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Denken als Gehirnfunktion:
Alkmaion

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Alkmaion aus Kroton (auf Inschriften ist auch die Schreibweise Alkmeon bezeugt) lebte um 500 v. Chr. Er war ein jüngerer Zeitgenosse des Pythagoras, wird für gewöhnlich dessen Schule zugerechnet und ist der Nachwelt als Philosoph und Arzt bekannt. Nach den uns erhaltenen Zeugnissen war Alkmaion wohl der erste Autor der Achsenzeit, der das Gehirn als Zentralorgan der Sinneswahrnehmung und als materielle Grundlage aller Geistestätigkeit erkannte. Ein einschlägiges Bruchstück seiner Lehre lautet: „Ist es das Blut, mit dem wir denken, oder die Luft oder das Feuer? Oder ist es keines von diesen, sondern vielmehr das Gehirn, das die Tätigkeit des Hörens, Sehens und Riechens verleiht? Und daraus entsteht dann Gedächtnis und Meinung, und aus Gedächtnis und Meinung, wenn sie zur Ruhe gekommen sind, entwickelt sich dann das Wissen? Solange das Gehirn unversehrt ist, solange hat auch der Mensch seinen Verstand. Daher behaupte ich, daß das Gehirn es ist, das den Verstand sprechen läßt“.49

Hiermit wird deutlich und unmissverständlich ausgesprochen, dass wir nicht mit dem Auge sehen, nicht mit dem Ohr hören, nicht mit dem Geruchssinn riechen, sondern dass all das ebenso wie das Denken im Gehirn stattfindet. Geist, Verstand und Denken sind demzufolge abhängig von einem intakten materiellen Träger: dem Gehirn. Solange dieses einwandfrei funktioniert, kann der Mensch sehen, hören, riechen und – was für den vorliegenden Zusammenhang ganz entscheidend ist – denken, also geistige Operationen ausführen. In der Forschung ist immer wieder betont worden,50 Alkmaion habe das nicht im Sinne einer spekulativen Hypothese formuliert, sondern das habe sich ihm als Resultat anatomischer Untersuchungen, die sich auf Sektionen stützten, ergeben. Aufgrund von vornehmlich wohl Tiersektionen nämlich, so ist überliefert, hat er bemerkt, dass von den Sinnesorganen ‚Wege‘ oder ‚Kanäle‘, wie er sagte (wir sprechen heute von Nervenbahnen und Nervensträngen), ausgehen, die an bestimmten Stellen im Gehirn enden. Anlass zu solchen Untersuchungen sollen ihm Erkrankungen und Läsionen gegeben haben. Demnach wäre er schon wie die modernen Wissenschaften verfahren. Wie uns von Theophrast (372–287 v. Chr.) in seiner Schrift Von den Sinneswahrnehmungen überliefert worden ist, hat sich Alkmaion insbesondere mit den infolge von Gehirnerschütterungen zu beobachtenden Sinnesstörungen beschäftigt. Zu solchen Störungen kommt es nach Alkmaion dadurch, so teilt Theophrast mit, dass das durch die Erschütterung in seiner Lage veränderte Gehirn temporär die ‚Wege‘, die ‚Kanäle‘, verschließe, durch die die Sinneseindrücke übermittelt würden.51

Insgesamt hat Alkmaion nach den uns überkommenen Bruchstücken seiner Arbeiten eine detaillierte Sinnesphysiologie entwickelt und dem Hör-, Geruchs-, Geschmacks- und Sehsinn eigene Untersuchungen gewidmet. Den fünften Sinn, den Tastsinn, scheint er hierbei unberücksichtigt gelassen zu haben. Die einzelnen Ergebnisse, zu denen er laut dem Bericht des Theophrast gelangt ist, können wir hier auf sich beruhen lassen und uns mit dem Fazit zufrieden geben: Das Zentralorgan der Sinneswahrnehmungen und aller geistigen Tätigkeit ist das Gehirn.

Zudem ist zu erwähnen: Nach Alkmaions Sicht der Dinge verfügt allein der Mensch über Geist und ist in der Lage zu denken. Hierdurch unterscheidet er sich seiner Überzeugung nach von allen übrigen Lebewesen. Diese, so hat er betont, hätten zwar Sinneswahrnehmungen, besäßen aber keinen Geist und könnten infolgedessen nicht denken.52 Einmal abgesehen von dem Sachverhalt, dass hiermit ein qualitativer Unterschied zwischen Mensch und Tier behauptet ist, wird damit von Alkmaion eine grundlegende Differenz zwischen Denken auf der einen und sinnlichen Wahrnehmungen auf der anderen betont, eine Differenz, die uns im Kontext der vorsokratischen Noustheorien wiederholt begegnet ist.

Neben dem Gehirn als dem Sitz des Geistes und dem Verarbeitungsort der Sinneseindrücke kennt Alkmaion zudem die Psyché – die Seele – als Prinzip des Lebens. Diese Seele, so berichtet Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele,53 habe Alkmaion für unsterblich gehalten. Aber Alkmaion hat das nicht nur einfach so behauptet, sondern versucht, das argumentativ zu stützen, ja gar zu ‚beweisen‘. Damit fänden wir nach den uns erhaltenen Zeugnissen bei Alkmaion die ersten Argumente für die These von der Unsterblichkeit der Seele, die uns bekannt sind, mithin lange vor Platon. Und zwar nimmt seine Argumentation ihren Ausgangspunkt von der Voraussetzung, dass nur Belebtes sich selbst bewegt und dass es das deswegen kann, weil es eine Seele, eine Psyché, besitzt. Vor diesem Hintergrund argumentiert er nun (was uns heute wohl einigermaßen seltsam erscheinen wird): Die Seele ist deshalb unsterblich, weil sie den unsterblichen Wesen, das heißt den göttlichen Wesen, gleiche. Und diese Eigenschaft kommt ihr deswegen zu, weil sie, wie auch alles Göttliche, immer in Bewegung ist: wie Mond, Sonne, Sterne und der ganze Himmel. 54

Aus dieser Analogie mit den göttlichen Wesenheiten kann man ableiten, dass er die Seele wohl nicht für etwas völlig Immaterielles gehalten hat. Einem anderen Bruchstück seiner Lehre kann man zudem entnehmen, wie er sich Materialität und Unsterblichkeit der Seele als miteinander vereinbar gedacht hat: Ebenso wie der Organismus unterliegt die Psyché dem physischen Tod, aber sie reinkarniert sich in einem neuen Körper.55 Eine solche Ansicht ist insofern gar nicht überraschend, als die Reinkarnationsthese ja ein zentrales Bestandstück der Lehre des Pythagoras ist.

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