Читать книгу Das Erbe der MV Bukoba - Fritz Gleiß - Страница 6

1. In der Tiefe

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Rücklings lässt sich der Mann von der Bootskante fallen. So­fort ist er umgeben von trübem Wasser, kann kaum noch einen Meter weit sehen. Orientierung gibt nur noch das Seil.

Alle hatten sie gewarnt: So kurz nach dem großen Ge­witter sei das Wasser des Viktoriasees viel zu aufgewühlt und trüb, als dass sich ein Tauch­gang lohnen wür­de. Trotzdem hatten sie sich entschlos­sen, es heute noch einmal zu wagen. Denn bald dürfte es hier nur so wim­meln vor Konkurrenz. Sobald das Wasser aufklart, wür­den ihnen auch die örtlichen Freitaucher wieder in die Que­re kom­men, die seit Jahr und Tag immer wieder Kleinigkeiten aus der Tiefe bargen. Bestimmt hat es sich längst herumgesprochen, dass da Fremde am Wrack der Bukoba zugange sind, die jedem Besucher Schwei­ge­geld ver­spre­chen. Da ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann jemand sie an die Behörden verraten wird.

Das Wasser um ihn herum, in gut zwanzig Meter Tiefe, ist inzwischen eine einzige milchige Brühe. Er muss darauf vertrauen, dass sie ihren Liegeort exakt vermessen haben. Zwar hat er sich diesmal ra­send schnell am Führungsseil herabgelassen, das tatsächlich am Schiffsrumpf landete, aber mehr als eine Viertelstunde bleibt ihm trotzdem nicht. Sobald er den Tauch­scheinwerfer einschaltet, wird er gelbweiß geblendet wie im dich­ten Nebel. Kein Lichtstrahl dringt weiter als bis zur Hand. In einer solchen Umgebung einen Safe zu suchen, ist schlicht Wahnsinn.

Als Rettungstaucher vor fünfzehn Jahren hier unten in der gesunkenen Fähre Ertrunkene bargen, mussten sie sich zwischen herum ­schwim­menden Ge­päckstücken, Bananen­stau­den und aus dem Nichts auftauchen­den, zerquetschten Lei­chen zurechtfinden. Auch heute darf er sich zwischen dem verbogenen Stahl nur in Zeitlupe bewegen, alle paar Se­kun­den stupsen Schultern, Flossen, Hände oder Knie an ir­gend­welche unsichtbaren Ge­gen­stände, mal hart, mal weich, beina­he schwabbelig, dann wieder gefährlich scharfkantig. Vier Tauch­gänge hatten sie ge­braucht, um einen Weg in die Kajüte des Kapitäns zu finden. Aber wo, zum Teufel, soll hier bloß ein Tresor sein?

Einige der damals beim Kentern des Schiffs eingeschlosse­nen Passa­gie­re überlebten noch zwei dunkle Nächte in ihrer zunehmend stickiger werdenden Kabine. Wrack-Spe­zia­listen der südafrikani­schen Navy hätten sie retten können. Sie verfügten über Erfah­rung und Gerät. Doch sie kamen einen Tag zu spät. Aufgequollene, verwesende Leichen zu ber­gen, hatten die Taucher dann nach wenigen Tagen wieder aufgegeben. „Zu trauma­ti­sie­rend, zu gefährlich“ hieß es, zu oft waren sie zwi­­schen die er­trun­kenen Körper geraten, die sich im Todes­kampf inein­ander verhakt und verknotet hatten. „Du siehst da unten die Hand nicht vor den Augen. Das Wasser ist so schmutzig, voller Stofffetzen, Fla­schen, Gegenstände treiben herum. Die Leichen kom­men aus der totalen Dunkelheit, du siehst sie erst, wenn du sie be­rührst“*, so einer der Taucher. Ein Geflecht aus ungezählten To­ten verblieb im Bauch der ge­sunkenen Fäh­re. Hunderte Opfer, fast alles Passagiere aus der vollbesetzten 3. Klasse unter Deck, wurden nie bestattet. Das Wrack wurde zum Friedhof erklärt, je­des Tau­chen verboten.

Seitdem besetzt die Tragödie, der Unter­gang der MV Bukoba auf dem Viktoriasee am Dienstag, dem 21. Mai 1996, wenige Kilometer vor Tansanias zweitgrößter Stadt Mwanza einen zentralen Platz im Trauergedächtnis der Nation. Eine Bergung des Schiffs stand nie zur Debatte, dafür fehlen in dieser Ecke der Welt noch auf Jahrzehnte hinaus alle Mittel.

Bald würde er aufgeben müssen, fehlende Sicht und Zeit machen die weitere Suche unmöglich. Plötzlich aber verfängt sich sein linker Knöchel an irgendetwas Weichem. Ein Kabel? Der Fuß zuckt zurück, verheddert sich, dann spürt er einen schmerz­­haften Schlag auf der Wade. Reflexartig greift er nach dem vermeintlichen Angreifer und reißt sich an einem Blech Arm und Tau­cheranzug auf. Sofort färbt sich das Wasser im Licht der Lampe dunkel mit Blut. Panik steigt in ihm auf: In der Hand hält er einen Fetzen Stoff, in dem ein kräftiger Knochen steckt. Instink­tiv schwenkt er wild seine Hände, reißt die Lampe auf und ab, signalisiert „Ab­bruch!“. Doch in dieser Brühe sind Tauchzeichen überflüssig. Sein Buddy bekommt von alledem nichts mit. Mit verzerrtem Gesicht schreit er in die Maske, zieht panisch am Sicherungs­seil.

Wenn er sich nicht sofort beruhigt, kann ihn niemand mehr retten.

Das Erbe der MV Bukoba

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