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Die Entdeckung des Geistes in der griechischen Antike Psyché, Thymós und Nóos bei Homer

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Unser europäisches Denken nimmt seinen Anfang in der griechischen Antike. Die griechische Welt hat nicht nur Philosophie, Wissenschaft, Argumentationsformen und bestimmte Methoden des Denkens, wie etwa logische Verfahren, entwickelt. Darüber hinaus hat sie – abgesehen von den vorhin erwähnten ägyptischen Vorläufern – in einem gewissen Sinn die menschliche Seele und den menschlichen Geist als tätigen, suchenden und forschenden Geist ‚entdeckt‘ und das, was wir ‚Denken‘ nennen, allererst geschaffen. Dem liegt, wie Bruno Snell in seinem grundlegenden Werk Die Entdeckung des Geistes herausgearbeitet hat, „eine neue Selbstauffassung des Menschen“ zugrunde.

Nun freilich: Was heißt hierbei ‚entdeckt‘? Snell hat das einmal so verdeutlicht: Dieser Prozess der Entdeckung des Geistes „ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika ‚entdeckt‘: Amerika existierte auch vor der Entdeckung, der europäische Geist aber ist erst geworden, indem er entdeckt wurde; er existiert im Bewußtsein des Menschen von sich selbst“.1 Streng genommen wurde der Geist von den Griechen erst in nachhomerischer Zeit entdeckt, genauer gesagt: in dem Zeitraum, der das achte bis zweite Jahrhundert vor Christus umspannt. Gleichwohl ist ‚Geist‘ in einem spezifischen Sinn auch schon für Homer da, jedoch eben nicht unter diesem Namen. Dasjenige, was die Griechen in der Folgezeit dann als ‚Geist‘ bezeichneten, war vorher in anderer Form interpretiert worden – und existierte deshalb wohl auch in anderer Form. Nur deshalb kann man ja auch von einer ‚Entdeckung‘ des Geistes sprechen. Damit ist zu bedenken gegeben: Die Homerischen Menschen, wie sie uns in der Ilias und der Odyssee, den ältesten Epen der europäischen Kultur, begegnen, kannten einen Geist im Sinne eines tätigen, suchenden und forschenden Geistes ebenso wenig, wie ihnen eine Seele im Sinne einer empfindenden, fühlenden oder denkenden Seele bekannt war. Das bedeutet nun aber keineswegs, die Homerischen Menschen hätten nicht an etwas denken oder sich nicht freuen können. So etwas zu behaupten, wäre, wie Snell betont, „absurd“.2 Dennoch wird dergleichen von ihnen weder als Tätigkeit des Geistes noch der Seele interpretiert. Daher gab es für sie in diesem Sinn noch keinen Geist und keine Seele.

So gesehen verwundert es denn auch nicht, dass Homer für das, was in der auf ihn folgenden Zeit ebenso wie für uns Heutige als ‚Geist‘ und ‚Seele‘ gilt, kein eigentliches Wort kennt. Natürlich benutzt Homer Wörter, die später zur Charakterisierung der Sphäre des Psychisch-Geistigen verwendet werden, nämlich Psyché, Thymós und Nóos. Snell, der den Gebrauch und die Bedeutung dieser Wörter in den Homerischen Epen detailliert untersucht hat, stellt, zunächst auf die Verwendungsweise von Psyché bezogen, klar: Wenn Homer von Psyché spricht, dann hat das bei ihm noch nicht die Bedeutung von ‚Seele‘ im späteren Griechisch. Das heißt, Psyché hat bei Homer mit der denkenden und fühlenden Seele ursprünglich nichts zu tun. Psyché heißt wörtlich ‚Hauch‘, ‚Atem‘, ‚Lebensodem‘ sowie, um wohl ihre Leichtigkeit und Luftigkeit zu akzentuieren, ‚Schmetterling‚. Bei Homer begegnet die Psyché als das belebende Prinzip, als der ‚Hauch‘, der den Menschen ‚beseelt‘, das heißt am Leben hält. Diese Psyché, so können wir von Homer vernehmen, verlässt den Menschen beim Tod. Und zwar verlässt sie ihn durch den Mund und wird ausgehaucht – oder auch durch die todbringende Wunde (aber das ist eher sekundär) – und fliegt zum Hades, wo sie als ein Eidolon, als ein Abbild des Verstorbenen, ein Schattendasein als Totengespenst führt. So, wie Homer die Psyché darstellt, hat man es bei ihr gewissermaßen mit einem halb gegenständlichen Organ zu tun, das, solange der Mensch lebt, in ihm ist. Aber wo im Menschen diese Psyché ihren Sitz hat und wie genau sie wirkt, darüber erfahren wir von Homer nichts, „können also“, wie Snell festhält, „nichts darüber wissen“.3

Wenden wir uns nun den beiden anderen Begriffen zu, die Homer zur Charakterisierung psychisch-geistiger Aktivitäten verwendet: Thymós und Nóos. Thymós, so kann man in einer ersten Annäherung feststellen, ist das, was die Regungen verursacht, und Nóos das, was die Vorstellungen aufnimmt: „auf diese zwei verschiedenen geistig-seelischen Organe ist das Geistig-Seelische gewissermaßen verteilt“.4 Modern gesprochen könnte man vielleicht sagen: Thymós umfasst mehr das Emotionale, Nóos hingegen mehr das Intellektuelle. Oder noch anders gesagt: Psyché, Thymós und Nóos begegnen bei Homer als verschiedene Organe, die ihre jeweils spezifischen Funktionen haben. Gleichwohl werden sie von ihm nicht sauber voneinander getrennt; vielmehr gibt es zwischen ihnen Überschneidungen.

Nehmen wir zunächst den Thymós etwas eingehender in Augenschein, so erbringen die Forschungen Snells das Resultat, im Allgemeinen sei der Thymós jenes Organ, das den Menschen in Tätigkeit versetzt.5 Allerdings ist hierbei zu beachten, dass der Thymós, der den Menschen in Tätigkeit versetzt, bei Homer nicht so sehr ein Organ der Aktion, sondern mehr der Reaktion ist.6 Demnach ließe sich der Thymós wohl am besten als „Organ der reagierenden Regung“ begreifen.7 So wird Freude beispielsweise bei Homer gewöhnlich im Thymós verortet.8 Und er ist auch Sitz des Schmerzes. „Nach den Vorstellungen Homers“, schreibt Snell, „zerfrißt oder zerreißt der Schmerz den Thymos, scharfer, gewaltiger, schwerer Schmerz trifft den Thymo;s“. Und zwecks Verdeutlichung setzt er hinzu: „Es ist deutlich, welche Analogien hier die Sprache leiten: wie ein Körperteil von einer scharfen Waffe, von einem schweren Gegenstand getroffen, wie er zerfressen oder zerrissen werden kann, so auch der Thymos. Wieder löst sich die Vorstellung von der Seele nicht vom Leiblichen, und die eigene Dimension des Seelischen, die Intensität, tritt nicht hervor“.9

Wenn hier von Zerfressen- und Zerrissenwerden des Thymós die Rede ist, so kann man daraus nach Ansicht Snells nicht ableiten, Homer kenne schon so etwas wie einen Zwiespalt in oder eine Zerrissenheit der Seele. Dergleichen gibt es bei ihm ebenso wenig, „wie es Zwiespalt im Auge oder Zwiespalt in der Hand geben kann“. Daher gibt es bei ihm auch so etwas wie eine Zwiesprache der Seele mit sich selbst noch nicht. Auch echte Reflexion ist ihm unbekannt.10

Blicken wir nun auf den Nóos als das Organ, das Vorstellungen aufnimmt. Nóos, das Wort, das im späteren Griechisch ‚Geist‘ meint, gehört zum Verb noein. Und das bedeutet ‚einsehen‘, ‚durchschauen‘, ja weithin lässt es sich bei Homer mit ‚sehen‘ übersetzen. Noein ist oft mit idein = ‚sehen‘ verbunden. Aber es ist ein Sehen, „das nicht nur den rein visuellen Akt bezeichnet, sondern die geistige Wahrnehmung, die mit dem Sehen verbunden ist“.11 Noein akzentuiert insbesondere das Einsehen, das Durchschauen in bestimmten Situationen und bedeutet dann: „eine klare Ansicht von etwas gewinnen“. Damit erklärt sich für Snell ohne weiteres auch die Bedeutung von Nóos: „Es ist der Geist, sofern er klare Vorstellungen hat, also das Organ der Einsicht […]. Noos ist ein geistiges Auge, das klar sieht“.12 Als „dauernde Funktion“ ist der Nóos die Fähigkeit, klare Vorstellungen zu haben, also das, was man im Deutschen als „Verständigkeit“ bezeichnen könnte. Und als einzelne Funktion kann er zudem die einzelne klare Vorstellung oder den Gedanken bezeichnen, wenn zum Beispiel jemand „einen bestimmten Noos aussinnt“.13

Bei all dem ist zu beachten: Dieses geistige Organ Nóos wird nach der Analogie des Auges begriffen. Entsprechend heißt ‚wissen‘ eidenai. Das gehört zu dem uns bereits bekannten idein und heißt eigentlich ‚gesehen haben‚. Auch hierbei ist mithin das Auge das Musterbild für die Aufnahme von Erfahrungen, so dass Snell zusammenfassen kann: „In dieser Sphäre fällt das Intensive mit dem Extensiven zusammen: wer viel und oft gesehen hat, besitzt intensive Kenntnis“.14

Zudem ist das Augenmerk auf ein weiteres wichtiges Moment zu lenken, das im Zusammenhang mit der Beleuchtung der psychisch-geistigen Kräfte des Menschen bei Homer von Bedeutung ist. Ebenso wie er keinen Zwiespalt in der Seele, keine Reflexion, keine Zwiesprache der Seele mit sich selbst kennt, ist Homer auch eine eigene Steigerungsfähigkeit des Geistigen unbekannt. Jede Vermehrung und Vergrößerung sowohl der körperlichen als auch der geistigen Kräfte geschieht von außen, in erster Linie durch die Götter. Wenn die Homerischen Menschen mehr leisten, als man nach ihrem bisherigen Verhalten erwarten könnte, dann führt Homer das auf das Eingreifen eines Gottes oder einer Göttin zurück. Und ebenso kennt Homer noch nicht so etwas wie echte, eigene, sozusagen ‚rationale‘ Entscheidungen. Auch in jenen Szenen, in denen Menschen scheinbar überlegen, spielt das Eingreifen der Götter die entscheidende Rolle. Der Entschluss, den die Überlegung gebiert, erweist sich demnach als Resultat göttlichen Eingriffs. Daher sind die „geistigen Organe“ Thymós und Nóos „so sehr als bloße Organe gefaßt, daß sie nicht der echte Ursprung einer Regung sein können“.15 Der Gedanke des Aristoteles, die Seele sei das ‚erste Bewegende‘, ist Homer demzufolge noch genauso fremd wie die Vorstellung von einem psychisch-geistigen Mittelpunkt,der das organische System beherrscht. Folglich sind die Homerischen Menschen noch nicht zu dem Bewusstsein erwacht, dass sie in der eigenen Seele beziehungsweise dem eigenen Geist den Ursprungsort eigener Kräfte besitzen. 16 Ihnen mangelt, anders gesagt, „das Bewußtsein von der Spontaneität des menschlichen Geistes, d.h. das Bewußtsein davon, daß im Menschen selbst Willensentscheidungen oder überhaupt irgendwelche Regungen und Gefühle ihren Ursprung haben“.17 In dem Maße, in dem in den nachhomerischen Jahrhunderten die Götter ihre natürliche und unmittelbare Funktion verloren, wurde sich der Mensch seiner selbst als eines geistigen Wesens bewusst.18

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