Читать книгу Handbuch der Philosophie des Geistes - Friedhelm Decher - Страница 17
Der Geist als Teil und Funktion der Seele Nous als Teil der Psyche: Platon
ОглавлениеPlaton, dessen Lebenszeit die Jahre zwischen 427 und 347 v. Chr. umfasst, hat eine ausgefeilte Seelenlehre entworfen, die, von einigen verstreuten Überlegungen früherer Denker abgesehen, als der erste eigenständige Entwurf einer Psychologie im Abendland gelten kann. Geistesgeschichtlich gesehen sind seine Ausführungen allein schon deswegen von außerordentlicher Bedeutung geworden, weil er die Ansicht von der Unsterblichkeit und Immaterialität der Seele vertrat, eine Ansicht, die hervorragend mit Glaubenslehren zusammenpasste, die ein halbes Jahrtausend später von dem sich konsolidierenden Christentum vertreten wurden. Wenn nun Platon in verschiedenen seiner Dialoge – hier sind etwa Menon, Phaidon, Phaidros, Symposion und Politeia anzuführen – die Seele, die Psyche, als etwas begreift, das unabhängig vom Körper existiert und sich nur während der Spanne eines Lebens mit ihm verbindet, aber, anders als der Körper, nicht sterblich ist, so konfrontiert das uns Heutige mit zwei Schwierigkeiten. Erstens wird sich, da der Gesprächspartner in Dialogen wie den erwähnten Sokrates ist, wohl nie endgültig klären lassen, was von dem, was Sokrates sagt, von Platon als Bericht über sokratische Ansichten gedacht oder was seine, Platons, Überzeugung ist. Zweitens ist in einigen dieser Dialoge die Rede von ‚Beweisen‘ für die Unsterblichkeit und Immaterialität der Seele. Dies jedoch sollte man nicht zu wörtlich nehmen, können sie doch kaum als stringent argumentative Beweise für die behauptete Unsterblichkeit und Immaterialität der Psyche gelten.
Die zentralen Thesen, die Platon seinen Sokrates in jenen Dialogen vertreten lässt, behaupten zusammengefasst: Die Seele des Menschen ist unsterblich, sie geht niemals unter. Im Tod trennt sie sich vom Körper und wird mehrfach wiedergeboren, das heißt in einem anderen Körper reinkarniert. Vor ihrer Geburt, also vor ihrer Reinkarnation in einem neu en Körper, besitzt die Seele ein umfangreiches Wissen, wird es ihr während ihrer körperfreien Existenz doch gestattet, die am ‚überhimmlischen Ort‘ präsenten Ideen zu schauen. Diese Ideen sind die mit den Sinnen nicht wahrnehmbaren, ewigen und unveränderlichen Urbilder all der Gegenstände und Sachverhalte, die uns in unserer Welt, die wir mittels unserer Sinne auffassen, begegnen. Vor ihrer erneuten Verbindung mit einem Körper muss die Seele den Lethefluss, den Fluss des Vergessens, durchschwimmen. Dabei geht all ihr aufgrund der Ideenschau erworbenes Wissen verloren. Demnach ist die Wiederverkörperung einer Seele gleichbedeutend mit Wissensverlust. Jenes vorgeburtlich erworbene Wissen gilt es sich im Zuge von Erziehung und Bildung, so gut es eben geht, wieder anzueignen. Lernen ist so gesehen im Grunde ein Sich-Wiedererinnern an das vorgeburtliche Wissen, ist, mit dem Begriff, den Platon in diesem Zusammenhang verwendet, Anamnesis: Wiedererinnerung.
Wo nun ist im Kontext dieser Thesen über Unsterblichkeit, Immaterialität und Reinkarnation der Seele der ‚Geist‘ zu verorten? Nun, hierauf antwortet Platon: Der Geist, der Nous, ist ein Teil der Seele, der Psyche (die bei ihm, wie in der antiken griechischen Welt üblich, als das belebende Prinzip angesehen wird). In seinem großangelegten Dialog Politeia, der um die Frage der Gerechtigkeit und des besten Staats kreist, hat Platon eine Dreiteilung der menschlichen Seele vorgenommen.1 Und zwar strukturiert sich seiner Überzeugung nach die Seele analog derjenigen des Körpers. Diesen unterteilt die antike Medizin in die drei Teile Kopf, Brust und Unterleib. Diesen drei Körperteilen ordnet Platon nun drei Seelenteile zu: Dem Kopf entspricht der Geist oder die Vernunft (also der Nous), der Brust der ‚zornige Drang‘ (der Thymos), und dem Unterleib sind die Begierden (die Epithymiai) zugeordnet. Der Nous, so erläutert Platon diese Dreiteilung näher, ist der vernünftig denkende Seelenteil, also derjenige, mit dem die Seele überlegt. Der Thymos macht jenen aus, mit dem wir uns, wie es bei Platon heißt, ereifern. In neuzeitlicher Begrifflichkeit formuliert repräsentiert dieser Seelenteil den Willen zum Leben, die Lebenskraft, den Eifer, das Streben, das uns Antreibende, das uns Motivierende. Und die Epithymiai schließlich, die Begierden, bilden denjenigen Part der Seele, mit dem die Seele beispielsweise liebt und hungert und dürstet, generell, wie Platon meint, auf beständige Erregung aus ist.
Für Platon ist es evident, dass es zwischen diesen drei Seelenteilen zu Konflikten kommen kann. So kann zum Beispiel der vernünftige Seelenteil, der Nous, mit den Begierden in Streit geraten. Der Geist beziehungsweise die Vernunft liegt dann mit den Lüsten im Clinch. Oder aber der Thymos gerät zuweilen mit den Begierden aneinander. Allerdings, glaubt Platon, könne in der menschlichen Seele nicht alles mit allem im Kampf liegen. Offensichtlich ist, wie er betont, weil es sich allerorten beobachten lässt, dass Nous und Epithymiai einander oftmals widerstreiten, ja sich regelrecht bekriegen können. Der Thymos hingegen, so lehrt die Platonische Psychologie, könne nicht dem Nous zuwiderhandeln. Von der Sache her liegt das eigentlich auf der Hand, bedarf doch der Nous des Antriebs, um überlegen und nachdenken zu können. Würde er das, was ihn antreibt, bekriegen, so würde er seine eigenen Existenzbedingungen kappen.
Auf diese Weise entfaltet Platon eine Lehre von der Psyche, die der alltäglichen Erfahrung, dass und wie konfliktbeladen unser Seelenleben zuweilen ist, Rechnung trägt. Zugleich aber ist sie geleitet von einem Ideal, nämlich dem harmonischen Zusammenspiel der drei angeführten Seelenteile. So, wie der menschliche Körper dann gesund ist, wenn sich seine einzelnen Teile in Einklang miteinander befinden, so ist die menschliche Psyche dann intakt, wenn ihre drei Teile miteinander harmonieren, wenn sie zusammenstimmen. Ist diese Harmonie gestört, etwa wenn zwei Seelenteile miteinander im Streit liegen, dann stimmt etwas nicht mit der betreffenden Seele, dann kommt es zu psychischen Defekten und Ausfallerscheinungen, dann ist die Seele krank.
Und nur wenn die Seele gesund ist, so kann man Platon hier weiterdenken, ist der Nous in der Lage, seiner Aufgabe des Überlegens und Nachdenkens nachzukommen, deren höchste Leistung Platon im Erfassen der Ideen erblickt. Solches Erfassen der Ideen ist für ihn nur im Zuge eines unsinnlichen Akts möglich. Die Sinne sind hierfür nicht geeignet, begreift er sinnliche Wahrnehmung doch als einen materiellen Vorgang. Einzig der Nous ist zu intelligibler Erkenntnis fähig, und zwar ist er dazu fähig, weil er als Teil einer als unsterblich und immateriell gedachten Seele im vorgeburtlichen Zustand die Ideen auf eine nichtsinnliche, irgendwie ‚intelligible‘ Art – die Platon nicht näher erläutert – geschaut hat. Dergestalt wird der Nous als Teil einer Seele konzipiert, die allein schon aus dem Grund – und vielleicht auch noch aus anderen Gründen – als unsterblich und immateriell begriffen wird, weil Platon so das Wissen von den und die (Wieder-)Erkenntnis der Ideen meint verständlich machen zu können.