Читать книгу Mutti, warum hast du mich nicht lieb? - Gabi P. - Страница 4

Auf kleinen Füßen die große Welt entdecken ...

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Und als ich dann 3 ½ Jahre alt war, machte meine Mutter ihr Vorhaben im Sommer wahr und zog in die große Stadt. Ich blieb, wie von Mutti beschlossen, bei meiner Oma und meinem Opa zurück. – Und genau damit fingen die Probleme an: Meine kleine heile Welt stand plötzlich kopf. Ich verstand überhaupt nicht, warum meine Mutti abends nicht mehr von der Arbeit nach Hause kam. Ich wartete Tag für Tag auf ihre Rückkehr, war verzweifelt, zornig und sehr traurig. Und irgendwie suchte ich die Schuld für ihr Fernbleiben immer wieder bei mir. Was machte ich denn nur falsch? Hatte sie mich denn ganz vergessen, mich gar nicht mehr lieb? Warum nur hatte sie mich allein gelassen?

Jedes Mal wenn es in der kommenden Zeit an der Türe klingelte, rannte ich sofort hin, um zu öffnen, denn schließlich könnte es ja doch Mutti sein, die endlich nach Hause kam. Aber sie kam natürlich nicht. Ich war völlig durcheinander und weinte viel, hatte nachts oft Albträume und bekam sogar Angstzustände. Meine Oma tat, was sie konnte, um mich zu beruhigen, zu trösten und auf andere Gedanken zu bringen.

Besonders schlimm war es immer, wenn es Abend wurde. Dann kamen sie immer, die Angstzustände. Die waren plötzlich da. Ganz ohne Vorwarnung, einfach so! Meine Oma kochte mir Beruhigungstee, ging sogar mit mir zum Arzt, als sie nicht mehr weiter wusste und auch um sicher zu gehen, dass ich nicht doch ernsthaft krank war.

Und es war außer den abendlichen Angstzuständen noch etwas anderes, was meinen Großeltern Sorge bereitete: Ich hatte keinen Appetit und wollte nichts mehr essen! Der Arzt untersuchte mich, stellte fest, dass mir körperlich nichts weiter fehlte, und verschrieb mir leichte Medikamente zur Beruhigung. Und auch etwas, das meinen Appetit anregen sollte. Dann gingen wir wieder nach Hause.

Noch heute danke ich Gott dafür, dass ich Oma und Opa hatte, die mir all das gaben, was eigentlich die Aufgabe meiner Mutter gewesen wäre: Liebe, Verständnis, Geborgenheit und in dieser für mich so schwierigen Zeit viel Trost.

Essen zählte in der kommenden Zeit nicht zu meinen großen Leidenschaften. Mein Frühstück bestand lediglich aus einer Tasse Kakao einer wohlbekannten Marke in gelber Dose.

Mittags schaffte es Oma mit Mühe und Not, mir ganz wenig von den leckeren Mahlzeiten einzuflößen, die sie gekocht hatte. Sie kochte sehr gut, aber ich hatte einfach keinen Appetit. Abends dann dasselbe Spiel. So ging das Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat.


Die Zeit verging und nach einer Weile fand ich ganz allmählich zurück in den Alltag. Ich wurde wieder etwas ruhiger und begann mich schließlich mit der Tatsache abzufinden, dass meine Mutter nun nicht mehr jeden Abend zu mir nach Hause kam und weit weg war, um dort zu arbeiten. - Nur essen wollte ich noch immer nichts ... oder nur nach vielen geduldigen Bitten und viel gutem Zureden meiner Großeltern das Allernötigste.

Schließlich begann ich zusammen mit Oma und Opa die Welt um mich herum zu entdecken. - Und da gab es eine Menge schöner, interessanter Dinge, die es zu erkunden galt.


Ich liebte es vor allem, draußen zu spielen, wie wohl die meisten Kinder. Die frische Luft, die Natur, die Tiere und die vielen Kinder in unserer Siedlung waren für mich schon immer schöner und interessanter, als in der Wohnung alleine zu spielen.

Hinter dem Haus gab es eine große Wiese und einen Sandkasten, in dem ich nachmittags oft unzählige „Sandkuchen“ backte und sie meiner Oma voller Stolz präsentierte. Sie saß am Rand des Sandkastens und sah mir lächelnd zu, oder half mir tatkräftig dabei „Kuchen“ zu backen. Es war herrlich mit Oma „Kuchen“ zu backen und überhaupt draußen zu sein. Wir waren jeden Nachmittag zusammen draußen. Oma sagte immer: „Kinder brauchen frische Luft und viel Bewegung!“ Recht hatte sie.

Zu der Wohnung meiner Großeltern gehörte außerdem auch ein hübscher kleiner Garten hinter dem Haus. Meine Oma hatte dort unter anderem ein kleines Blumenbeet angelegt, das sie stets liebevoll pflegte. Wann immer sie Zeit hatte und das Wetter es zuließ, verbrachten wir gemeinsam Zeit in dem kleinen Garten. Sie jätete Unkraut und bepflanzte ihr kleines Beet immer der Jahreszeit entsprechend mit den schönsten bunten Blumen. Es sah sehr hübsch aus und die Blumen dufteten herrlich, wenn sie blühten.

Wenn sie Unkraut zupfte, die Erde harkte und immer wieder neue Blumen pflanzte, hockte ich oft neben ihr und beobachtete sie sehr aufmerksam und interessiert dabei. Ich hatte stets unzählige Fragen zu allem, was sie tat. Dann lächelte sie und erklärte mir alles ganz genau und sehr geduldig, und mit der Zeit lernte ich all die vielen wunderschönen Blumen in unserem kleinen Garten kennen.

Dann war da auch noch ein herrlicher Rasen, übersät mit unzähligen Gänseblümchen und Butterblumen im Frühjahr und Sommer. Und auf dem Rasen stand genau in der Mitte ein kleines Fliederbäumchen. Den hatten mein Opa und mein Onkel zusammen extra für Oma dahin gepflanzt. Sie liebte ihren lila Flieder sehr. Oft stand sie oben in unserer Wohnung am Fenster und betrachtete das Bäumchen. Ganz besonders erfreute sie sich jedes Jahr im Mai an den wunderschönen Blüten. Dann schnitt sie lächelnd ein paar Zweige ab und stellte sie in die Vase. Der Flieder duftete dann herrlich in unserer ganzen Wohnung.

An der einen Begrenzungsseite des Gartens hatte meine Oma außerdem einige Sträucher mit Himbeeren, Brombeeren, Stachelbeeren und roten und schwarzen Johannisbeeren gepflanzt. Ich konnte es immer kaum abwarten, bis die Beeren reif waren. Dann pflückten wir sie gemeinsam und Oma machte leckeres Kompott, Kuchen und Marmelade daraus.

Natürlich durfte ich auch Beeren von den Sträuchern pflücken, die dann, Schwupps, in meinem Mund landeten.

Es war schön, im Sommer mit Oma im Garten zu sein. Es wurde für mich eine große bunte Decke auf dem Rasen ausgebreitet, auf der ich dann in der warmen Sommersonne spielen konnte. Das war herrlich. Ich liebte die warmen Strahlen der Sonne auf der Haut und die herrliche Sommerluft, die erfüllt war vom Summen der Bienen, dem Zwitschern der vielen Vögel, die aufgeregt von Baum zu Baum flogen und dem lieblichen Duft der unzähligen Blumen, Bäume und Sträucher. Aus der Ferne hörte man oft Stimmen und auch Kinderlachen, das aus den weit geöffneten Fenstern nach draußen drang. Alles wirkte so friedlich um einen herum ... es war eine kleine heile Welt. Meine kleine heile Welt.

Ja und dann, an einem wunderschönen Tag im Sommer gab es eine Überraschung für mich: Mein Opa hatte zusammen mit meinem Onkel im Garten eine Schaukel für mich aufgestellt. Meine eigene Schaukel, nur für mich allein! Meine Augen leuchteten, ich hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere und ich strahlte übers ganze Gesicht. Das war wirklich das Größte. Ich war mächtig stolz und liebte meine neue Schaukel. Ich hatte auf ihr das Gefühl fast bis in den Himmel zu fliegen… unter den manchmal sehr besorgten Blicken meiner Oma: „Schaukel nicht so hoch, sonst fliegst du raus und tust dir weh!“ Sie war immer sehr fürsorglich und besorgt um mich. Und das gab mir stets ein wunderbares Gefühl der Geborgenheit. Und natürlich versprach ich ihr stets, auf mich aufzupassen.

Ich spielte aber nicht nur im Garten, sondern auch häufig vor dem Haus auf der Straße. Das war damals noch nicht so gefährlich wie heute, denn es gab ja noch nicht so viele Autos. Und da, wo wir wohnten, fuhren fast nur Autos von Leuten aus unserer Nachbarschaft vorbei. Es gab in unserer Siedlung keinerlei Industrie. Nur ein paar kleine Geschäfte, in denen wir immer einkaufen gingen. Da waren 2 kleine Lebensmittelläden, ein Schreibwarengeschäft, ein Metzger, ein Frisör, ein Café und sogar eine kleine Kneipe. Und jeden Morgen pünktlich um halb zehn kam der Milchmann mit seinem großen Wagen und hielt gegenüber von unserem Haus. Mit einer großen lauten Glocke verkündete er seine Anwesenheit. Dann kamen alle Frauen aus den umliegenden Häusern, um frische Milch, Eier, Joghurt, Quark und vieles mehr einzukaufen. Auch Oma und ich gingen mit der Milchkanne jeden Morgen, um frische Milch, Eier und andere Dinge einzukaufen, die Oma so brauchte. Für mich war es jeden Morgen ein Highlight, wenn der Milchmann kam. Ich stand dann neben meiner Oma und beobachtete ganz genau, was dort am Milchauto so alles vor sich ging.

Natürlich hatte ich auch viele Spielkameradinnen aus den Nachbarhäusern, mit denen ich draußen gerne und oft spielte und so war ich eigentlich fast nie alleine. Da gab es die schönsten Kinderspiele, die man auf der Straße spielen konnte. Wir spielten Hüpfkästchen, Gummitwist, Fangen, Verstecken, Seilspringen, viele lustige Ballspiele und manchmal saßen wir auch einfach nur mit unseren Puppen vor der Haustüre und spielten Vater, Mutter, Kind. Das war eines meiner Lieblingsspiele.

Auf jeden Fall hatten wir damals immer viel Spaß in unserer kleinen Siedlung am Rande der Stadt und ich hatte viel Glück, dort aufwachsen zu können.

Es gab auch einen schönen großen Spielplatz, direkt gegenüber der Schule, auf dem sich fast alle Kinder der kleinen Siedlung an den Nachmittagen trafen. Auch die Muttis und manchmal auch Omas der Kinder waren häufig mit dabei ... und natürlich auch hin und wieder meine Oma, wenn sie Zeit hatte. Sie saß dann auf der Bank im Schatten eines Baumes und sah mir beim Spielen zu. Dann unterhielt sie sich mit den Nachbarinnen, die sie kannte. Und wenn sich unsere Blicke manchmal trafen, lächelte sie, winkte mir zu und rief: „Spiel schön!“ Ich winkte zurück und freute mich einfach nur darüber, dass Oma da war und mir zuschaute. Oma hatte fast immer Zeit für mich. Ein schönes Gefühl.

Natürlich war Mutti niemals mit auf dem Spielplatz, um mich auf der Schaukel an zu schubsen, mit mir im Sand zu spielen, meine Turnübungen am Klettermaxe zu bewundern, oder mit mir auf meiner Lieblingswippe zu wippen, denn sie musste ja die große weite Welt entdecken und in der fernen Großstadt sehr hart arbeiten….

Aber Oma und Opa waren ja da… die besten Großeltern der Welt!


In der ersten Zeit nach Muttis Umzug in ihre Traumstadt kam sie auch tatsächlich noch jedes Wochenende nach Hause, um ihren Mutterpflichten nachzukommen. Doch irgendwann begannen die Abstände zwischen ihren Besuchen immer größer zu werden. Zuerst kam sie noch alle 14 Tage, und schließlich dann nur noch 1 Mal im Monat. Und dann nur noch zu Ostern, zu meinem Geburtstag und zu Weihnachten und ganz selten einmal im Sommer.

Sie versprach zwar immer wieder, dass sie zwischendurch auch mal für ein Wochenende kommen wollte, aber daraus wurde meistens leider nichts. Der Leser errät sicher schon warum: Richtig ... sie musste lange und schwer arbeiten, um viel Geld zu verdienen ... und sich einen, wenn möglich, reichen Mann angeln. Abends. Wenn sie fertig war mit der harten Arbeit im Café. – Ja, sie arbeitete, wie bereits erwähnt, tagsüber als Serviererin. Das hatte mir Oma erzählt, als ich sie irgendwann mal fragte, was denn meine Mutti in der großen fremden Stadt arbeitete.

Natürlich vergaß Mutti mich nicht so ganz, denn sie schickte mir hin und wieder kleine Pakete, in denen Spielsachen, Bücher, Süßigkeiten oder was zum Anziehen war. Natürlich nur teure Markenware. Alles schicke Sachen nach der neusten Kindermode. - Wohl um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, nachdem Oma sie zum x-ten Male gebeten hatte, doch mal nach Hause zu kommen, um bei ihrer kleinen Tochter zu sein. Oma erzählte ihr, wie ich mich entwickelte, wie sehr ich sie vermisse und wie oft ich nach ihr fragte. Aber nichts davon konnte sie dazu bewegen auch mal außer der Reihe nach Hause zu kommen.

Ich hätte tatsächlich statt all der schönen Sachen viel lieber meine Mutti bei mir gehabt, aber davon wollte sie niemals was hören. Sie hatte immer neue Entschuldigungen dafür, nicht nach Hause kommen zu können. So ein hübsches Paket mit kleinen Überraschungen darin tut es doch schließlich auch. Oder nicht?


Selbstverständlich war da auch immer eine Karte oder ein kurzer Brief in den Päckchen, den mir Oma dann natürlich vorlas. Ich freute mich zunächst über diese kleinen Zwischengaben und ein Lebenszeichen von meiner Mutter. ‚Sie hat mich doch noch nicht ganz vergessen‘ dachte ich dann und freute mich. - Allerdings freute ich mich weniger über die „lieben“ bedauernden Worte, die sie mir dann immer am Schluss in diesen kurzen Karten und Briefen schrieb.


Ja so war das immer: Mit dem Eintreffen dieser Schlechtes-Gewissen-Gaben war leider auch ein sehr großes ABER verbunden. Es bedeutete, dass sie wieder einmal einen fest versprochenen Besuch absagte ... natürlich aus wichtigem Grund. – Nur milderte das meine Enttäuschung, Wut und Traurigkeit in keiner Weise. Dann liefen wieder die Tränen und Oma und Opa wischten sie fort und trösteten, so gut sie konnten.

Und all die schönen neuen Sachen, die sie mir schickte, blieben daher meistens kaum beachtet irgendwo in der Ecke liegen. Ich wollte sie gar nicht haben ... Ich wollte meine Mutti! Aber das interessierte sie schon damals nicht. Sie erwartete für ihre Geschenke mein Verständnis, meine Dankbarkeit und das fiel mir damals sehr schwer.

Und wieder einmal halfen mir meine Großeltern über meine Enttäuschung und Wut hinweg. Die hübschen neuen Sachen, die meine Mutter mir schickte, und die ich rundweg ablehnte, landeten meistens in Paketen, die meine Oma in die DDR schickte, wo einige ihrer Kinder mit ihren Familien lebten. Und deren Kinder freuten sich über die hübschen Sachen.

Wenn meine Mutter mich aber dann wirklich mal besuchte, kam sie freitags am Mittag an und fuhr sonntags am Nachmittag wieder weg.

Für mich war das jedes Mal gefühlsmäßig eine Achterbahnfahrt. An den Freitagen, an denen sie ankam, war ich oben, an den Sonntagen, wenn sie nachmittags wieder wegfuhr, war ich ganz unten.

Ich war an den Tagen, an denen sie kam, morgens schon nach dem Aufstehen so aufgeregt, dass ich kaum frühstücken konnte und auch sonst kaum zu bändigen war.

Und auch als ich etwas größer war und schon zur Schule ging, konnte ich mich an diesen Tagen nur schwer auf den Unterricht konzentrieren. Ich malte mir dann aus, wie sie nach der Schule draußen auf mich wartete um mich zu überraschen und mich abzuholen, und ich dann stolz jedem zeigen konnte, was für eine hübsche Mutti ich hatte, und dass sie sich doch um mich kümmerte. – Leider erfüllte sich dieser Wunsch nie.

Nach der Schule wartete ich dann voller Spannung vor dem Haus darauf, dass das Taxi, in dem meine Mutter saß, endlich die Straße herauf gefahren kam. Mit mir zusammen wartete fast immer Opa unten auf der Straße, machte einige seiner Späße, die ich so liebte und er brachte mich zum Lachen, um mich ein wenig abzulenken, denn meine Aufregung und Spannung bis Mutti kam, waren sehr groß.

War sie dann endlich da, war meine Freude grenzenlos und ich wollte den ganzen Tag nicht mehr von ihrer Seite weichen. Zuerst funktionierte das auch gut: Ich war ja klein und niedlich. Sie spielte mit mir, wir gingen zusammen mit meiner Oma spazieren oder fuhren mit dem Bus in die Stadt zum Einkaufen und Eis essen. Das waren richtig schöne Tage. Für eine kleine Weile war meine Welt wieder in Ordnung, und ich war glücklich. Mutti war da und das war das Allerwichtigste!

So hätte es weiter gehen können, doch leider blieb es nicht so…

Denn dann kamen die Sonntage, an denen es immer wieder hieß, Abschied zu nehmen, weil meine Mutter zurück in die Großstadt fuhr.


Und wenn es dann Zeit für sie war, sie Schuhe und Mantel anzog, wusste ich, gleich ist sie wieder weg und ich fing an zu weinen, klammerte mich an sie, so fest ich nur konnte, bettelte und schluchzte: „Bitte nimm mich doch mit Mutti, bitte nimm mich mit!“ Aber sie schüttelte nur den Kopf, seufzte und sagte: „Das geht nicht. Mutti muss doch arbeiten! Da habe ich gar keine Zeit, mich um dich zu kümmern, Kind. Ich komme doch bald wieder. Nun sei ein großes Mädchen, sei tapfer und hör auf so zu weinen. Weinen macht hässlich und du bekommst eine ganz schrumpelige Haut! Du möchtest doch später mal so hübsch werden wie die Mutti ... dann musst du auch aufhören zu weinen!“

Dann klingelte es an der Wohnungstür, das Taxi war da. Ich klammerte mich noch fester an meine Mutti, weinte bittere Tränen und sagte voller Verzweiflung: „Bitte nimm mich mit. Bitte! Ich bin doch auch ganz lieb!“ Aber sie schob mich nur ungeduldig von sich weg und sagte ziemlich ungehalten zu meiner Oma: „Jetzt halt doch mal das Kind fest, ich muss gehen, das Taxi wartet und die Uhr läuft!“

Dann drehte sie sich um, winkte mir zum Abschied noch einmal kurz zu, die Tür schloss sich hinter ihr, und weg war sie. Ich blieb zurück, sah auf die geschlossene Tür. Es tat so weh, dass sie mich wieder einmal nicht mitgenommen hatte. In diesen Momenten brach für mich jedes Mal aufs Neue meine kleine Welt zusammen, und mein Herz schien in eine Million Teile zu zerspringen. Ich verstand das einfach nicht, fühlte mich irgendwie schuldig. Wieso wollte sie mich denn bloß nicht bei sich haben? Ich saß da und weinte bitterlich, war kaum zu beruhigen. Immer wieder starrte ich auf die geschlossene Tür. „Mutti ... Mutti!!“

Überall in der Wohnung roch es noch nach ihrem Parfüm und nach ihrem Haarspray ... es roch nach Mutti. Ich umklammerte das Kissen auf dem Sofa, an das sie sich noch am Vormittag angelehnt hatte und das auch noch immer nach ihrem Parfüm roch. Tief atmete ich den Geruch des Kissens ein und hatte ein klein wenig das Gefühl, dass sie irgendwie noch da war.

Ich fühlte mich so verlassen. Sie war gegangen. Wieder einmal. Und wieder einmal ohne mich. Warum hatte sie denn nur keinen Platz und keine Zeit für mich in ihrem neuen Leben in der großen Stadt ... ‚Warum hast du mich nicht lieb Mutti?‘ dachte ich voller Schmerz und Verzweiflung. Eine Frage, die ich mir noch sehr oft stellen sollte in meinem Leben ... und die nie eine Antwort finden würde.

Meine Oma brauchte nach den Kurzbesuchen meiner Mutter immer lange, um mich einigermaßen zu beruhigen. Und so ging das jedes Mal, wenn meine Mutter „zu Besuch“ war. Himmel und Hölle. Berg und Talfahrt. Und jedes Mal zerbrach mein kleines Herz aufs Neue.


Die Tage nach ihrer Abreise vergingen sehr langsam. Aber dann gewann ich, wie jedes Mal, mein Gleichgewicht ganz allmählich wieder zurück. Das Leben ging weiter, dank meiner liebevollen Großeltern. (Gott segne alle Großeltern!) Sie schafften es immer wieder, meine kleine Welt zu reparieren, sie gerade zu rücken und heile zu machen ...


Aber Gott sei Dank gibt es ja die Zeit und mit jedem neuen Tag ging es mir dann wieder besser.


Ich war ein Kind, das kaum drinnen zu halten war. Ich wollte immer draußen sein, denn es gab stets was Spannendes zu entdecken in der Natur.

Wenn es nicht regnete, ging ich schon nach dem Frühstück raus auf die Straße zum Spielen und kam erst wieder zum Mittagessen nach Hause.

Und wenn dann um 6 Uhr am Abend die Kirchenglocke unserer kleinen Gemeinde läutete, war das für mich das Zeichen zum Abendessen nach Hause zu gehen, denn eines hatte Oma mir schon sehr früh beigebracht: „Wenn um 12:00 Uhr die Glocken läuten kommst du nach Hause zum Mittagessen und wenn du am Abend um sechs die Glocken läuten hörst kommst du zum Abendessen.“ - Das Leben in unserer kleinen Gemeinde am Rande unserer Heimatstadt war schön, gut und voller Regelmäßigkeit für mich ... eigentlich. Alles dort fühlte sich so richtig an.

Allerdings gab es da in meiner kleinen heilen Welt aber auch einige Ausnahmen, die mir das Leben so manches Mal ziemlich schwer machten und mit denen ich mich damals immer wieder auseinandersetzen musste. Dinge, von denen „Mutti“ nichts wusste und auch später nichts wissen wollte. Und die meine Großeltern ihr auch oftmals verschwiegen, weil sie die endlosen Diskussionen, Vorwürfe und Rechtfertigungen von ihr einfach nicht mehr hören wollten.

Außerdem: Sie konnte ohnehin in solchen Situationen nicht helfen, denn sie war ja weit weg und beschäftigt damit, den Herren der Schöpfung schöne Augen zu machen und den Kopf zu verdrehen. Entscheidungen für mich mussten stets allein meine Großeltern treffen. Und eigentlich war das auch ganz gut so.

Als ich mich meiner Mutter später, als ich schon fast erwachsen war, versuchte anzuvertrauen, ihr mein Herz ausschütten wollte, fiel sie mir stets ins Wort, lachte mich aus und meinte nur vorwurfsvoll und voller Verachtung: „Das hast du dir doch alles nur eingebildet oder ausgedacht. Du hattest schon immer viel zu viel Fantasie! Du warst damals noch viel zu klein. Außerdem ist das alles schon so lange her, das kannst du ja heute gar nicht mehr wissen! Was glaubst du wohl was ich alles mitmachen musste damals, wie schlecht es mir gegangen ist und wie schwer ich es hatte! Du bist ein richtig undankbares Kind!“ Und mit einer wegwischenden Handbewegung machte sie mir unmissverständlich klar, dass es für sie keine weitere Diskussion darüber gab. – Tja, so war und so ist halt „Mutti.“ Immer so einfühlsam, liebevoll und fürsorglich ... und so voller Verständnis!


Leider war das alles, was ich erlebte, jedoch keineswegs Einbildung, und auch nicht meine Fantasie. Da irrte sie sich gewaltig ... Aber das interessierte sie nicht. Nie und zu keiner Zeit.

Wir hatten ja damals, wie bereits erwähnt, die frühen 60er. Diese Zeit war bekanntlich sehr konservativ und die meisten Menschen waren sehr zugeknöpft. Zudem war unsere Gemeinde ziemlich klein und Jeder kannte Jeden. Und selbstverständlich kannte auch fast jeder meine Großeltern und meine Wenigkeit.

Für mich wirkte sich das in verschiedenster Weise aus, und das nicht immer nur im Guten. Viele Nachbarn waren stets freundlich zu mir, andere wiederum betrachteten mich mit Verachtung oder manche sogar mit richtigem Hass ... wieder andere betrachteten mich mitleidig.


So kam es oftmals vor, dass auch Kinder erst gar nicht mit mir spielen durften, weil ich ein uneheliches Kind war und einige Eltern wohl befürchteten, dass ich einen schlechten Einfluss auf ihre Kinder haben könnte. Ich spürte häufig die Reserviertheit und Kälte der Menschen mir gegenüber. Sie waren zwar nicht direkt unfreundlich, wimmelten mich aber stets ab, wenn ich an ihre Türen klingelte und fragte, ob ich mit ihren Töchtern spielen dürfe. – Ich verstand damals noch nicht, warum sie sich so verhielten. Ich spürte nur, dass es sich sehr unangenehm in meinem Bauch anfühlte, weh tat und es mir als sehr ungerecht erschien. Ich versuchte in solchen Fällen immer, Omas Rat zu beherzigen, und ging diesen Leuten so gut ich konnte aus dem Weg.

Aber das alles war noch das Harmloseste von allem. Denn da gab es einige ältere Kinder in unserer Siedlung die mich, wann immer sich die Gelegenheit bot, beschimpften indem sie sich vor mir aufbauten, lachten, mit dem Finger auf mich zeigten und mich ‚einen Bastard‘ nannten. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinten, denn ich kannte dieses Wort nicht. Aber ich fühlte, dass es was Schlimmes sein musste. Vor allem aber tat es mir weh und ich spürte ihren Hass.

Als wir dann eines Tages alle zusammen am Tisch beim Abendessen saßen, fragte ich meine Oma ganz frei heraus: „Oma, was ist eigentlich ein Bastard?“ Und plötzlich war es mäuschenstill am Tisch. Alle sahen mich erschrocken an. Auch Oma und sogar Opa hatte sein Besteck auf die Seite gelegt. Dann wollte Oma wissen, wer denn sowas zu mir gesagt hatte. „Die dicke Babsi von nebenan sagt das andauernd zu mir. Und dann lacht sie immer so hässlich dabei!“, sagte ich bedrückt und traurig zu meiner Oma. „So etwas sagt man nicht, das ist ein ganz schlimmes Wort und wenn du etwas älter bist wird deine Mutti dir erklären, was damit gemeint ist. Sag Babsi, wenn sie noch mal sowas zu dir sagt, kriegt sie Ärger. Versuche ihr am besten aus dem Weg zu gehen. Opa wird aber trotzdem nachher mal mit ihrer Mutti darüber reden, damit das aufhört!“ Mein blinder Onkel, der ebenfalls mit am Tisch saß, meinte: „Lass mich das mal regeln ich gehe sowieso gleich zu Lehmans, da kann ich gleich mal bei Babsis Eltern klingeln und mit ihnen reden, denn so geht das nicht.“ Oma und Opa nickten zustimmend.

Babsi war ein ganz besonders gehässiges älteres Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich mochte sie nicht. Sie beschimpfte mich oft, indem sie sich vor mich hinstellte und höhnisch sagte: „Du hast ja noch nicht mal einen richtigen Vater.“ Dann lachte sie, schubste mich und trat nach meinen Spielsachen, mit denen ich draußen spielte.

Babsi war größer, kräftiger und älter als ich, und sie ließ keine Gelegenheit aus, mich zu ärgern und einzuschüchtern. Ich versuchte, ihr meistens aus dem Weg zu gehen, was nicht immer so einfach war, denn sie wohnte mit ihrer Familie im Nachbarhaus. Und ich hatte auch manchmal ein kleines bisschen Angst vor ihr. Aber das ließ ich mir natürlich nie anmerken.

Babsi hatte noch eine jüngere Schwester, die Bille hieß und die war ganz anders als ihre ältere Schwester. Sie war jünger als ich, etwas kleiner und hatte ihre Haare immer zu lustigen blonden Rattenschwänzen gebunden. Sie war stets fröhlich und freundlich. Wir waren das, was man damals Freundinnen nannte. Wir mochten dieselben Dinge und spielten draußen häufig zusammen, was sich schon deshalb anbot, weil wir ja Tür an Tür wohnten.

Fast täglich verbrachten wir Zeit zusammen. Aber auch ihre Mutter war mir gegenüber oft sehr reserviert. Manches Mal wenn, ich bei ihnen klingelte, um nach Bille zu fragen, wimmelte sie mich ab und meinte, dass Bille jetzt keine Zeit hätte, um mit mir zu spielen. Wenn sowas passierte, machte mich das nicht nur sehr traurig, sondern auch richtig wütend. Was hatten denn die Leute nur alle gegen mich, ich hatte ihnen doch überhaupt nichts getan!

Mutti, warum hast du mich nicht lieb?

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