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KAPITEL 3 Wir alle könnten durchdrehen
ОглавлениеDenkt man tagtäglich über besonders komplizierte und emotional schwierige Situationen nach, können allzu vereinfachte Verallgemeinerungen schnell die Oberhand gewinnen.
—DOROTHY DINNERSTEIN
The Mermaid and the Minotaur
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung wurde als „Modeerscheinung der 90er-Jahre“ bezeichnet. Die Skepsis über ihre tatsächliche Verbreitung wird durch die Tatsache geschürt, dass kein Merkmal der ADHS so einzigartig ist, dass es nicht zu einem gewissen Grad bei einer beliebigen Anzahl von Menschen in der nicht von ADHS betroffenen Bevölkerung gefunden werden kann. Mehrere Persönlichkeitsmerkmale in einem psychiatrischen Handbuch in einen Topf zu werfen, schafft nicht automatisch ein Krankheitsbild. Es ist mehr als einleuchtend, dass sich viel Menschen fragen, warum gewöhnliche Eigenschaften als Symptome einer medizinischen Störung definiert werden. Es wird nicht lange dauern, so warnen kritische Stimmen, und alle menschlichen Eigenschaften werden als Krankheit neu definiert werden. Im Jahr 1997 enthielt die Februar-Ausgabe des Harper’s Magazine einen überaus geistreichen Bericht über das DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), der von J. Davis verfasst worden war. Gemäß der derzeitigen psychiatrischen Diagnostik, schrieb Davis, „kann jeder Aspekt des menschlichen Lebens (mit Ausnahme natürlich der psychiatrischen Praxis) als Krankheitsbild gedeutet werden.“
Statistiken der Gesundheitsbehörde Health Canada deuten darauf hin, dass die im Jahr 1997 in Kanada eingenommene Menge an Ritalin seit 1990 um mehr als das Fünffache gestiegen ist. Allein im letzten Jahr dieses Zeitraums gab es einen Anstieg von 21 Prozent.1 Auch in den Vereinigten Staaten hat sich die Diagnose wie ein Lauffeuer verbreitet. Werden Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt, damit Erwachsene es leichter haben? Einige argumentieren, die Diagnose sei nur eine weitere medizinische Ausrede, die für den Seelenfrieden inkompetenter Eltern und fauler Lehrer ersonnen wurde sowie für sich selbst bemitleidende Erwachsene, die zu unreif sind, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein.
Selbst für diejenigen, die wie ich auch das Vorhandensein der neurophysiologischen und psychischen Beeinträchtigungen erkennt, die zusammengenommen als Aufmerksamkeitsdefizitstörung bezeichnet werden, gibt es durchaus berechtigte Fragen: hinsichtlich der Art und Weise, wie ADHS diagnostiziert wird, wie diese Störung verstanden werden sollte und vor allem, wie sie behandelt werden kann. Die Gesellschaft in Nordamerika versucht, viele Probleme unter Tonnen von Medikamenten zu begraben, weil sie es vorzieht, über die gesellschaftlichen und kulturellen Ursachen der gestressten Gemüter der Menschen hinwegzusehen. Die langfristigen gesellschaftlichen Folgen der massiven Medikamenteneinnahme bei der Behandlung von Depressionen, ADHS und einer Reihe anderer Krankheiten müssen sich noch zeigen. Auch für mich ist dies ein Grund zur Sorge, obwohl ich anderen Menschen Medikamente verschreibe und weiterhin selbst eines einnehme.
Vielen scheint darüber hinaus eine neurophysiologische Erklärung für Verhaltensweisen einem Versuch gleichzukommen, die eigenen Handlungen oder die von anderen zu entschuldigen, indem für Vergehen und Unzulänglichkeiten die Biologie verantwortlich gemacht wird. Sollen wir für das, was wir tun, nicht zur Rechenschaft gezogen werden? Ist ADHS ein Freibrief für hemmungsloses oder verletzendes Verhalten? In British Columbia behaupteten vor Kurzem die Verteidiger in einem Fall, in dem es um Vergewaltigung und Mord ging, ihr Klient könne nicht zur Verantwortung gezogen werden, da er an einer Zwangsstörung und einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leide. Klugerweise wies die Jury diese Sichtweise zurück. Wir alle müssen die Verantwortung für unsere Handlungen übernehmen, sonst wird das Leben auf der Welt unmöglich. Es wäre jedoch ein unglaublich großer sozialer Fortschritt, wenn wir uns ein wenig bemühen würden zu verstehen, welche Erfahrungen Menschen zu fehlerhaften, unverantwortlichen oder sogar antisozialen Wesen werden lassen. Dann würden wir beispielsweise das Problem der Kriminalität in einem völlig anderen Licht sehen. Verantwortlichkeit verlangt nicht notwendigerweise nach der strafenden Unmenschlichkeit des Rechtssystems, wie sie in Kanada und vor allem in den Vereinigten Staaten praktiziert wird. In diesen Ländern sitzt ein größerer Teil der Bevölkerung im Gefängnis als in jedem anderen westlichen Land. Es bestehen kaum Zweifel daran, dass ein signifikanter Prozentsatz der Gefängnisinsassen an ADHS oder einer anderen vermeidbaren Störung der Selbstregulation leidet.* Ebenso wenig Zweifel besteht daran, dass die Haftbedingungen kaum diabolischer hätten gestaltet werden können, um all diese psychischen Funktionsstörungen zu verschlimmern.
Wir stehen ADHS nicht hilflos gegenüber, sodass auf der persönlichen Ebene der Versuch, die Verantwortung für negative Verhaltensweisen auf Schaltkreise im Gehirn abzuwälzen, wenig hilfreich ist. Die Betroffenen sind dann in der Opferrolle gefangen. Egal wie vernünftig neurophysiologische Erklärungen auch sein mögen, niemandes Kinder, Ehepartner, Freunde oder Kollegen sollten das Recht dieses Menschen akzeptieren, sie respektlos zu behandeln oder zu verletzen. Etwas über die psychischen und biologischen Mechanismen von ADHS zu erfahren, gibt dem Selbst eine Landkarte in die Hand – aber eben nur eine Landkarte, nicht mehr. Auch wenn für die Menschen, die darüber nicht verfügen, kaum mehr als ein entmutigendes Gefühl des Scheiterns bleibt, darf die Landkarte nicht mit der Reise verwechselt werden. Es ist immer noch Sache des Einzelnen, den Kurs zu bestimmen.
Einige Eltern sträuben sich gegen die Vorstellung, ihr Kind habe ADHS, weil sie befürchten, dass es dann in eine bestimmte Schublade gesteckt wird. Ihnen gefällt der Gedanke nicht, einem Kind, dem es außer in bestimmten Funktionsbereichen recht gut geht, eine medizinische Diagnose anzuheften. Solche Befürchtungen sind nicht unbegründet. Allzu oft scheint ADHS nicht mehr als ein Urteil zu sein, das ein Kind als Problemschüler kennzeichnet, unfähig zu normalen Aktivitäten. Der Sprachgebrauch von Menschen ist ziemlich aufschlussreich. So heißt es im englischen Sprachraum oft, dass dieser Erwachsene oder dieses Kind „ADHS ist“. Das ist in der Tat eine Etikettierung, die den gesamten Menschen mit Schwäche oder Einschränkungen identifiziert. Niemand ist ADHS und niemand sollte bezüglich dieses oder irgendeines anderen Problems definiert oder kategorisiert werden.
ADHS bei einem Kind zu erkennen, sollte schlicht eine Möglichkeit sein zu verstehen, dass die Hilfe für dieses Kind einige sachkundige und kreative Ansätze erforderlich macht. Es sollte kein Urteil sein, dass irgendetwas grundlegend oder unwiederbringlich nicht in Ordnung ist. Diese Erkenntnis sollte uns ermöglichen, das Kind bei der vollen Ausschöpfung seines Potenzials zu unterstützen, statt es weiter einzuschränken.
Man muss damit rechnen, dass selbst aufgeschlossene Menschen Schwierigkeiten haben könnten, sich mit dieser Diagnose zu arrangieren. Unsere übliche Denkweise, wenn es um Krankheit geht (und im Grunde genommen auch um alles andere), kommt mit Unklarheiten nicht gut zurecht. Ein Patient hat eine Lungenentzündung oder er hat keine. Er hat entweder irgendeine Krankheit, die seine Psyche beeinträchtigt, oder er hat sie nicht. Jeder Geisteszustand, der als „anomal“ wahrgenommen wird, erzeugt bei vielen Menschen ein Unbehagen. Was aber ist, wenn Krankheit keine eigenständige Kategorie ist, wenn es keine Trennlinie zwischen „Gesunden“ und „Ungesunden“ gibt, wenn die „Anomalität“ lediglich eine größere Konzentration gestörter Hirnprozesse ist, die bei jedem zu finden ist? Dann gibt es vielleicht keine festgelegten, unveränderlichen Hirnstörungen und wir alle könnten unter dem Druck stressbeladener Umstände anfällig sein für mentale Zusammenbrüche oder Fehlfunktionen. Wir alle könnten durchdrehen. Vielleicht sind wir bereits an diesem Punkt.
ADHS trotzt allen Kategorien von Normalität und Abnormität. Wenn bei jedem, der irgendein ADHS-Merkmal aufweist, auch ADHS diagnostiziert würde, könnten wir Ritalin gleich in unser Trinkwasser geben und den meisten Menschen in den Industrieländern eine Gruppentherapie verordnen. Wie Dr. Hallowell und Dr. Ratey in Zwanghaft zerstreut oder Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein aufgezeigt haben, ist ADHS keine Diagnose einer Kategorie, sondern einer Dimension. An einem bestimmten Punkt des Kontinuums im Leben eines Menschen werden die mit ADHS assoziierten Eigenschaften so bestimmend, dass sie dessen Funktionsweise mehr oder weniger beeinträchtigen.
Fachleute, die mit ADHS-Kindern oder -Erwachsenen arbeiten, fällt es leichter, sich darüber zu einigen, wie sich ADHS äußert, als darüber, was sie ist. Der Begriff Störung ist in sich eine unzutreffende Bezeichnung. In der Medizin bedeutet Störung ein Leiden oder eine Krankheit, was ADHS ganz sicher nicht ist. Es geht hierbei vielmehr um eine Störung der Ordnung. „Wenn Sie viele der Merkmale von ADHS aufweisen“, sage ich zu Patienten, „und wenn diese in Ihrem Leben einen Mangel an Ordnung produzieren, dann haben Sie ADHS. Was ist Ordnung? Ein Sinn für Organisation. Eine bewusst geplante Abfolge von Aktivitäten. Zu wissen, wo die Sachen sich befinden, was man getan hat und was noch zu tun bleibt. Und wie nennen wir einen Mangel an Ordnung? Unordnung.“
Ich selbst sehe in ADHS keine Erkrankung im medizinischen Sinne. ADHS ist keine Krankheit, obwohl einige einflussreiche Experten es so genannt haben. ADHS ist eine Beeinträchtigung, wie beispielsweise eine Sehverschlechterung ohne Vorhandensein irgendeiner Krankheit.
Die Frage ist, woher diese Beeinträchtigungen, die tiefer liegenden physiologischen Funktionsstörungen und die damit zusammenhängenden Verhaltensweisen und psychischen Probleme kommen. Beim derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind noch keine endgültigen Antworten möglich, obwohl sich unser Verständnis des Gehirns in den letzten zehn Jahren erstaunlich erweitert hat.2 Angesichts dessen, was wir heute wissen – und was wir nicht wissen –, besteht der einzige Test für jede Erklärung der Aufmerksamkeitsdefizitstörung darin, ob diese im Lichte der Erfahrungen der Menschen und den aus der Forschung zur Verfügung stehenden Fakten Sinn ergibt und ob sie produktiv genutzt werden kann, um den Menschen zu helfen.
Nahezu alle Autoren von beliebten Büchern zu diesem Thema behaupten, ADHS sei eine vererbbare genetische Störung. Von einigen erwähnenswerten Ausnahmen abgesehen, beherrscht die genetische Sichtweise auch einen Großteil der Diskussionen in Fachkreisen. Mit dieser Sichtweise bin ich nicht einverstanden.
Ich bin der Ansicht, dass ADHS besser verstanden werden kann, wenn wir das Leben der Menschen beleuchten, nicht nur Bruchstücke ihrer DNA. Die Vererbung leistet zwar einen nicht unerheblichen Beitrag, der aber weit weniger ins Gewicht fällt, als gewöhnlich angenommen. Gleichzeitig wäre es zwecklos, auf den falschen Gegensatz zwischen Umgebung und genetischem Erbe zu setzen. Weder in der Natur noch in der Vorstellung eines seriösen Wissenschaftlers existiert eine solche Spaltung. Wenn ich in diesem Buch das Hauptaugenmerk auf die Umgebung lege, dann deshalb, weil die meisten Bücher zu diesem Thema diesen Bereich vernachlässigen und er in keinem von ihnen auch nur annähernd detailliert genug behandelt wird. Eine derartige Nachlässigkeit führt häufig zu lähmenden Defiziten, wenn es um die Behandlung der Menschen geht.
Es gibt viele biologische Vorgänge, an denen der Körper und das Gehirn beteiligt sind, die nicht direkt vom Erbgut programmiert sind. Und zu sagen, dass ADHS nicht in erster Linie genetisch bedingt ist, bedeutet keineswegs, ihre biologischen Merkmale zu bestreiten – weder die, die vererbt wurden, noch die, die durch Erfahrung erworben wurden. Die genetischen Blaupausen für die Architektur und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns entstehen in einem Prozess der Interaktion mit der Umgebung. ADHS spiegelt zwar biologische Fehlfunktionen in bestimmten Hirnzentren wider, aber viele ihrer Merkmale – einschließlich der zugrunde liegenden Biologie selbst – sind ebenfalls untrennbar mit den physischen und emotionalen Erfahrungen eines Menschen verbunden.
Es gibt bei ADHS eine ererbte Veranlagung, aber zu sagen, es gäbe eine genetische Vorbestimmung, hat damit wenig zu tun. Eine Vorbestimmung gibt vor, dass etwas zwangsläufig passieren wird. Eine Veranlagung macht es lediglich wahrscheinlicher, dass etwas abhängig von den Umständen passieren kann. Das tatsächliche Ergebnis wird von vielen anderen Faktoren beeinflusst.
* Eine schwedische Studie aus dem Jahr 1998 hat gezeigt, dass ADHS unter Gefängnisinsassen weit verbreitet ist.