Читать книгу Handbuch der Philosophie des Geistes - Friedhelm Decher - Страница 15
Nous als naturwissenschaftliches Prinzip:
Anaxagoras
ОглавлениеEine Sonderstellung hinsichtlich der Geistthematik im Gefüge der vorsokratischen Philosophie nimmt Anaxagoras aus Klazomenai (um 500–428 v. Chr.) ein. Bei ihm nämlich begegnet der Nous, anders als bei den Repräsentanten jener Zeiträume, deren Nouskonzepte wir bislang betrachtet haben und die unter Nous bestimmte geistige Fähigkeiten und Funktionen verstanden, als fundamentales naturwissenschaftliches Prinzip. Dieses Prinzip entfaltet er im Kontext seiner physikalisch-kosmologischen Vorstellungen. Ähnlich wie sein etwas jüngerer Zeitgenosse Empedokles vertritt auch Anaxagoras die Ansicht, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge setzten sich aus Bausteinen, die es schon immer gegeben habe, durch Mischung zusammen und sie zerfielen wieder durch deren Trennung. Aber während Empedokles, wie wir vernahmen, vier sogenannte Elemente als letzte Bausteine alles Seienden annahm, konstituieren sich die Dinge gemäß der physikalisch-kosmologischen Theorie des Anaxagoras aus unendlich vielen Bausteinen, die er Sémata, ‚Samen‘, nennt. Von diesen Sémata sagt er, sie unterschieden sich durch ihre sinnlichen Qualitäten wie etwa Gestalt, Farbe und Geschmack und sie seien im ganzen Kosmos verteilt. Entsprechend seinem kosmologischen Modell verbinden sich die gleichartigen Teilchen – die sogenannten ‚Homoiomerien‘, wie sie im Anschluss an Aristoteles genannt werden – miteinander, wohingegen sich die ungleichartigen abstoßen.
Und nun geht Anaxagoras davon aus, die Triebkraft, die es bewerkstelligt, dass sich die gleichartigen Sémata miteinander verbinden, sei der Nous, sei der ‚Geist‘. Diese Sicht der Dinge provoziert unweigerlich die Frage, was dieser Nous denn nun selbst ist. Hierauffindet sich bei Anaxagoras als Antwort die Vorstellung, der Nous sei nicht streng von den materiellen Dingen geschieden. Das heißt, er ist selbst etwas Materielles. Allerdings nimmt Anaxagoras eine wichtige Unterscheidung vor, besagt seine Theorie doch, der Nous bestehe aus besonders feiner und dünner Materie, sei mithin ein besonders feiner, fast ‚geistiger‘ Stoff – was, nebenbei gesagt, Kant zu der Bemerkung veranlasst hat, die Materie des Nous werde von Anaxagoras so „überfein“ gedacht, „daß man darüber schwindelig werden möchte“.46 Gleichwohl bleibt festzuhalten: Auch wenn er seinen Nous als aus ‚überfeiner‘ Materie bestehend ausgibt, so wird er von Anaxagoras doch grundsätzlich der materiellen Welt zugerechnet – einerseits zumindest.
Andererseits nämlich versucht er ihn durchaus von der materiellen Welt abzugrenzen, soll er doch, obwohl selbst etwas Materielles, mit nichts vermischt sein, für sich selbst existieren und seine Gewalt aus sich selbst haben, das heißt ‚autokratisch‘ sein. So jedenfalls stellt Platon die Theorie des Anaxagoras in seinem Dialog Kratylos (413 c) dar. So geht es auch aus dem Fragment 12 des Anaxagoras hervor, und in ebendiesem Fragment 12 spricht Anaxagoras dem Nous Erkennen (gnorizein) und Einsicht (gnóme) zu. Gleichwohl soll er nicht als persönliches Wesen aufzufassen sein, also nicht als eine Art personal gedachter Schöpfergott und auch nicht als eine welttranszendente Intelligenz, die zielgerichtet und zweckmäßig handelt.
Dieser so konzipierte Nous also ist es, der die im Kosmos vorhandenen Teilchen bewegt und die gleichartigen miteinander verbindet. Die Frage ist: Wie setzt er das konkret ins Werk? Hierzu ist zu sehen: Offenbar ging Anaxagoras von einem chaotischen Urzustand des Weltalls aus, den der Nous im Zuge seiner Aktivität in geordnete Strukturen überführte. Und zwar dachte sich Anaxagoras das folgendermaßen: An irgendeiner Stelle der chaotischen Urmaterie erzeugte der Nous eine Wirbelbewegung; er fungierte, wie Luciano de Crescenzo einmal geschrieben hat, als eine Art riesiger kosmischer „Mixer“,47 der die Stoffe zunächst trennte und dann bewirkte, dass die gleichartigen Sémata ‚zusammengerührt‘ wurden, das heißt sich zu konkreten, gestalteten Dingen verbanden: zunächst zu hellem, lichtem Äther und dunklem, schwerem Dunst, in der Folge dann zu den Himmelskörpern und der Erde mit den auf ihr lebenden Wesen.
Also ist es der Kosmologie des Anaxagoras zufolge der Nous, der aus dem ursprünglichen Chaos geordnete Strukturen entstehen lässt. (Nicht ohne Grund gilt Anaxagoras als der Urvater der Chaostheorie.) Der Nous ist bei Anaxagoras demzufolge, um es noch einmal zu betonen, ein fundamentales naturwissenschaftliches Prinzip, ein, genauer gesagt, allem kosmischen Geschehen zugrunde liegendes Ordnungsprinzip, ist, wie Kurt von Fritz es einmal auf den Punkt gebracht hat, der „Schöpfer und Lenker einer geordneten Welt“.48 Mit diesem kosmologischen Nouskonzept unterscheidet er sich grundlegend von den anderen vorsokratischen Meisterdenkern, für die sich der Nous ja, wie wir sahen, durch bestimmte, dem Menschen zukommende Fähigkeiten und Funktionen definiert.