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KAPITEL 6 Unterschiedliche Welten: Die Erbanlagen und die Umgebungen der Kindheit

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Die Familie, in der ich aufwuchs, war nicht die Familie, in der meine Brüder groß wurden. Sie wuchsen in einer Familie auf, die ständig unterwegs war und nie länger als einige Monate am selben Ort lebte. Sie wuchsen in einer Familie auf, in der sie mitbekamen, wie der Vater die Mutter regelmäßig verprügelte und ihr so lange ins Gesicht schlug, bis es unkenntlich und blau angelaufen war. Sie wuchsen in einer Familie auf, in der sie geohrfeigt, geschlagen und wegen Belanglosigkeiten erniedrigt wurden … Ich wuchs in einer Welt auf, die so anders war als die meiner Brüder, dass ich auch gut einen anderen Nachnamen hätte tragen können.

—MIKAL GILMORE

Das Herz der Gewalt

Das öffentliche Bewusstsein ist heute von einem genetischen Fundamentalismus erfasst. Man könnte ihn als Überzeugung zusammenfassen, dass fast jede Krankheit und jede menschliche Eigenschaft vom Erbgut vorgegeben ist. In vereinfachten, aus halb verdauten Forschungsergebnissen zusammengetragenen Medienberichten wurde erklärt, dass unbeugsame Gesetze der DNA die Welt der Biologie beherrschen.

Im Jahr 1996 wurde berichtet, dass unsere Gene nach Ansicht einiger Psychologen fast 50 Prozent der Neigung eines Menschen zum Glücklichsein ausmachen. Sozialkompetenz und Fettleibigkeit sind zwei weitere der vielen menschlichen Eigenschaften, von denen heute behauptet wird, sie seien genetisch bedingt. „Woche für Woche … wird ein neues Gen entdeckt, das mit irgendeiner Krankheit oder einem Charakterzug in Verbindung gebracht wird“, schrieb augenzwinkernd ein Mitarbeiter der New York Times. „Mit Tausenden, die es noch zu entdecken gilt, kann man sich leicht vorstellen, was es da draußen – oder da drin – noch alles gibt … Das Line-Dancing-Gen. Das Liebt-die-britische-Küche-Gen … Das Gerne-in-TV-Talkshows-gehen-und-sich-blamieren-Gen …“

Ob zutreffend oder nicht, eng gefasste genetische Erklärungen für ADHS und jede andere psychische Verfassung haben ihren Reiz. Sie sind leicht zu verstehen, sozial-konservativ und beruhigend für die Psyche. Sie lassen keine unbequemen Fragen darüber aufkommen, wie eine Gesellschaft und eine Kultur die Gesundheit ihrer Mitglieder untergraben kann, oder darüber, wie sich das Leben in einer Familie auf die Physiologie oder den emotionalen Zustand eines Menschen ausgewirkt haben könnte. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Schuldgefühle der Eltern eines Sorgenkindes fast unvermeidbar sind. Und allzu oft werden sie durch die schlecht informierten Urteile von Freunden, Nachbarn, Lehrern oder sogar völlig Fremden im Bus oder im Supermarkt noch verstärkt. Elterliche Schuld, selbst wenn sie unangebracht ist, ist eine Wunde, für die die genetische Hypothese Balsam ist.

Die Erbanlagen tragen wesentlich zu ADHS bei – die Anfälligkeit ist Thema des nächsten Kapitels –, aber ich glaube nicht, dass irgendein genetischer Faktor für das Auftreten von ADHS-Eigenschaften bei einem Kind entscheidend ist.1 Gene sind Codes für die Synthese der Proteine, die einer bestimmten Zelle ihre charakteristische Struktur und Funktion verleihen. Sie sind gewissermaßen lebendige und dynamische architektonische und mechanische Pläne. Ob der Plan realisiert wird, hängt von viel mehr ab als nur von dem Gen selbst. Er wird größtenteils von der Umgebung bestimmt. Mit anderen Worten: Gene enthalten Potenziale, die den Zellen eines bestimmten Organismus innewohnen. Welche der vielfachen Potenziale biologisch ausgedrückt werden, ist eine Frage der Lebensumstände.

Würden wir das medizinische Modell anwenden – nur vorübergehend, um der Diskussion willen –, wäre eine genetische Erklärung allein immer noch unpassend. Krankheiten, für die die Erbanlagen vollständig oder sogar größtenteils verantwortlich sind, zum Beispiel die Muskeldystrophie, sind selten. „Nur wenige Krankheiten haben rein genetische Ursachen“, sagt Michael Hayden, ein Genetiker an der University of British Columbia und ein weltweit angesehener Erforscher der Chorea Huntington. „Wir können höchstens sagen, dass einige Krankheiten in hohem Maße genetisch bedingt sind.“ Chorea Huntington ist eine todbringende Degeneration des Nervensystems, die auf einem einzigen Gen basiert, das im Falle einer Vererbung fast ausnahmslos diese Krankheit verursacht. Aber nicht immer. Dr. Hayden führt Fälle an, in denen Personen das Gen haben und ohne Anzeichen der Krankheit selbst ein hohes Alter erreichen. „Sogar bei Chorea Huntington muss es einen Schutzfaktor in der Umgebung geben“, sagt Dr. Hayden.

Gene können durch Umgebungsfaktoren ein- oder ausgeschaltet werden. In der indigenen Bevölkerungsgruppe der Cree im Nordwesten Ontarios ist beispielsweise die Diabetesrate fünfmal höher als die durchschnittliche Rate in ganz Kanada, trotz des traditionell niedrigen Vorkommens von Diabetes unter Ureinwohnern. Die genetische Konstitution der Cree-Bevölkerung kann sich in nur wenigen Generationen nicht verändert haben. Die Zerstörung der früher physisch aktiven Lebensweise der Cree, der Ersatz ihrer zuvor fett- und kohlenhydratarmen Essgewohnheiten durch eine kalorienreiche Ernährung sowie ein stark erhöhtes Stresslevel sind für den alarmierenden Anstieg der Diabetesraten verantwortlich. Die Erbanlagen spielen bei Diabetes zwar eine Rolle, sie können aber unmöglich für die pandemische Ausbreitung unter Kanadas Ureinwohnern oder dem Rest der nordamerikanischen Bevölkerung verantwortlich gemacht werden. Wir werden noch sehen, dass Veränderungen in der Gesellschaft in ähnlicher Weise dazu führen, dass immer mehr Kinder von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung betroffen sind.

Wenn es um genetische Informationen geht, ist es leicht, übereilte Schlüsse zu ziehen. So wurden beispielsweise im Rahmen einiger Studien bestimmte Gene identifiziert, die angeblich bei Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder mit anderen verwandten Krankheitsbildern wie Depression, Alkoholismus oder Sucht häufiger vorkommen. Aber selbst wenn die Existenz dieser Gene nachgewiesen ist, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sie allein die Entwicklung von ADHS oder einer anderen Störung herbeiführen können. Erstens wird nicht jeder, der diese Gene hat, an einer der Störungen erkranken. Zweitens wird nicht jeder, der an diesen Störungen leidet, Träger dieser Gene sein.

Studien zeigen, dass ein Kind, dessen Eltern oder Geschwister ADHS haben, selbst ein statistisch stark erhöhtes Risiko hat, ebenfalls ADHS zu bekommen. ADHS kommt zudem häufiger bei Menschen vor, bei denen Verwandte ersten Grades an Alkoholismus, Depressionen, Angst, Sucht, einer Zwangsstörung oder dem Tourette-Syndrom leiden. Solche Fakten lassen vielleicht vermuten, dass diese zusammengewürfelte Sammlung verwandter Syndrome weitgehend erblich ist. Aber diese Annahme käme dem Glauben gleich, dass in einer Familie mit drei Generationen von Fleischern, Bäckern oder Kerzendrehern die Zerlegung von Fleisch, das Backen von Brot und die Herstellung von Kerzen erblich sein müssen. Die Familienatmosphäre, in der das Kind die frühen prägenden Jahre verbringt, wirkt sich maßgeblich auf die Entwicklung des Gehirns aus. Es ist offensichtlich, dass Probleme des Gehirns/Geistes wie ADHS weitaus häufiger in Familien entstehen, in denen die Eltern selbst mit Funktionsstörungen oder psychischen Problemen zu kämpfen haben. Es wäre erstaunlich, wenn Kinder, die in einer derart unbeständigen Umgebung aufwachsen, nicht einige der gleichen Probleme entwickeln würden. Für all diese Erkrankungen ist keine Beteiligung von Genen erforderlich.2

In psychologischen Studien hält sich der Irrtum, dass der Vergleich eineiiger Zwillinge, die von unterschiedlichen Familien adoptiert wurden, es möglich macht, genetische Auswirkungen von Umgebungseinflüssen zu trennen. Da von verschiedenen Eltern adoptierte eineiige Zwillinge unter unterschiedlichen Bedingungen aufgezogen werden, wird angenommen, dass jedwede Ähnlichkeiten in den Charakterzügen auf das gemeinsame Erbgut zurückzuführen sind. Die Ursache für alle charakterlichen Unterschiede soll dagegen in den unterschiedlichen Umgebungen liegen. Diese irrige Annahme hat das herkömmliche Verständnis der Aufmerksamkeitsdefizitstörung stark beeinflusst. Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass es, wenn einer der Zwillinge ADHS hat, eine 50- bis 60-prozentige Wahrscheinlichkeit gibt, dass der andere ebenfalls ADHS hat. Der Fachterminus für diese Wahrscheinlichkeit lautet Konkordanz. Eine solch hohe Konkordanzrate wird als Nachweis für eine erbliche Verursachung herangezogen – aber nur, wenn man die offensichtlichste Frage außer Acht lässt: Warum reicht die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen mit exakt den gleichen Genen nicht näher an 100 Prozent heran? Ebenfalls außer Acht gelassen wird ein sehr wichtiger Umgebungsfaktor: die Adoption selbst.

Eine ständig verfügbare, fürsorgliche Bezugsperson ist ein grundlegendes Bedürfnis des menschlichen Säuglings. Adoption bedeutet Trennung von der leiblichen Mutter, auf deren Körper, Stimme, Herzschlag und Biorhythmus ein Neugeborenes eingestimmt ist, wenn es zur Welt kommt. Wir können die verheerenden Auswirkungen, die eine solche Trennung auf das beeinflussbare Nervensystem des Säuglings haben kann, nicht einfach abtun. Nicht wenige Adoptionen – darunter eine erhebliche Anzahl der in veröffentlichten Studien untersuchten Adoptionen – finden mehrere Monate oder länger nach der Geburt statt. Viele Adoptivkinder müssen mehrere Wechsel von Betreuungspersonen über sich ergehen lassen, ohne dass eine einzige, durchweg zuverlässige Mutterfigur ihnen eine konstante, sichere Beziehung bieten würde. Bedenkt man, dass emotionale Sicherheit ein absolutes menschliches Bedürfnis in der Kindheit ist, ist es erstaunlich, dass eine Adoption so häufig als möglicherweise entscheidender Einfluss vergessen wird.

Wie mir eine Reihe von Adoptivmüttern mitgeteilt hat, ist es auch eine Tatsache, dass es, selbst wenn ein Neugeborenes direkt nach der Geburt mit großer Freude und gutem Willen in einer Familie willkommen geheißen wird, vermutlich einige Zeit dauern wird, bevor eine wahrhaft symbiotische, beidseitig physiologisch und emotional eingestimmte Beziehung zwischen Mutter und Kind zustande gekommen ist. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen verläuft dieser Prozess problemloser, wenn die Mutter das Kind selbst neun Monate lang in ihrem Körper getragen hat.

Es gibt eine weitere Umgebung, die adoptierte Zwillinge geteilt haben: neun Monate in derselben Gebärmutter. Ist die Mutter während der Schwangerschaft Stress ausgesetzt, kann dies den Hormonspiegel in ihrem Körper aus dem Gleichgewicht bringen, vor allem den Spiegel des Stresshormons Cortisol (Cortison). Sowohl während als auch nach dem Leben in der Gebärmutter wirkt sich Cortisol direkt auf das sich entwickelnde Nervensystem aus. Mütter, die unter starkem Stress stehen, bilden die überwiegende Mehrheit der Schwangerschaften, die zu einer Adoption führen. Es handelt sich dabei häufig um ungewollte Schwangerschaften, vielfach von Mädchen im Teenageralter, die unter einem enorm großen persönlichen, familiären und sozialen Druck stehen. Kleinkinder – Zwillinge oder einzelne Kinder –, die adoptiert werden, sind vermutlich während der gesamten neun Monate der Schwangerschaft hohen Werten von Stresshormonen ausgesetzt, was sogar vor der Geburt einen negativen Einfluss auf ihr heranwachsendes Gehirn bedeutet.3

Aus diesen Gründen können wir davon ausgehen, dass alle adoptierten Kinder einem ungewöhnlich hohen Risiko für psychische Probleme im Allgemeinen und für ADHS im Besonderen ausgesetzt sind, ohne auf genetische Erklärungen zurückgreifen zu müssen. Dies ist eine Tatsache. Jeder Therapeut, der mit ADHS-Fällen arbeitet, ist beeindruckt von der großen Zahl von Patienten, Kindern oder Erwachsenen, die in der frühen Kindheit adoptiert wurden. In einer Studie aus dem Jahr 1982 wurde festgestellt, dass „die Adoptionsrate unter ADHS-Patienten in der klinischen Population 8- bis 16-mal höher war als unter adoptierten Kindern in der breiten Bevölkerung.“4

Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass alle Babys bei der Geburt gleich sind oder dass es keine angeborenen Unterschiede in den neurologischen Systemen von einem Säugling zum nächsten gibt. Mütter berichten, einige charakteristische Persönlichkeitsmerkmale ihrer Babys direkt nach der Geburt oder sogar schon vorher bemerkt zu haben. So sind einige Säuglinge zum Beispiel vielleicht schwerer aufzuwecken, andere schwerer zu beruhigen. Einige können außerordentlich empfindlich sein, andere relativ unempfänglich für Umweltreize wie Lärm oder Berührung. Stanley Greenspan hat hierfür den Begriff „Reaktionsmuster“ geprägt. In seinem 1997 erschienenen Buch The Growth of the Mind beobachtet Dr. Greenspan, dass die gleiche Kombination biologischer Merkmale – genau das gleiche Reaktionsmuster – viele positive menschliche Eigenschaften darstellen oder als Grundlage für schwer gestörte Merkmale dienen kann. „Ob diese Merkmale zu Talenten oder zu Problemen werden, hängt, kurz gesagt, davon ab, wie die Natur des Kindes genährt wird“, schreibt er.5 Den entscheidenden Unterschied machen die Umgebungen aus, in denen die Kinder aufgezogen werden.

Eine ADHS-Sichtweise, die die Bedeutung der Umgebung anerkennt, ist grundsätzlich optimistisch. Wenn umgebungsbedingte Ursachen weitgehend für ein Problem verantwortlich sind, dann können vielleicht umgebungsorientierte Ansätze dazu beitragen, dieses Problem zu lösen. Wenn wir zu den Kapiteln kommen, in denen es um die Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizitstörung geht, werden wir sehen, dass langfristige positive Veränderungen auf der Basis von Veränderungen der Umgebung von Kindern und sogar von Erwachsenen tatsächlich möglich sind.

Ein dramatisches Beispiel dafür, wie die Umgebung die Persönlichkeit prägt, ist die Geschichte der Familie Gilmore.

Am 17. Januar 1978 wurde in Utah der verurteilte Doppelmörder Gary Gilmore durch ein Exekutionskommando hingerichtet. Seine starre Weigerung, gegen sein Todesurteil Berufung einzulegen, sorgte damals für ein gewisses Maß an internationaler Berühmtheit. Die niederschmetternde Geschichte seiner Kindheit, die von familiärer Gewalt, Alkoholismus und Boshaftigkeit zerstört wurde, hat sein Bruder Mikal Gilmore später in seinen Memoiren Das Herz der Gewalt niedergeschrieben. Mikal, der jüngste von vier Brüdern, wurde geboren, als Gary elf Jahre alt war. Wenn Kinder, die in der gleichen Familie aufgezogen werden, die gleiche Umgebung teilen, müssten die Unterschiede zwischen den Geschwistern auf die Erbanlagen zurückzuführen sein. Im Falle der Gilmores ist unschwer zu erkennen, warum Mikal, der in einer Zeit geboren wurde, in der die Familie relativ stabil war, das Gefühl hatte, in einer anderen Welt groß geworden zu sein, und warum die Not seiner Kindheit, wie er es ausgedrückt hat, so völlig anders war als die Not seiner Brüder, als diese Kinder waren. Selbst ohne so tiefe Kluften ist die Umgebung von Geschwistern nie die gleiche.

Die Umgebung hat einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Strukturen und Schaltkreise des menschlichen Gehirns, als man sich noch vor zehn Jahren vorstellen konnte. Sie ist es, die das ererbte Genmaterial prägt. Für mich ist sie der entscheidende Faktor, ob ADHS-Beeinträchtigungen bei einem Kind nun auftreten oder nicht.

Viele Variablen beeinflussen die besondere Umgebung, die ein Kind erlebt. Vor allem die Geburtenfolge sorgt bei Geschwistern für unterschiedliche Verhältnisse. Das ältere Geschwisterkind muss den Schmerz erleiden zu erleben, dass die Eltern ihre Liebe und Aufmerksamkeit einem Eindringling zuwenden. Das jüngere Geschwisterkind muss möglicherweise lernen, in einer Umgebung zu überleben, in der ein stärkerer, unter Umständen feindlicher Rivale zu Hause ist, und wird weder den besonderen Status noch die Bürde, das einzige Kind zu sein, jemals erleben. Die volle Last unbewusster elterlicher Erwartungen richtet sich viel eher auf das erstgeborene Kind. Historische Studien über die Geburtenfolge haben ergeben, dass diese – vergleichbar mit dem Geschlecht – einen wichtigen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung hat.6

Es kann sein, dass die wirtschaftliche Lage der Eltern bei der Geburt des ersten Kindes besser ist als später, wenn weitere Kinder zur Welt kommen. Oder historische oder gesellschaftliche Umstände können, wie im Fall meiner Herkunftsfamilie, ungeheuerliche Auswirkungen auf den Gemütszustand der Eltern und damit auf die Persönlichkeiten ihrer Kinder haben. Ich wurde im Jahr 1944 als Kind jüdischer Eltern in Budapest in Ungarn geboren. Ich hatte einen schlechten Zeitpunkt gewählt und kam zwei Monate vor der Besetzung meines Geburtslandes durch die Nazis und mehr als ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Welt. Der erste meiner beiden Brüder wurde zweieinhalb Jahre später geboren, in einer Zeit des Friedens, des Optimismus und der immens großen emotionalen Erleichterung. Es versteht sich von selbst, dass sich das psychische Gleichgewicht meiner Eltern zwischen meiner Geburt und der meines Bruders drastisch verändert hatte, ebenso wie das Ausmaß der Angst, die sie auf ihre Söhne übertrugen.

Weniger als zwei Jahre, nachdem sich meine Familie als mittellose Flüchtlinge in Kanada niedergelassen hatte, wurde der jüngere meiner Brüder geboren. Wir waren nach dem Volksaufstand im Jahr 1956 aus Ungarn geflohen, als meine Eltern, zu der Zeit im mittleren Alter, beschlossen, die Unsicherheiten und Turbulenzen Osteuropas für immer hinter sich zu lassen. Vielleicht war es ein Glück, dass sie die Schwierigkeiten, sich an ein neues Leben auf einem neuen Kontinent anzupassen, nicht vorhersehen konnten. Ihr dritter Sohn wurde mitten in einer Zeit der wirtschaftlichen Not und Ungewissheit über die Zukunft geboren. Meine Mutter erinnert sich, dass sie während der gesamten neun Monate ihrer Schwangerschaft geweint hat, und sie hat immer noch Schuldgefühle wegen der schweren postpartalen Depression, an der sie während des ersten Lebensjahres ihres jüngsten Sohnes gelitten hat.

Drei Brüder und meiner Ansicht nach auch drei unterschiedliche Elternpaare. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass mein jüngster Bruder und ich beide wegen einer Depression und einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung in Behandlung waren. Unser mittlerer Bruder nicht.

Selbst ohne Weltkriege, Revolutionen und Emigration werden Geschwister, die im selben Heim aufwachsen, nie in der gleichen Umgebung groß. Genauer gesagt, Brüder und Schwestern teilen die gleichen Umgebungen – in der Regel die weniger wichtigen –, aber sie teilen selten die eine Umgebung, die sich am stärksten auf die Persönlichkeitsbildung auswirkt. Sie leben vielleicht im selben Haus, essen dieselben Nahrungsmittel und nehmen an vielen gleichen Aktivitäten teil. Dies sind Umgebungen von zweitrangiger Bedeutung. Von allen Umgebungen ist diejenige, die die menschliche Persönlichkeit besonders tiefgreifend prägt, die unsichtbare Umgebung: Die emotionale Atmosphäre, in der das Kind während der entscheidenden ersten Jahre der Entwicklung seines Gehirns lebt. Die unsichtbare Umgebung hat mit Erziehungsphilosophien oder Erziehungsstilen wenig zu tun. Es geht vielmehr um Nichtgreifbares: An erster Stelle steht dabei die Beziehung der Eltern zueinander und deren emotionales Gleichgewicht als Individuen. Diese können ebenfalls von der Geburt des einen Kindes bis zur Ankunft des nächsten beträchtlich variieren. Psychische Spannungen im Leben der Eltern im Kleinkindalter eines Kindes sind – davon bin ich überzeugt – ein wichtiger und universeller Einfluss auf die nachfolgende Entstehung von ADHS. Darauf werden wir in späteren Kapiteln zurückkommen.

Ein verborgener Faktor von großer Wichtigkeit ist die unbewusste Einstellung eines Elternteils zu seinem Kind: Was oder wen stellt das Kind auf der tiefsten Ebene für die Eltern dar. Das Ausmaß, in dem die Eltern sich selbst in dem Kind sehen. Die Bedürfnisse, die die Eltern haben mögen und von denen sie unbewusst hoffen, dass das Kind sie erfüllen wird.

Für das Kleinkind existiert keine abstrakte „da draußen“ liegende Realität. Das emotionale Milieu, mit dem wir es umgeben, ist für das Kind die Welt, die es erlebt. In den Worten der Kinderpsychiaterin und Forscherin Margaret Mahler ist der Elternteil für das Neugeborene „der wichtigste Repräsentant der Welt.“7 Für den Säugling und das Kleinkind zeigt sich die Welt im Bild des Elternteils: im Blickkontakt, in der Intensität des Blicks, in der Körpersprache, im Tonfall der Stimme und vor allem in der alltäglichen Freude oder emotionalen Erschöpfung, die in der Gegenwart des Kindes gezeigt werden. Welche Intention auch immer ein Elternteil hat, sind dies die Wege, über die das Kind seine prägendsten Botschaften bekommt. Obwohl sie für die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes von höchster Wichtigkeit sind, werden diese subtilen und häufig unbewussten Einflüsse in psychologischen Fragebögen oder Beobachtungen der Eltern in klinischen Situationen häufig außer Acht gelassen. Es gibt keine Möglichkeit, den Grad eines weichen Tonfalls oder die Angst in einer Stimme, die Wärme eines Lächelns oder die Tiefe von Stirnfalten zu messen. Wir haben keine Instrumente, um die Anspannung im Körper eines Vaters, während er sein Baby hält, zu bestimmen, oder zu erfassen, ob der Blick einer Mutter von Sorge verschleiert oder voll ruhiger Erwartung ist.

Man könnte anführen, dass zwei Kinder nie genau die gleichen Eltern haben, da die Erziehung, die jedem von ihnen zuteilwird, ganz erheblich variieren kann. Wie auch immer die Hoffnungen, Wünsche oder Absichten des Elternteils sein mögen, das Kind erlebt den Elternteil nicht direkt: Das Kind erlebt das Verhalten des Elternteils. Ich habe zwei Geschwister gekannt, die grundverschiedener Meinung über die Persönlichkeit ihres Vaters während ihrer Kindheit waren. Keines von beiden Geschwisterkindern muss falsch liegen, wenn wir verstehen, dass sie nicht die gleiche väterliche Behandlung bekommen haben, die ihre Vatererfahrung geprägt hat. Ich habe selbst miterlebt, wie ein Paar eineiiger Zwillinge unterschwellig, aber merklich unterschiedlich bemuttert wurde.

Im Fall der Gilmores wurden aus zwei der vier Brüder – Gary und Galen – Kriminelle, die gewaltsam zu Tode kamen, während es den beiden anderen – Frank und Mikal – unter großen Schwierigkeiten gelang, ein Gefühl für sich selbst und eine Identität als Menschen mit Selbstrespekt zu gewinnen. Wenn Frank und Mikal auf ihre Kindheit zurückblickten, erkannten sie klar, dass ihre bedauernswerten Geschwister die dunkleren Seiten ihrer Eltern zu spüren bekommen hatten, während sie selbst das kleine bisschen Helligkeit bekamen, das in ihrem Vater und ihrer Mutter leuchtete.

Die Auswirkungen der Umgebung auf die Entwicklung des Gehirns und die Bildung der Persönlichkeit variiert von Kind zu Kind. Wie wir sehen, sind diese Einflüsse zunächst einmal verschiedenartig. Darüber hinaus wirken sie auf unterschiedliche Individuen ein. Wie das Kleinkind auf seine Umgebung reagiert, hat einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise, wie es die Welt erfährt. Es wäre für zwei Kinder nahezu unmöglich, in der gleichen Umgebung zu leben, selbst wenn ihre Welten bis ins kleinste Detail exakt aufeinander abgestimmt wären.

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