuhten Händen die Glassegmente zur Seite. Kaum war genug Platz, drängten schon die ersten Kunden an ihr vorbei, als überraschend am linken Bildrand vor dem Schaufenster eines Dessousladens eine schwarze Gestalt auftauchte.

Der Blick des Schwarzvermummten ging für den Bruchteil einer Sekunde in Richtung Kamera. Nur ein grün blitzendes Augenpaar. Den Rest verdeckte die Sturmhaube. Das Gewehr lag ihm locker in der Hand, alle Bewegungen waren geschmeidig, entspannt, selbstverständlich. Plötzlich riss er die Waffe mit einem kurzen Ruck zur Hüfte hoch und schoss im Gehen beiläufig zur Seite. So, als spiele er einem Kind den weggerollten Fußball zurück. Er sah nicht einmal hin.

Der Getroffene warf die Arme in die Luft, in seinem Gesicht lag ein Ausdruck grenzenloser Überraschung. Er stürzte zu Boden. Blieb unbeweglich liegen. Andere Passanten rannten schreiend davon, liefen kopflos die Gänge entlang. Kinder wurden gepackt und eilig aus der Gefahrenzone gebracht.

Niemand versuchte, den Schützen aufzuhalten. Keiner eilte dem Opfer zu Hilfe.

»Stopp! Fahr noch mal zurück!«, forderte Björn. »Ich glaube, der Mann hat noch die Lippen bewegt.«

Tom spielte die Sequenz erneut ein.

Ein weiteres Mal wurden sie Zeugen des Sterbens des Passanten.

»Okay. Er hat nur nach dem Warum gefragt«, erkannte Björn und beugte sich noch weiter vor. »Niemand spricht ihn an, alle rennen weg. Panik. Verständlich, wenn man Zeuge einer solchen Aktion wird. Um das Opfer kümmert sich auch niemand, wahrscheinlich dachten alle, es sei ohnehin tot. Die riesige Blutlache spricht auch eher gegen ein Überleben. Woher wisst ihr, dass er mich als Verhandlungspartner will?«

»Kommt gleich.«

Der Schwarzgekleidete trieb die Menschen, die entsetzt aus dem Ladenlokal zu entkommen suchten, wieder zurück hinter die Glassegmente, nötigte Passanten aus dem Gang, das Geschäft zu betreten. Scheuchte sie vor sich her wie Hühner, die abends in den Stall gejagt wurden. Angstvoll wichen die Leute zurück, starrten auf die Waffe in der Hand des Mannes. Der schoss ein zweites Mal wie uninteressiert zur Seite durch den Gang. Ein zweiter Kunde, der versucht hatte, auf diesem Weg zu entkommen, stürzte erst auf die Knie, stützte sich mit den Armen ab, konnte sich dann nicht mehr halten. Ein Schwall Blut quoll aus seinem Mund. Auch er blieb ruhig im Gang liegen. Der Schwarzvermummte wandte nicht einmal den Kopf in seine Richtung. Die Angestellte schob mit zitternden Armen die Elemente an ihren Platz zurück. Mehrfach sah es aus, als wollten ihre Knie den Dienst versagen, als könne sie ohnmächtig werden. Doch schließlich war die Ladenfront wieder komplett geschlossen. Der Unbekannte blieb die ganze Zeit über regungslos stehen, beobachtete das Geschehen, die Waffe locker im Anschlag.

Bevor die letzte Lücke endgültig verriegelt wurde, flatterte ein Zettel zu Boden, blieb neben dem toten Körper liegen.

Danach war alles still.

Die Aufzeichnungen der Kamera zeigten, dass einzelne Mutige sich zu den Körpern wagten, hektisch telefonierten. Und plötzlich setzte mit ohrenbetäubendem Lärm die Alarmanlage ein. Tom stellte auf Schnelllauf. Sanitäter und Notarzt wuselten durchs Bild. Die beiden Opfer wurden hastig geborgen und abtransportiert, Polizisten und Mitarbeiter des Wachschutzes huschten über den Bildschirm, trieben Besucher und Personal vor sich her.

Danach herrschte befremdliche Leere.

»Was stand auf dem Zettel?«, fragte Björn voll böser Ahnung.

»Hier, sieh selbst!« Tom schob ihm sein Mobiltelefon mit der geöffneten Datei des Papierstücks zu.

»Ich spreche nur mit dem Besten! Mehr Tote sind nicht mein Problem!«

»Nicht mein« war zweimal unterstrichen.

»Aha! Gleich ein Versuch, die Schuld für Tote und Verletzte anderen zuzuschieben. Und deshalb musste ich kommen? Wieso glaubt ihr, dass er mich meint?«

Tom Sendelmann grinste schief. »Ach komm! Ist doch klar. Ich meine, wir hätten behaupten können, du seist in Urlaub. Stell dir vor, der Kerl weiß vielleicht, dass das nicht stimmt? Der Beste! Das war der Titel einer Reportage über unsere und speziell deine Arbeit. Der ist leicht im Netz zu finden. Sieh dir die Aufnahme mal weiter an!« Toms Finger bebten leicht, als er damit über den Rand seiner Unterlippe strich.

Tatsächlich kam nach einiger Zeit wieder Bewegung in die Situation.

Das erste Glassegment wurde leicht gedreht. Gab einen Spaltbreit frei.

Eine Person wurde in zusammengesunkener Haltung mit den Füßen voran von mehreren Händen durch den Spalt geschoben. Sobald die Hände losließen, fiel der Körper zur Seite und die Hände rollten den Körper bis auf den Gang.

Leblos.

Eine junge Frau.

Auf ihrer weißen Bluse ein dunkler Fleck, der sich rasch vergrößerte.

Toms Stimme schwankte, als er sagte: »Er vertreibt sich die Wartezeit auf dich mit dem Töten seiner Geiseln. Deshalb bist du hier. Weil du der Beste bist.«

Björn konnte die Augen nicht von dem wachsenden dunklen Fleck losreißen. »Ist sie tot?«

»Ja. So wie die beiden ersten auch.«

»Wer ist das?« Björns Stimme klang heiser. Er griff nach einer Wasserflasche, trank einen großen Schluck.

»Bisher haben wir keine Erkenntnisse dazu. Kein klärendes Schreiben, in dem jemand die Verantwortung übernimmt, keinen erläuternden Bekenneranruf – nichts.«

»Wie ist er reingekommen?«

»Auch das ist noch nicht sicher geklärt. Wir werten natürlich gerade alle Aufnahmen aus, auch vom Bereich der Zulieferzone.«

»Okay. Der Typ bewegt sich völlig locker und entspannt, selbstbewusst. Vielleicht ein klein wenig unrund in der Drehung. Hat keinen Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns. Ich gehe davon aus, dass er stolz darauf ist, die Lage dominieren zu können, alles im Griff zu haben. Vielleicht ist er davon überzeugt, dass sein Motiv diese Morde rechtfertigt. Er schießt tödlich, ohne anzuvisieren, aus der Hüfte. Gut ausgebildet. Scharfschütze? Armee? Polizei? Grenzschutz? Wann taucht er zum ersten Mal sicher auf den Videos auf?«

Tom tippte eine Adresse ein.

Ein neues Video öffnete sich.

»Hier. Das ist eine Aufzeichnung aus dem Personalbereich. Eigentlich hat dort kein Unbefugter Zutritt. Er hat die Waffe nicht in der Hand, nur der Gurt spannt über seiner Brust. Allein seine Erscheinung hätte allerdings stutzig machen müssen.«

»Er versucht nicht, sich zu verbergen!«, knurrte Björn. »An Tagen wie diesen wäre ein Weihnachtsmannkostüm die perfekte Verkleidung gewesen. Aber nein! Er will gesehen werden. Er zögert nicht eine Sekunde, bewegt sich so, dass niemand wagt, ihn anzusprechen. Arrogant, abweisend, narzisstisch. Für mich sieht es aus, als habe er sich extra für uns dort von der Kamera entdecken lassen. Er zeigt uns seine Unerschrockenheit, seine Entschlossenheit. Wir sollen wissen, dass er uns nicht fürchtet, weil er überlegen ist.«

»Ja, das könnte gut sein. Er verschwindet nämlich danach auch wieder. Wir können allerdings ausschließen, dass er mit den ersten Kunden in den Cube drängte. Die Aufnahmen von den Eingangsbereichen für Kunden haben wir schon ausgewertet.« Tom zuckte mit den Schultern. »Er wäre sofort aufgefallen. Das Outfit …«

»Er hat sich liefern lassen?« Björns linker Augenwinkel zuckte.

»Das checken wir gerade.«

»Das Gewehr – eine Kalaschnikow, oder? Ist nicht klar zu erkennen. In Berlin bekommst du das Ding an so gut wie jeder Ecke, behaupten jedenfalls die Judoschüler meiner Frau. Oder problemlos im Darknet. Zuverlässige, präzise Waffe. Er überlässt nichts dem Zufall. Er wählt einen Laden, dem gegenüber eine Videokamera installiert ist. Wenn er Zugang zum System hat, überblickt er genau, was vor seiner Tür abgeht – was im gesamten Haus vor sich geht.«

»Ihr meint, er guckt uns über die Schulter?«, erkundigte sich Johann Steinmann beim Leiter des Security-Teams des Cube besorgt. »Er sieht, was wir sehen? Dann hat er dich auch kommen sehen?«, fragte er an Andermatt gerichtet.

»Ja. Allerdings sehe ich aus wie viele der anderen Leute, die sich im und ums Gebäude bewegen. Ich gehe davon aus, dass er sich ins System eingehackt hat. Vielleicht musste er das aber auch gar nicht. Jeder Laden hat eine eigene Überwachung?«

Der Teamleiter der Center-Security nickte. »Klar. Die sehen ihre Filiale. Innenraumüberwachung. Standard. Ich gucke schon nach, ob er sich ins Gesamtsystem gehackt hat. Dauert ein bisschen, das System checkt auch die IP-Adressen der User. Normalerweise braucht er ein Passwort …«

»Das Letzte, was wir von ihm sehen, ist das Betreten des Ladens und die Angestellte, die die Segmente schließt. Warum sehen wir ihn jetzt nicht mehr?«

»Entweder hat er die Kamera ›gekillt‹ oder die Innenraumüberwachung ausgeschaltet, was natürlich eleganter wäre. Dabei wird ihm die Angestellte geholfen haben. Wir checken das gerade.«

»Er will nicht, dass wir wissen, was im Geschäft vor sich geht, ist andererseits natürlich brennend daran interessiert zu erfahren, was wir so treiben. Deshalb müssen wir ihm vorgaukeln, dass er uns beobachten kann, ihm aber real jede Chance dazu nehmen«, entschied Björn sachlich.

Johann, der Jüngste im Team, verfärbte sich blass-grünlich. »Das merkt der doch!«

Tom warnte: »Wenn er mitkriegt, was wir da tun, bringt er eiskalt den Nächsten um!«

»Oder der rastet völlig aus!«, presste Johann hervor. »Bringt alle um.«

»Dann müssen wir es eben geschickt genug anstellen!« Björn wandte sich an den Mitarbeiter der Überwachungsfirma. »Ruckelt die Anlage, wenn wir die Kameras auf Standbild schalten?«

»Ja. Ganz leicht, wenn wir den Modus ändern. Wenn der Kerl wirklich zuguckt, dann sieht er, was Sie vorhaben.«

»Können Sie feststellen, ob und wie weit er sich Zugriff auf die Daten verschafft hat?«

»Wir prüfen das gerade. Wie gesagt, das dauert ein bisschen.«

»Das ist zu gefährlich, Björn. Wir wissen ja nicht einmal, wie viele Geiseln er genau in seiner Gewalt hat.« Tom trommelte mit den Fingern einen nervösen Rhythmus auf der Tischplatte.

»Fünfunddreißig plus Personal.« Björn wandte sich wieder an den Angestellten der Firma. »Wie viel Personal ist normalerweise in diesem Bioladen? An einem Tag wie heute?«

»Zwei.«

»Innenraumüberwachung ist off.« Ein weiterer Mitarbeiter der Center-Security rief die Information über seine Schulter.

»Fünfunddreißig Kunden und zwei Personen vom Personal sind siebenunddreißig.«

»Woher weißt du so genau, wie viele Kunden …«

»Ich habe sie gezählt. Geht bei mir ganz automatisch. Eine Geisel hat er uns erschossen vor die Füße rollen lassen – bleiben also sechsunddreißig Menschen in seiner Gewalt.«

»Sechsunddreißig mögliche Todesopfer«, murmelte einer der Männer aus dem Security-Team.

Björn sah in die Runde. »Wenn wir etwas unternehmen, können wir alle oder viele retten. Unternehmen wir gar nichts, sind wahrscheinlich alle verloren. Also werden wir nun wieder die Führung in dieser verflixten Lage übernehmen.«

Er baute sich in eindrucksvoller Pose vor dem Team auf. »Während wir in den anderen Modus schalten, müssen wir ihn ablenken. Das bedeutet, dass vor seiner Tür ein Manöver gestartet wird, um seine Aufmerksamkeit zu fokussieren. Und eines danach. Damit er keinen Verdacht schöpft. Falls er das Hakeln bemerkt, vor seiner Tür aber Bewegung ist, wird er dem Ruckeln vielleicht keine Bedeutung beimessen. Erst dann, wenn er uns nicht mehr beobachten kann, wird es für uns möglich, aus einem der Nachbargeschäfte Sonden anzubringen, damit wir dauerhaft hören und sehen können, was da drinnen passiert. Also, her mit euren Ideen!«

Schloßstraße

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