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Der Nous der Vorsokratiker Die Entfaltung des Nous-Konzepts in der Achsenzeit

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Sieht man einmal von den ägyptischen Konzepten der Ach-, Ka- und Ba-Seele ab, ereignet sich die Entdeckungsgeschichte des Geistes im Abendland in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“, also in dem Zeitraum zwischen dem achten und zweiten Jahrhundert vor Christus,19 mithin in nachhomerischer Zeit. In einem eigentlichen Sinn ‚entdeckt‘ wird der Geist von einer Gruppe von Philosophen, Mathematikern und Naturforschern, die man seit dem neunzehnten Jahrhundert mit einer Sammelbezeichnung „Vorsokratiker“ nennt. Damit meint man – mangels einer besseren, weil differenzierenden Benennung – all diejenigen Denker und Autoren, die vor Sokrates, dessen Lebenszeit die Jahre 470 bis 399 v. Chr. umfasst, lebten. Sie verwenden für das neuentdeckte Prinzip das uns bereits von Homer bekannte Wort Nóos, das zunehmend in der zusammengezogenen Form Nous begegnet (und in latinisierter Form auch Nus geschrieben wird). Wie von altphilologischer Seite in einer Reihe von verdienstvollen Arbeiten herausgestellt worden ist, scheinen die Griechen der damaligen Zeit noch nicht all die Differenzierungen zu besitzen, die wir heute mit dem Begriff des Geistes verbinden. Zwar kennen sie neben dem Nóos/Nous nach wie vor die Psyché in der uns seit Homer vertrauten Bedeutung des den Organismus belebenden Prinzips. Aber so etwas wie das Konzept eines ‚Ichs‘, das für uns heute untrennbar mit dem Begriff des Geistes verflochten ist, kannten die Menschen jener Frühzeit offensichtlich noch nicht. Als philosophischer Begriff begegnet das ‚Ich‘ (to egó) erst bei Plotin im dritten Jahrhundert nach Christus,20 mithin mehr als ein halbes Jahrtausend später als zu dem Zeitpunkt, der jetzt im Brennpunkt unseres Interesses steht.

Allerdings begegnen uns in dieser frühen Phase auch schon Begriffe, die mit ‚Geist‘ zusammenhängen, wie beispielsweise Phrónesis, das gemeinhin mit ‚Einsicht‘ übersetzt wird, sowie Lógos, ein Begriff, der eine Vielzahl von Bedeutungen umgreift, deren für die Folgezeit wichtigste Vernunft, Sprache, Rede, Sinn und gesetzmäßiger Zusammenhang sind. Zudem finden wir in dieser Frühzeit die mit dem Nous zusammenhängenden griechischen Wörter noein, das ‚denken‘ bedeutet, sowie Noema, was das umfasst, was wir ‚Gedanke‘ nennen. Insbesondere noein und Noema fungieren zusammen mit Nous als „Kernbegriffe vorsokratischer Spekulation“, speziell bei Xenophanes, Heraklit, Empedokles und vor allem bei Parmenides.21

Wenn in jener Zeit von Nous, von ‚Geist‘, die Rede ist, so sollte nicht unbeachtet bleiben, dass dieses Konzept keine völlige Abtrennung von jeglicher Sinnlichkeit, sinnlich vermittelter Wahrnehmung und folglich von der Körperlichkeit meint. Der Nous, so kann man vielleicht sagen, war für die Philosophen in jener Phase der Denkentwicklung etwas, was durchaus in der Körperlichkeit des Menschen verankert ist, was allein schon daran ersichtlich ist, dass bei Homer ein enger Bezug des Geistes und des Denkens zu sinnlicher Wahrnehmung, insbesondere zum Sehsinn, festgehalten werden konnte. Diese Verbindung des Nous zu körperlichen Gegebenheiten wird auch in vorsokratischer Zeit nicht vollständig aufgelöst, auch wenn, wie wir sogleich im Einzelnen noch sehen werden, Nous nun die Beziehung auf „eine reinere, kräftigere, wesentliche, echtere Wirklichkeit“ meint. Zugleich gehören Geist, Seele, Denken und – modern gesprochen – Bewusstsein zusammen. Gerade der griechische Gebrauch des Wortes Nous „in der Sprache des täglichen Lebens“, schreibt Julius Stenzel, „bestätigt dies: mit Nus etwas tun, heißt mit Bewußtsein handeln; in der Wendung: seinen Nus auf etwas richten, heißt Nus so viel wie Aufmerksamkeit; ohne Nus heißt sowohl sinnlos als bewußtlos, ‚geistesabwesend‘ – das ist auch griechischer Sprachgebrauch, obwohl gerade das einzelne denkende Bewußtsein als um sich selbst wissendes Ich erst spät philosophischer Terminus geworden ist“.22 Damit ist zugleich zu verstehen gegeben: Richtet sich der Nous einerseits auf die ‚wahre Wirklichkeit‘, so ist in diesem Nous-Konzept andererseits zugleich das Denken des einzelnen Subjekts mit all seinen ‚subjektiven‘, flüchtigen Regungen einbezogen, aus denen die Unsicherheit und Zufälligkeit des einzelnen Meinens resultieren, also all das, was die Griechen Doxa nannten.23 Der hiermit angedeutete Gegensatz zwischen einem Denken, das auf die Erkenntnis der ‚wahren Wirklichkeit‘, mithin auf das Erfassen von Wahrheit zielt, und dem bloßen Meinen, der Doxa, wird vor allem von Parmenides scharf akzentuiert werden.

Aufs Ganze gesehen lässt sich im Blick auf die Entwicklung des Geist-Konzepts zu Beginn der Achsenzeit im Abendland festhalten, dass die Tätigkeit des Nous, das noein, obwohl in erster Linie wohl auf den Sehsinn bezogen, doch schon von rein sinnlicher Wahrnehmung als „eine Art geistiger Wahrnehmung“24 unterschieden worden ist, womit zugleich betont sein soll, dass noein – also ‚denken‘ – keine „reine Augenblicksentscheidung bedeutet, sondern immer irgendeine Art von weitgespannter Sicht einschließt“.25 Nach Ansicht von Kurt von Fritz, der in einer Serie von Arbeiten der Rolle des Nous in der vorsokratischen Philosophie nachgespürt hat, lassen sich in dieser Phase der philosophischen Begriffsbildung zwei grundlegende Bedeutungen des Wortes noein herausheben: zum einen ‚eine Situation erfassen‘, ‚eine Situation erkennen‘, und zum anderen ‚planen‘ oder ‚eine Absicht haben‚.26 Kurt von Fritz ist es zudem gewesen, der für eine etymologische Ableitung des Nous von der Wurzel snu plädiert, was ‚schnuppern‘, ‚schnüffeln‘ bedeutet (was voraussetzt, dass die ursprüngliche Form von Nóos ‚snoFos‘ war). Stützen kann er seine Ansicht mit einer, wie mir scheint, plausiblen Begründung: „Der primitivste Fall, in dem eine Situation Bedeutung gewinnt, ist der, wo Gefahr besteht oder wo ein Feind in der Nähe ist. Die primitivste Funktion des nóos wäre dann gewesen, Gefahren zu bemerken und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in einem frühen Stadium menschlicher Entwicklung der Geruchssinn eine wichtige Rolle bei dieser Aufgabe spielte. Man braucht nur auf die Tatsache hinzuweisen, daß wir vom ‚Wittern einer Gefahr‘ (vgl. engl. ‚to wit a rat‚) sprechen. Mit der Entwicklung höherer Zivilisation würde der Geruchssinn natürlicherweise mehr und mehr durch den Gesichtssinn ersetzt worden sein“.27

Wenn dergestalt einiges für eine enge Verbindung zwischen dem Nous und Seh- und Geruchssinn spricht, so darf gleichwohl nicht übersehen werden, dass es für eine Verbindung zwischen dem Nous und einem bestimmten körperlichen Organ im griechischen Denken vor der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts keinerlei Belege gibt.28 Der Nous ist, anders gesagt, kein besonderes körperliches Organ. Erst Alkmaion aus Kroton wird, wie wir weiter unten sehen werden, das Denken mit dem Gehirn in Verbindung bringen. Heute sprechen wir im Blick auf Geist von ‚geistigen Funktionen‘, ‚geistigen Operationen‚. Zwar war den Griechen jener Zeit diese unsere Unterscheidung zwischen einem Organ und seinen Funktionen unbekannt. Dennoch deuten die uns erhaltenen Texte darauf hin, dass sie, wäre ihnen eine solche Unterscheidung geläufig gewesen, den Nous wohl eher als Funktion denn als Organ betrachtet hätten. 29

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