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Zeugnisse einer Selbstreflexion der Psyche im alten Ägypten

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Die Anfänge geschichtlicher Entwicklungen verlieren sich für gewöhnlich im Dunkel ferner Vorzeiten. Man befindet sich erst dann auf einem einigermaßen sicheren Boden, wenn es Überlieferungen gibt – zum Beispiel schriftlicher oder bildnerischer Art –, die Aufschluss über das Phänomen, dem man nachspürt, geben können. Hinsichtlich des Nachdenkens der Menschen über ihren „Geist“ ist das im Abendland anhand der uns erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen in homerischer und nachhomerischer Zeit der Fall. Hier begegnet zum ersten Mal der Begriff des Nóos beziehungsweise des Nous, des „Geistes“. Indem sich die damaligen Menschen auf dieses ihnen zur Verfügung stehende Vermögen besannen, bezeugten sie zugleich ihre Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und ihre innere Welt und deren Stellung zur äußeren zu reflektieren. Ähnliches lässt sich in anderen Hochkulturen der damaligen Welt, wie China, Indien und Babylonien, feststellen. Noch ältere Zeugnisse solcher Reflexionsansätze sind uns aus dem alten Ägypten erhalten, aus einem Kulturraum, der spätestens um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus mit der griechischen Welt im Austausch stand – so hat Pythagoras (um 580–500 v. Chr.) im Zuge seiner Reisen nachweislich auch ägyptisches Ideengut ins damalige Griechenland gebracht.

Die etwa fünftausend Jahre alte Kultur der Ägypter verfügte über sprachliche Ausdrucksweisen, durch die auch Abstrakta formuliert werden konnten. Ihr verdanken wir erste schriftliche Zeugnisse über Konzepte des ‚Geistigen‘ und des ‚Psychischen‘, die freilich noch eng verwoben sind mit mythisch-religiösen Vorstellungen. So unterschied das altägyptische Denken drei Momente des Psychisch-Geistigen: Ach, Ba und Ka. Sehen wir uns diese drei Konzepte einmal im Einzelnen an.

Ach ist abgeleitet von dem Stammwort für ‚leuchten‘ und ‚glänzen‘. In der ältesten Zeit der ägyptischen Mythen bedeutete es zunächst ganz allgemein Wesen, „die sich in einem über das Irdische hinausgehenden, ‚lichteren‘ Daseinszustand befinden“.1 In der Folgezeit wurden dann vor allem die „verklärten“ Toten damit bezeichnet. Als „verklärt“ sah man jene Toten an, die die Segnungen des Totenkults an sich erfahren hatten. Dahinter steht die Überzeugung, der Tote rein als solcher sei nicht ohne weiteres im Ach, sondern erst die „Verklärungen“ des Totenpriesters machten ihn zu einem Ach.

Ursprünglich sah man Ach in Vögeln verkörpert, insbesondere im Schopfibis. Aber schon früh ist die Vorstellung von einer besonderen Erscheinungsform des Ach aufgegeben worden. Seitdem gleicht er der irdischen Gestalt des Verstorbenen, hat jedoch mit dem Leib selbst nichts zu schaffen, „denn ‚der Ach gehört zum Himmel, der Leichnam in die Erde‘“, wie eine ägyptische Überlieferung besagt. Demnach besteht das Wesen des Ach „allein in seinen besonderen ewigen Daseinskräften“.2 Von dem so verstandenen Ach wird der Begriff Achu abgeleitet, den man etwa mit „Geistkraft“ übersetzen kann und der schon früh die allgemeine Bedeutung „geistige Fähigkeit“ sowie „Können“ überhaupt angenommen hat.3

Nehmen wir nun das zweite Konzept, die Ba-Seele, in den Blick, so ist zunächst zu sehen, dass dieser Begriff von den Griechen mit Psyche wiedergegeben wurde. Jedoch träfe es den Sachverhalt, der mit Ba bezeichnet wird, nicht, würde man sich durch seine Übersetzung als Psyche dazu verleiten lassen, ihn in dem Sinne zu verstehen, wie wir heute ‚Seele‘ verwenden. 4 Nach ägyptischer Vorstellung repräsentiert der Ba das geistige Prinzip der Individualität eines Menschen. Als solch geistiges Prinzip ist der Ba zu Lebzeiten des Menschen in dessen Körper eingeschlossen und löst sich im Tod – und temporär auch im Schlaf – von ihm. Aufgrund dieses Sachverhalts, dass der Ba einerseits eng an den Körper gebunden ist, sich andererseits aber auch von ihm lösen und entfernen kann, gehört er zu jenem Seelentypus, der in der Religionswissenschaft als „Freiseele“ bezeichnet wird.5 Gemäß der ägyptischen Mythologie wurde der Ba nicht als präexistent begriffen, sondern als im und mit dem Körper entstanden. Dargestellt wurde der Ba gewöhnlich als Vogel – vom Typ des Falken – mit Menschenkopf und oft mit Götterbart, „um den göttlichen Charakter zu bezeichnen“.6 Damit repräsentiert er den in vielen Frühkulturen verbreiteten Typus des „Seelenvogels“.

Der Ka schließlich ist die personifizierte Lebenskraft eines Menschen. 7 Er repräsentiert seine Zeugungs- und Geisteskraft, so dass man sagen kann, es gebe kein seiner selbst bewusstes Leben ohne ihn: Der Ka gestaltet es, und nur in ihm hat es Bestand.8 Ebenso wie beim Ba handelt es sich auch beim Ka um keine präexistente Seele. Vielmehr wird er mit dem Menschen geboren, hat an dessen Entwicklungsphasen Anteil, gleicht ihm in Gestalt und Wuchs und begleitet ihn wie eine Art „Doppelgänger“ durchs Leben, gestaltet es und bestimmt das menschliche Schicksal. Im Tod verlässt er zwar den Körper und existiert dann selbständig weiter. Jedoch verbleibt er in der Nähe des Leichnams, um den Toten auch weiterhin zu schützen: Er behält seine irdische Gestalt und „steht als Schützer und Bürge seines Seins neben ihm, wie er es im Diesseits tat“.9 Auf diese Weise verbindet der Ka die geistige mit der physischen Welt, ja ist er selbst als Verkörperung der geistigen und physischen Kräfte des Menschen aufzufassen. Das Zeichen des Ka in den Hieroglyphen ist ein hochgerecktes Armpaar, dessen Handflächen einander zugekehrt sind.

Indem sie dergestalt drei Momente des Seelisch-Geistigen unterschied, reflektierte die ägyptische Psyche die in ihr liegenden Kräfte und versuchte sie auf den Begriff zu bringen. Damit kommt der altägyptischen Kultur hinsichtlich eines anfänglichen Nachdenkens über die psychischgeistigen Kräfte des Menschen ohne Frage eine enorm wichtige Vorreiterrolle zu. Die eigentliche Entdeckungsgeschichte des Geistes jedoch datiert dann aus späterer Zeit und ereignet sich im Kulturraum der alten griechischen Welt.

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