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2. Gorgias
ОглавлениеDer Dialog Gorgias (oder über die Redekunst) greift Platons Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik auf. Diese war, allgemein gesprochen, bemüht, im Stil der rhetorisch geschickt aufgebauten Prunkrede Wissen als Machtmittel einzusetzen. Infolgedessen entschied die Sophistik das Verhältnis von gesellschaftlichem Brauch und Naturrecht – als Recht des Stärkeren – zugunsten des Letzteren. Damit war auf der einen Seite das Vorrecht des Individuums gegenüber der Gesellschaft gedanklich geboren worden, auf der anderen Seite mündete aber dieses Denken in den Relativismus und Nihilismus. Platon ist nun bemüht zu zeigen, dass der Mensch sich zwischen zwei grundsätzlichen Lebensweisen zu entscheiden hat. So geht es in diesem Dialog um die Frage, was für den Menschen das Vorzugswürdigere sei: Das reine machtpolitische Streben, das mithilfe der Redekunst nach Gutdünken gerechtfertigt werden kann, oder das Leben in ethischer Integrität, das nur über den Weg philosophischer Wahrheitsliebe zu gewinnen ist. Diese Frage erörtert Sokrates nun vornehmlich mit dem Rhetoriklehrer Gorgias, dessen Schüler Polos und dem Politiker Kallikles. Für uns von Interesse ist hier das Gespräch zwischen Sokrates und Kallikles.
In diesem wird zunächst die von Sokrates gegenüber Polos vertretene These aufgegriffen, dass das Gute das Maß allen Handelns zu sein hat. Deswegen formuliert Sokrates auch die Maxime, dass Unrechttun schädlicher ist als Unrechterleiden. Denn für den Täter ist doch das getane Unrecht ein Schaden an seiner Seele, während das Opfer durch das erlittene Unrecht keinen Schaden an seiner Seele nimmt. Folgendes Gespräch will dies verdeutlichen:
„SOKRATES: Wohlan denn, was sagten wir doch eben vom Unrechttun und vom Unrechtleiden? Hast du nicht behauptet, es sei schlimmer, Unrecht zu leiden, aber häßlicher, Unrecht zu tun?
POLOS: So sagte ich.
SOKRATES: Nicht wahr, wenn das Unrechttun häßlicher ist als das Unrechtleiden, dann ist es doch wohl auch schmerzlicher, nämlich darum häßlicher, weil es durch den Schmerz oder durch das Übel oder durch beides überwiegt? Auch das muß doch so sein?
POLOS: Allerdings.
SOKRATES: So wollen wir also zunächst prüfen, ob das Unrechttun das Unrechtleiden an Schmerzen übertrifft und ob die, die Unrecht tun, mehr leiden als die, denen Unrecht getan wird?
POLOS: Das ist auf keinen Fall so, Sokrates.
SOKRATES: Es überwiegt also nicht durch Schmerz?
POLOS: Durchaus nicht.
SOKRATES: Wenn nicht durch Schmerz, dann kann es doch auch nicht mehr durch beides überwiegen.
POLOS: Offensichtlich nicht.
SOKRATES: Es bleibt also nur: durch das andere.
POLOS: Ja.
SOKRATES: Durch das Übel.
POLOS: Offenbar.
SOKRATES: Wenn es aber durch das Übel überwiegt, dann muß doch wohl das Unrechttun schlimmer sein als das Unrechtleiden?
POLOS: Das ist klar.“9
Der dem allen hier zugrunde liegende Kerngedanke ist das Maß des Schönen als des Guten, welches das Unrechtleiden als das Schönere gegenüber dem Unrechttun erweist. Indes überzeugt dieser Gedanke nur, wenn er aus der Wahrheit heraus formuliert worden ist. So muss Sokrates im Gespräch mit dem Politiker Kallikles diese These nochmals bewähren. Denn Kallikles versteht sich als Realpolitiker, der die von Sokrates vorgetragenen philosophischen Überlegungen in Bezug auf Politik schlicht für Narretei hält. Sokrates hingegen ist von der Wahrheit seiner Rede überzeugt:
„So höre denn – wie man zu sagen pflegt – einen sehr schönen Logos (= vernünftige Rede). Du wirst ihn zwar, wie ich glaube, für einen Mythos halten, ich halte ihn für einen Logos; denn was ich dir jetzt berichten will, erzähle ich dir als etwas, was wahr ist.“10
Die nun folgende Erzählung beschreibt ein von Zeus verhängtes Totengericht, welches die Seelen der Verstorbenen ohne Ansehen der Person nach ihren Werken richtet: Sind diese gut gewesen, so gelangen diese Seelen auf die Insel der Seligen, sind diese aber böse und schlecht gewesen, so werden diese Seelen in einen noch unter der Unterwelt gelegenen ewig modrigen, dunklen und schauderhaften Raum, den Tartaros, verbannt.11 Diese vollständig seiende Wahrheit hat demnach mit einem metaphysisch unbestechlichen Wissen darüber zu tun, wie sich die Seele des Menschen zeitlebens in ethischer Verantwortung mit Blick auf das Totengericht zu bewähren hat. So bekennt Sokrates freimütig:
„Das ist es, Kallikles, was ich gehört habe, und ich glaube, es ist wahr.“12
Diese erkannte und von Sokrates verkündete Wahrheit lässt die Seele des Menschen gesunden, so diese in der Wahrheit aufgewachsen ist. Geschieht dies gleichwohl nicht, so wird die Seele krank und hässlich,
„weil sie ohne Wahrheit aufgewachsen ist. Und er (= der Totenrichter) sieht, wie die Seele durch Willkür, Üppigkeit, Übermut und Unbesonnenheit im Handeln mit Maßlosigkeit und Schändlichkeit beladen ist.“13
Das Ziel von Platons Dialog Gorgias kann darum mit dem Stichwort „Seelsorge“ umschrieben werden, die Sokrates in seiner Gestalt und mit seiner philosophischen Tugendethik zur Gesundung und Heilung den kranken Seelen seiner Gesprächspartner angedeihen lassen will. Dies gelingt aber nur deswegen, weil Sokrates mit Leib und Seele der Wahrheit verpflichtet ist, wie am Ende des Dialogs deutlich wird:
„Was nun mich betrifft, Kallikles, so habe ich mich durch diese Geschichten überzeugen lassen und trage Sorge, daß ich mit möglichst gesunder Seele vor dem Richter erscheinen kann. Die Ehren, die bei der Menge gelten, lasse ich fahren und bemühe mich, indem ich nach der Wahrheit forsche, wirklich so gut als möglich zu sein, im Leben und, wenn ich dereinst sterben muß, auch im Tode. Ich ermahne aber auch alle meine Mitmenschen, soweit ich kann, und namentlich dich ermuntere ich zu dieser Lebensweise und zu diesem Kampfe, der, wie ich glaube, wichtiger ist als jeder andere Kampf in diesem Leben.“14
Hier ist der Zusammenhang zwischen dem Seelsorger Sokrates, seiner Wahrheitsliebe und seinem tugendhaften Leben zu greifen. Mit seiner beharrlichen und allgegenwärtigen Wahrheitssuche, immer wieder im Gespräch als tí-estin-Frage (was ist es?) vorgetragen, will Sokrates alle unwahren Vorurteile überwinden. Denn er ist überzeugt, dass die höchstmöglichste, richtige (Er-)Kenntnis der Wahrheit zwangsläufig zu ethisch rechtem Handeln führt, das die Seele gesunden lässt. So aber wird ersichtlich, dass die Wahrheit bei Platon mit dem Besten für das Leben und Sterben zusammenfällt, mithin also eine himmlische Qualität hat.