Читать книгу Das Erbe der MV Bukoba - Fritz Gleiß - Страница 7
2. Im kalten Norden
ОглавлениеDas Thermometer auf der Terrasse zeigt fünf Grad über Null. Eigentlich ist Frühling, aber wirklich spüren lässt sich das noch nicht. Der Blick hinaus auf die weiten Felder vor den Harburger Bergen, gerade erst befreit von morgendlichen Nebelschwaden, wandert über kahle Flächen. Noch ziert nur zartes Grün die Büsche und Bäume der Umgebung. Hier oben in Rosengarten sei es immer zwei Grad kälter als in Hamburg, sagen die hier Geborenen.
Jens Petermann beugt sich über seinen konferenztischgroßen Schreibtisch, sinniert über der riesigen Konstruktionszeichnung eines Schulzentrums und schüttelt zweifelnd den Kopf. „Das wird so nichts!“, murmelt der hoch aufgeschossene Mann vor sich hin. Zum Glück ist er diesmal nur Zweitgutachter, das mindert die Verantwortung. Gerade, als er sich einen Kaffee holen und erste Eindrücke in den Laptop diktieren will, klingelt es. Zu früh für freundliche Besuche, und die Post war schon da. Beim Blick durch die verglaste Haustür schwant Petermann nichts Gutes. Vor der Tür steht seine stets leicht überdrehte Nachbarin.
„Silke! Schön, dich zu sehen! Was treibt dich so früh ...“ Weiter kommt er nicht. Stattdessen drängt sich Silke durch die Tür und überschüttet ihn sofort mit hysterisch aufgeladenen Fragen.
„Weißt du’s schon? Hat es euch niemand erzählt? Wo steckt denn Frieda? Die wird das doch bestimmt längst wissen!“ Aufgelöst schaut sich die Frau im Hausflur um.
Jens und Frieda Petermann leben seit Menschengedenken in ihrem Dorf am Südrand Hamburgs. Fest verwurzelte Sandkastenfreunde, die die Liebe nach dem Studium zurück in die Heimat trieb. Das Haus ist Friedas Elternhaus. Nur mit dem Kinderkriegen wollte es nie etwas werden, und jetzt, mitten in den Vierzigern, ist das auch nicht mehr geplant.
„Silke, komm doch mal zur Ruhe. Wovon redest du? Was ...“ Erneut wird Jens Petermann unterbrochen. In seinen gelösten Zügen zeigen sich nun doch erste Falten.
„Gerd ist weg! Verschwunden!“
„Aber das weiß doch jeder. Der ist in Tansania, arbeiten.“
„Nee, eben nicht. Zumindest ist er dort nicht mehr erreichbar.“ Fahrig streckt Silke beide Hände anklagend gen Decke. „Eben hat es Waltraud, seine verhuschte Mutter, beim Bäcker nicht mehr ausgehalten und ist damit rausgerückt: Seit Wochen hat die schon keinen Kontakt mehr zu ihm! Der ist weg, verschollen im schwärzesten Schwarzafrika! Ruft nicht an, niemand weiß was, auch seine Redaktion hat keine Ahnung. Spätestens gestern hätte er sich bei denen melden müssen, das war der letzte von vier vereinbarten Terminen. Hat er aber nicht! Nichts, nada, seit Wochen!“
„Und Waltraud erzählt erst heute davon?“ Petermann, dessen hübsche Augenbrauen über den tiefbraunen Augen sich zunehmend kräuseln, klingt nun ernsthaft besorgt. Gerds Mutter, die Witwe des wohlhabendsten Landwirts weit und breit, kennt er schon ewig. „War sie denn schon bei der Polizei?“
„Weiß nicht. Kannst du nicht mal mit ihr reden? Du kennst dich doch aus da unten.“ Endlich ist Silke ihr Anliegen los und beginnt sich zu entspannen.
Tatsächlich war Petermann schon einmal in Tansania. Vor Jahren hatte er eine alte Dorfgeschichte aufgegriffen und mit tatkräftiger Hilfe eines Tansaniers den Familienschatz eines Freundes aus der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ geborgen. Eine Geschichte, die Rosengarten bis in die „Süddeutsche“ brachte: Fast 200.000 Euro hatte das Erbe, Münzen und Elfenbein, auf einer Auktion erbracht – ein Vermögen, erworben von einem verarmten Kürschner, der sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts als ahnungsloser Bauer einige Jahre in Tanganyika verdingte und seinen Besitz auf der Flucht vor den Engländern dort im 1. Weltkrieg verbuddelt hatte. Hundert Jahre später dann floss dessen beachtlicher Wert dank Petermanns erfolgreicher Schatzsuche zurück in den Norden: Ein gefundenes Fressen für Kritiker nachkolonialer Verhältnisse. Alle anderen fanden das völlig okay. So auch Silke.
„Klar rede ich mit Waltraud, auch wenn ich mich da nicht gerade als Experte sehe.“ Einige freundliche Gesten noch, dann hat Petermann seine aufgeregte Nachbarin vor die Tür gebracht.
Mit Gerd Körner, dem Sohn der Nachbarin, ist Jens Petermann seit der Schulzeit befreundet. Als Studenten – er Architektur, Gerd Journalistik – hatten sie ihre Lust aufs Tauchen entdeckt und gemeinsam einige Touren im nahen Plöner See unternommen. Zwar war das Tauchen dort wegen Blindgängern aus dem 2. Weltkrieg nahe der Marineunteroffiziersschule der Nazis und der NS-Eliteschule im Plöner Schloss verboten. Die vermeintliche Gefahr aus der braunen Vorzeit aber hatte Petermann und Körner nicht abschrecken können.
Gemeinsam hatten sie sich beim Tauchen immer tiefer hinab gewagt und waren dem Gewässer und seiner bis in die Steinzeit zurückreichenden Siedlungsgeschichte auf den Grund gegangen. Dessen tiefste Stelle, mit rund 60 Metern so tief wie der Plöner Kirchturm hoch, erreichten sie zwar nie, aber die 20-Meter-Marke hatten sie oft geknackt. Nur einmal jedoch hatten sie im See etwas Wertvolleres entdeckt als einen verrosteten Fotoapparat. Als ein örtlicher Kneipier mit seiner protzigen Yacht mitten in der Stadtbucht gekentert war, hatte der sie beauftragt, seine dabei koppheister gegangene Geldbörse mit „mehreren 1.000 Mark“ wiederzufinden. Jung und unerschrocken, wie sie waren, taten sie das vermisste Portemonnaie tatsächlich in knapp zehn Meter Tiefe wieder auf. Der Kneipier aber zählte zum Establishment, seine teuren Scheine blieben deshalb „leider verschwunden“. Diese einträgliche Gaunerei aus frühen Jahren verbindet beide bis heute.
Wenige Stunden nach Silkes Besuch steht Petermann im Wintermantel vor der Tür der Mutter seines Freundes. „Waltraud, darf ich reinkommen?“
„Klar doch, Jens. Ich hab schon fast auf dich gewartet. Wäre später sonst selbst rübergekommen ...“ Frau Körner, topfit für ihre einundsiebzig, ist sichtlich erleichtert.
„Silke hat’s mir erzählt ...“
„Ja, heute Morgen hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Gerd ist ja oft verreist, auch nach Afrika, aber das hat er sich noch nie geleistet. Seit Wochen keine Nachricht, nicht das kleinste Lebenszeichen ...“ Nachdem Petermann abgelegt hat, gehen sie durch den Flur ins großzügig geschnittene Wohnzimmer, dem Mittelpunkt des Körnerschen Hauses. Dort macht Petermann es sich auf dem Sofa bequem.
„Wann habt ihr denn zum letzten Mal Kontakt gehabt?“
Waltraud Körner, deren an sich gepflegtes graues Haar heute nach allen Seiten absteht, wandert immer noch unruhig im Zimmer auf und ab. „Ist fast drei Wochen her. Ich werd langsam verrückt. Kurz vor Ostern hat er sich zuletzt gemeldet, klang ganz euphorisch. Aus Mwanza am Viktoriasee. ‚Darwins Albtraum’, den Film kennst du? Preisgekrönt! Wahrscheinlich wegen der vielen obdachlosen Kinder drin. Da konnte ich noch was mit anfangen, mit dem Ort, an den sie ihn geschickt haben.“ Immer gesprächiger, droht sich die ältere Frau jetzt zu verlieren. „Großer Umschlaghafen im Süden dieses völlig verdreckten Binnenmeers, das Abermillionen Menschen tränkt und ernährt. Statt früher Hunderte schwimmen da heute noch ganze drei Fischarten drin rum, die es sich zu fangen lohnt. Tolle Ecke!“
„Und? Was wollte Gerd da?“, unterbricht Petermann sie, dessen Lippen vor Ungeduld zunehmend schmaler werden.
„Sollte recherchieren. Wenn ich’s richtig mitgekriegt hab’, wollte er eine Geschichte schreiben über den Untergang irgendeiner Fähre vor fünfzehn Jahren.“
„Die ‚Bukoba’, 1996, ja, das kommt hin. Sind Freunde von mir selbst mal drauf gefahren. Die einzige verlässliche Verbindung zwischen Ruanda, Uganda und Tansania. Das Unglück war eine der größten Schiffskatastrophen im letzten Jahrhundert, ganz ohne Krieg, hunderte, manche sprechen von über tausend Toten! War damals ´ne ganz große Geschichte! Mit etwas weniger Leichen passiert so eine Tragödie da unten ja alle paar Monate.“
„Ja, aber Gerd ist nicht untergegangen!“
„Gab’s möglicherweise noch irgendwas anderes, um das er sich kümmern wollte?“
„Kümmern? Blödsinn. Gerd hat sich noch nie besonders um irgendwas ‚gekümmert’, weder um mich noch irgendwen sonst, der folgt immer nur seinen eigenen Interessen. Hat sich höchstens irgendwo verrannt. Aber wieso meldet er sich dann nicht wenigstens mal kurz? Es wird doch wohl auch in Tansania irgendwo ein Telefon geben!“ Petermanns Nachbarin spricht wieder schneller und unterdrückt die Tränen.
„Nicht überall, Waltraud. Keineswegs.“ Ihr Besucher will sie beruhigen, weiß aber natürlich, dass es in einer Großstadt wie Mwanza – einer der am schnellsten wachsenden Städte des afrikanischen Kontinents – kein Problem sein dürfte, in den Norden der Erde durchzukommen. „Noch einmal: Welchen Grund könnte es denn geben, der ihn vom Telefonieren abhält, in Gefahr brachte, vielleicht auch einfach nur aus der Stadt aufs Land getrieben hat?“ Draußen vor den großen Wohnzimmerfenstern türmen sich graue Wolken auf, bald wird es regnen.
Waltraud Körner zieht die Stirn zusammen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens meint sie: „Er erzählte, bei diesem fürchterlichen Untergang hätten eine ganze Menge Leute ihre eigenen Süppchen gekocht. Keine massenhaft abgetauchten Überlebenden wie beim Tsunami, so nicht. Aber das passierte ja mitten zwischen Völkermördern, Aufständen, Friedensverhandlungen und UN-Prozessen. Bestimmt waren da genügend Leute an Bord, die was zu verbergen hatten. Wer weiß, was mein Sohn alles aufdeckt.“
„Möglicherweise hat das ja gar nichts mit seinem Verschwinden zu tun. – Hast du denn eigentlich schon die Polizei eingeschaltet?“
„Ja, die Vermisstenanzeige haben die in meinem Beisein direkt ins Auswärtige Amt nach Berlin geschickt.“
„Klingt, als könnten wir nicht mehr machen, richtig? Lass mich ein bisschen nachdenken, vielleicht fällt mir noch was ein, okay?“