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1. Apologie des Sokrates
ОглавлениеIn einem aus drei Reden bestehenden Zyklus nimmt Sokrates vor dem Athener Gericht zur Anklage Stellung, die Jugend verdorben und die Gottlosigkeit (asébeia = (ἀσέβεια) verkündet zu haben. Indes will Sokrates sich nicht im eigenen Interesse verteidigen, um sein Leben zu retten. Vielmehr ist er als wahrhaftig kundiger Seelsorger bemüht, die Seelen der Richter vor der Schuld eines Fehlurteils zu bewahren. Somit vertauschen sich unter der Hand die Rollen: Aus den Anklägern werden Angeklagte, während umgekehrt aus dem Angeklagten der Ankläger im Namen der Wahrheit wird. Gleich zu Beginn beruft sich der angeklagte Sokrates darauf, die Wahrheit zu reden, während seine Ankläger in Athen nichts Wahres sagen:
„Was für einen Eindruck meine Ankläger auf euch gemacht haben, ihr Athener, weiß ich nicht; was mich betrifft, so habe ich jedenfalls bei ihren Worten beinahe meiner selbst vergessen. So überzeugend klang, was sie sagten. Und doch haben sie sozusagen kein wahres Wort gesprochen. … Sie haben also, behaupte ich, so gut wie kein wahres Wort gesagt; von mir aber sollt ihr die ganze Wahrheit hören.“4
Die ganze Wahrheit wird hier indes mit der Glaubwürdigkeit und ethischen Redlichkeit von Sokrates begründet, ohne dass über das Wesen der Wahrheit eigens nachgedacht werden müsste. So genügt es, dass die Wahrheit durch Sokrates’ Reden verbürgt wird, denn des wahren Redners Aufgabe und Pflicht besteht doch darin, „die Wahrheit zu reden“.5 Für Platon ist es zweifelsfrei, dass die Rede des Sokrates für die reine Wahrheit steht, welche die Athener aus seinem Munde hören werden. Mit Überzeugung bekundet daher Sokrates:
„So hört denn. Vielleicht werden einige von euch glauben, ich scherze. Ich sage aber die volle Wahrheit.“6
Dennoch wird Sokrates vom Gericht schuldig gesprochen und mit dem Tode bestraft. Und hier, bei dem scheinbar größten Übel für den Menschen, nämlich sein Leben gewaltsam zu verlieren, zeigt sich zum einen die wahre Größe und Seelenbildung des todgeweihten Sokrates, zum anderen aber die Bosheit derjenigen, die sich der verkündeten Wahrheit bewusst verschlossen haben. So resümiert Sokrates, den eigenen Tod vor Augen:
„Nicht dies dürfte schwierig sein, ihr Athener, dem Tode zu entrinnen, sondern viel schwerer ist es, die Schlechtigkeit zu vermeiden; denn sie läuft schneller als der Tod. Nun aber hat mich, weil ich langsam und alt bin, das Langsamere von beiden, nämlich der Tod, eingeholt; meine Ankläger aber, kräftig und flink, wie sie sind, wurden von dem Schnelleren, der Schlechtigkeit, ereilt. Und nun gehen wir so von dannen: ich des Todes schuldig gesprochen, diese von der Wahrheit der Schlechtigkeit und der Ungerechtigkeit schuldig erklärt; und bei diesem Urteil bleiben wir beide. Vielleicht mußte das so sein, und ich glaube, daß es so richtig ist.“7
Wer nicht aus der reinen Wahrheit heraus lebt, wie dies die Ankläger des Sokrates tun, wird von der Wahrheit selbst der Ungerechtigkeit angeklagt. Da indes Sokrates aus der Wahrheit heraus lebt und denkt, somit seine Seele im wahrhaft Guten bestellt ist, gewinnt er eine Lebensgewissheit, die über den physischen Tod hinausweist und das Sterben gar als Gewinn ausmachen kann. Findet doch im Tod ein Umzug der Seele in die himmlischen Sphären statt, an dem der Leib keinen Anteil haben kann. So verkündet Sokrates, aus dem Geist der Wahrheit kommend, seinen Richtern:
„Aber auch auf folgende Art wollen wir erwägen, wie sehr wir hoffen dürfen, daß der Tod etwas Gutes sei. Er ist nämlich eines von beiden: entweder wie ein Nichts-Sein, so daß der Tote auch keine Wahrnehmung mehr von irgendeiner Sache hat; oder dann ist er, wie die Überlieferung sagt, ein Übergang und eine Übersiedlung der Seele von dieser Stätte an eine andere. Wenn nun gar keine Empfindung mehr vorhanden und wenn der Tod wie ein Schlaf ist, wo der Schläfer nicht einmal träumt, dann wäre er wohl ein wunderbarer Gewinn. … Ist dagegen der Tod gewissermaßen eine Reise von hier an einen anderen Ort und stimmt das, was man sagt, daß dort alle Verstorbenen versammelt sind, was könnte es dann für ein größeres Glück geben als dies, ihr Richter? … Sich mit diesen zu unterhalten, mit ihnen zusammenzuleben und sie zu prüfen, das wäre wohl eine unbeschreibliche Glückseligkeit. … Aber auch ihr sollt dem Tode gegenüber zuversichtlich sein, ihr Richter, und müßt vor allem das als wahr erkennen, daß es für einen guten Menschen kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tod, und daß auch die Götter seinem Schicksal gegenüber nicht gleichgültig sind. Auch das meinige hat jetzt nicht zufällig diese Wendung genommen, sondern es ist mir ganz klar, daß es nun am besten für mich ist, zu sterben und die Sorgen los zu werden. … Aber nunmehr ist es Zeit, daß wir gehen, ich, um zu sterben, ihr, um zu leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, das weiß niemand als der Gott allein.“8
Sokrates bezeugt angesichts seines bevorstehenden Todes hoffnungsvoll die Wahrheit. Seine Wahrheitsrede will zudem in ein wahrhaftiges Leben einweisen, für das es kein Übel gibt: weder im Leben noch im Tod. Diese Haltung kann als Tugendleben begriffen werden, welches sich von den Verleumdungen seiner Ankläger positiv abhebt: Mithilfe dieses guten Lebens könne zu Lebzeiten schon der erstrebenswerte Gewinn des göttlichen Geheimnisses ausgemacht werden: die Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele als ewige Glückseligkeit (eudaimonía = εὐδαιμόνὶα).
Der von Platon aufgewiesene Zusammenhang zwischen dem Redezeugnis des Sokrates und der ganzen Wahrheit zeigt sich auch im Dialog Gorgias.