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Nous und wahres Sein:
Parmenides

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Die hiermit von Heraklit vorgenommene Funktionsbestimmung des Nous, die grundlegenden Strukturen des Kosmos, die wahre, hinter den Erscheinungen liegende, den meisten Menschen verborgene Wirklichkeit zu erfassen, lässt sich auch bei seinem Zeitgenossen Parmenides (ca. 540–480 v. Chr.) aus Elea, das im heutigen Süditalien lag, wiederfinden. Das Lehrgedicht des Parmenides Über das Sein beziehungsweise Über das Seiende trennt scharf zwischen dem Weg der Wahrheit und den Meinungen, die die Menschen von den Dingen haben, der Doxa. Ähnlich wie auch Heraklit gibt er sich überzeugt, nur die wenigsten Menschen beschritten den Weg der Wahrheit, wohingegen ihre überwiegende Mehrzahl auf ihrer Meinung beharrten, mithin in der Doxa verharrten.37 Für Parmenides nun heißt Denken beziehungsweise Erkennen – noein – immer etwas denken (bzw. erkennen). Für ihn ist es daher unmöglich, dass es ein Denken gibt ohne ein Objekt, auf das sich das Denken bezieht. Dieses Objekt ist das Eón, wie es bei ihm heißt: ‚das Seiende‘, das von Parmenides begriffen wird als ein nicht entstandenes, unvergängliches, sich nie veränderndes, in sich ruhendes Seiendes. Da es außer diesem Eón für Parmenides schlechterdings nichts anderes gibt, ist es das einzige Objekt, mit dem es das noein, das Denken, zu tun hat. Parmenides fasst diesen Sachverhalt in die Formulierung zusammen: Dasselbe ist Denken und der Gedanke, dass das Seiende ist.38

Damit ist für ihn zugleich gesagt: Wenn die Sterblichen von Werden und Vergehen, von Sein und Nichtsein, von Ortsbewegung und Zustandsveränderung – zum Beispiel der Veränderung der leuchtenden Farbe – reden, dann gebrauchen sie bloße Namen. Zwar sind sie überzeugt, das, was sie da in ihrer Sprache festgesetzt haben, sei wahr; doch demjenigen, der die Wahrheit über das Seiende erfasst hat, enthüllt sich, dass aller Wandel, alles Werden und Vergehen, all die Veränderungen, die wir, fest auf unsere Sinne vertrauend, wahrzunehmen meinen, nichts als Schein und Täuschung sind. Der Weg, den die Mehrheit der Sterblichen einschlägt, führt niemals zur Wahrheit über das Seiende. Er verleitet uns lediglich zu Meinungen, zu einer für Parmenides nicht sonderlich verlässlichen Form des Sichäußerns über die Dinge. Er führt geradewegs in die Doxa.

Auf diese Weise erklärt Parmenides unser alltägliches Weltverständnis, dem zufolge wir doch ständig Veränderungen wahrzunehmen meinen, zu bloßem Trug und bloßer Illusion. Ohne Frage ist das eine ziemliche Zumutung für unseren Alltagsverstand und unseren alltäglichen Umgang mit den Dingen. Und dennoch hält Parmenides unbeirrt daran fest: Diejenigen, die über Nous verfügen, die also auf das noein, das reine Denken, vertrauen, würden all solche vermeintlichen Veränderungen und Bewegungen als chimärisches Blendwerk durchschauen und die wahre Wirklichkeit – sprich das eine, in sich ruhende, statische Seiende – erfassen. Dergestalt erhält der Nous von Parmenides die Aufgabe zugesprochen, „in direktem Kontakt mit der letzten Wirklichkeit zu stehen“, wie Kurt von Fritz zusammenfasst. Zwecks Verdeutlichung des Parmenideischen Denkansatzes setzt er hinzu: Der Nous erreicht diese letzte Wirklichkeit nicht erst am Ende und als Ergebnis eines logischen beziehungsweise Denkprozesses, „sondern ist gewissermaßen mit ihr von Anfang an in Verbindung, da es, wie Parmenides immer wieder betont, keinen nóos ohne das eón, in dem er sich selber entfaltet, gibt“.39

Dazu kommt ein weiteres, für die nachfolgende Entwicklung des Geistbegriffs wesentliches Moment: Parmenides nämlich ist der erste Autor, der bewusst logisches Schließen in die Tätigkeit des Nous einbezogen hat. Seine unmittelbaren Schüler Zenon (ca. 490–430 v. Chr.) und Melissos (5. Jh. v. Chr.) haben dieses Moment aufgegriffen und weiterverfolgt und die Unterscheidung zwischen sinnlicher Wahrnehmung – Aisthesis – und logischem Schließen maßgeblich vorangetrieben. Sinnfällig wird das in den Paradoxien Zenons, etwa der wohl bekanntesten vom Wettlauf des Achill mit der Schildkröte. Die Schildkröte, die von Achill einen Vorsprung eingeräumt bekommt, wird, wie Zenon mittels seines Nous logisch schließend darlegt, nie eingeholt, geschweige denn überholt werden können, da sie, während Achill den ihr gewährten Vorsprung durcheilen muss, bereits ein Stück weiter gekrochen ist. Und während Achill diese Strecke durchmisst, hat sich die Schildkröte wiederum nach vorn bewegt – und so weiter. Unserer alltäglichen Wahrnehmung entsprechend wird die Schildkröte von Achill indessen sehr rasch eingeholt und überholt werden. Wem sollen wir nun mehr vertrauen: der Aisthesis oder dem Nous? Für Zenon als Gefolgsmann des Parmenides ist die Entscheidung klar: dem Nous natürlich – und sei es auch um den Preis, dass wir an unserem alltäglichen, stark von der Aisthesis geprägten Weltverständnis irre werden.

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