Читать книгу Unruhe im Kopf - Gabor Mate - Страница 18

KAPITEL 9 Einstimmung und Bindung

Оглавление

Es scheint, als würde unsere Fähigkeit der Regulation emotionaler Zustände von früher Kindheit an von der Erfahrung des Gefühls abhängen, dass ein wichtiger Mensch in unserem Leben gleichzeitig einen ähnlichen Gemütszustand erlebt.

—DR. DANIEL J. SIEGEL

Die Bereiche des Cortex, die für Aufmerksamkeit und Selbstregulation zuständig sind, entwickeln sich als Reaktion auf die emotionale Interaktion mit der Person, die wir als Mutterfigur bezeichnen können. Normalerweise ist das die leibliche Mutter, aber abhängig von den Umständen kann es auch eine andere Person sein, ob männlich oder weiblich. Obwohl ich der Einfachheit halber diese Person nur als Mutter bezeichnen werde, sollte dies immer so verstanden werden, dass es hierbei um die wichtigste Bezugsperson geht – Vater, Mutter, Großmutter oder Großvater, Pflegeelternteil oder Adoptivelternteil beiderlei Geschlechts. Da die Gefühlszustände der Mutter die Bildung der Schaltkreise im Gehirn des Kindes beeinflussen, vermute ich, dass ADHS auf Belastungen zurückzuführen ist, die ihre emotionalen Interaktionen mit dem Kind beeinträchtigen. Sie sind die Ursache der gestörten elektrischen und chemischen Schaltkreise bei ADHS. Verbundenheit und Einstimmung, zwei wesentliche Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung, sind die entscheidenden Faktoren. Sie sind das Thema dieses Kapitels.

Die rechte Gehirnhälfte der Mutter, die Seite mit den unbewussten Emotionen, programmiert die rechte Gehirnhälfte des Kindes. In den ersten Monaten findet der wichtigste Austausch zwischen Mutter und Kind unbewusst statt. Der Säugling, der die Bedeutung von Wörtern nicht verstehen kann, erhält Botschaften, die rein emotionaler Natur sind. Sie werden durch den Blick der Mutter, den Tonfall ihrer Stimme und ihre Körpersprache vermittelt, die allesamt ihre unbewusste innere Gefühlslage widerspiegeln. Alles, was die emotionale Sicherheit der Mutter bedroht, kann die sich entwickelnde elektrische Vernetzung und die chemische Versorgung der Systeme im Gehirn des Kindes, die die Emotionen regulieren und die Aufmerksamkeit zuteilen, beeinträchtigen. (Der betroffene Schaltkreis und die Gehirnchemie werden im nächsten Kapitel beschrieben.)

Innerhalb weniger Minuten nach der Geburt stimulieren die Gerüche der Mutter die Vernetzung von Millionen von Nervenzellen im Gehirn des Neugeborenen. Ein sechs Tage alter Säugling kann bereits den Duft seiner Mutter von dem anderer Frauen unterscheiden. Später dann werden mit Emotionen verbundene Inputs nach und nach zu den wesentlichen Einflüssen.

Im Alter von zwei bis sieben Wochen orientiert sich der Säugling eher am Gesicht der Mutter als an dem eines Fremden – auch eher als an dem des Vaters, es sei denn, der Vater hat die Rolle der Mutterfigur übernommen. Mit 17 Wochen folgt der Blick des Säuglings mehr den Augen der Mutter als den Bewegungen ihres Mundes und konzentriert sich damit auf das, was als „der sichtbare Teil des mütterlichen zentralen Nervensystems“ bezeichnet wird. Während des intensiven gegenseitigen Blickkontakts liest die rechte Gehirnhälfte des Säuglings die rechte Gehirnhälfte der Mutter. In einem Artikel im Scientific American hieß es dazu: „Embryologisch und anatomisch ist das Auge eine Erweiterung des Gehirns. Es ist fast so, als hätte man einen Teil des Gehirns direkt vor Augen.“1 Die Augen kommunizieren ausdrucksvoll den unbewussten Gemütszustand der Mutter:

Menschen nutzen die Pupillengröße, um Informationen über die Gefühle oder die Ansichten eines anderen Menschen zu erhalten – dies geschieht in der Regel auf einer unbewussten Ebene. Erweiterte Pupillen treten auf, wenn Freude oder Lust empfunden werden, und sind ein Zeichen für „Interesse“ … Experimente haben gezeigt, dass die Pupillen von Frauen beim Anblick eines Babyfotos größer werden. Aber am wichtigsten ist … erweiterte Pupillen führen beim Betrachter ebenfalls zu einer Erweiterung der Pupillen. In einer Studie zur Entwicklung lächelten die Säuglinge mehr, wenn die Pupillen einer weiblichen Versuchsleiterin eher erweitert als verengt waren …

Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er beim Blickwechsel mit einer anderen Person innerlich plötzlich intensive physiologische und psychische Veränderungen verspürt hat, die äußerst angenehm, aber auch sehr unerfreulich sein können. Die Art und Weise, wie eine Person eine andere ansieht, kann – wie in EEGs aufgezeichnet wurde – die elektrischen Gehirnmuster des anderen verändern und zudem auch physiologische Veränderungen im Körper herbeiführen. Ein Neugeborenes ist höchst empfänglich für derartige Einflüsse, die direkte Folgen für die Reifung der Gehirnstrukturen nach sich ziehen.

Die Auswirkungen der mütterlichen Stimmungen auf die elektrischen Schaltkreise im Gehirn des Säuglings wurden im Rahmen einer Studie an der University of Washington in Seattle demonstriert.2 Positive Emotionen stehen im Zusammenhang mit einer erhöhten elektrischen Aktivität in der linken Gehirnhälfte. Es ist bekannt, dass Depressionen bei Erwachsenen mit einer verminderten elektrischen Aktivität im Schaltkreis der linken Gehirnhälfte einhergehen. Mit dieser Vorgabe verglich die Studie von Seattle die EEGs von zwei Kleinkindgruppen: eine Gruppe, in der die Mütter Symptome einer postpartalen Depression zeigten, und eine andere, in der die Mütter keine Symptome zeigten. „Während spielerischer Interaktionen mit der Mutter, die positive Emotionen auslösen sollten“, berichteten die Forscher, „kam es bei den Kindern nicht-depressiver Mütter zu einer stärkeren Aktivierung der linken als der rechten Gehirnhälfte.“ Bei Kindern depressiver Mütter „trat keine differenzielle hemisphärische Aktivierung auf“, was bedeutet, dass die Aktivität in der linken Gehirnhälfte, die man bei einem positiven, freudigen Mutter-Kind-Austausch erwarten würde, trotz der größten Bemühungen der Mütter nicht zu verzeichnen war. Diese Auswirkungen wurden bezeichnenderweise nur in den vorderen Bereichen des Gehirns festgestellt, wo die Zentren für die Selbstregulation von Emotionen liegen. Zusätzlich zu den Veränderungen im EEG zeigen Säuglinge von deprimierten Müttern ein geringeres Aktivitätsniveau, eine Aversion gegen Blicke, weniger positive Emotionen und eine größere Reizbarkeit.

Mütterliche Depressionen werden mit einer verminderten Aufmerksamkeitsspanne des Säuglings in Verbindung gebracht. In einem Resümee einer Reihe britischer Studien weist Dale F. Hay, ein Forscher an der University of Cambridge, darauf hin, „dass die Erfahrung einer mütterlichen Depression in den ersten Lebensmonaten natürlich auftretende soziale Vorgänge stören kann, die die in der Entwicklung befindliche Aufmerksamkeitsfähigkeit des Säuglings fördern und regulieren.“3

Wie wichtig eine enge, selbst einen kurzen Moment andauernde Verbindung zwischen Mutter und Kind sein kann, zeigte eine gut durchdachte Studie, die als „Double TV Experiment“ bekannt wurde und bei der Säuglinge und Mütter über eine Videoüberwachungsanlage miteinander interagierten. In getrennten Räumen beobachteten sich Mutter und Kind gegenseitig und kommunizierten per „Live-Einspielung“ mithilfe der universellen Mutter-Kind-Sprache miteinander: Gesten, Geräusche, Lächeln, Gesichtsausdrücke. In dieser Phase des Experiments waren die Kinder glücklich. „Wenn den Kleinkindern unwissentlich die in der Minute zuvor aufgezeichneten ‚glücklichen Reaktionen‘ der Mutter vorgespielt wurden“, schreibt der Kinderpsychiater Daniel J. Siegel von der UCLA, „waren sie nicht weniger zutiefst verzweifelt als Kinder in den klassischen sogenannten ‚Still-Face-Experimenten‘, in denen das Gesicht der Mutter keine emotionale Reaktion auf die Forderung ihres Kindes nach Einstimmung zeigte.“4

Warum waren die Kinder trotz des Anblicks der fröhlichen und freundlichen Gesichter ihrer Mütter verzweifelt? Weil Fröhlichkeit und Freundlichkeit nicht ausreichen. Was die Kinder brauchten, waren Signale, dass die Mutter auf ihre Gemütszustände eingestimmt ist, auf sie reagiert und jeden Moment an ihrem Gemütszustand teilnimmt. All das fehlte bei der Videowiedergabe, bei der die Kinder sahen, dass das Gesicht ihrer Mutter nicht auf die Botschaften reagierte, die sie ihr sandten. Dieses Teilen von emotionalen Räumen wird als Einstimmung bezeichnet.5 Emotionaler Stress der Mutter beeinträchtigt die kindliche Gehirnentwicklung, da er sich in der Regel störend auf den Kontakt der Einstimmung auswirkt.

Einstimmung ist für die normale Entwicklung der Gehirnpfade und des neurochemischen Apparates der Aufmerksamkeit und emotionalen Selbstregulation erforderlich. Es ist ein Prozess der Feinabstimmung, der erforderlich macht, dass der Elternteil selbst in einer relativ stressfreien, angstfreien und nicht-depressiven seelischen Verfassung bleibt. Der deutlichste Ausdruck dieser Einstimmung ist der begeisterte direkte Blick, mit dem Mutter und Kind sich begegnen. Sie befinden sich in dem Moment in einem geschlossenen privaten und besonderen emotionalen Raum – der Rest der Welt ist ebenso vollständig ausgeschlossen wie im Mutterleib.

Einstimmung bedeutet nicht, das Kind mechanisch zu imitieren. Sie kann beim besten Willen nicht simuliert werden. Wie wir alle wissen, gibt es einen Unterschied zwischen einem echten und einem aufgesetzten Lächeln. Die für das Lächeln zuständigen Muskeln sind in beiden Fällen dieselben, aber die Signale, die diese Muskeln in Gang setzen, kommen nicht aus denselben Zentren im Gehirn. Die Folge ist, dass diese Muskeln je nach Ursprung der Signale unterschiedlich darauf reagieren. Aus diesem Grund können nur sehr gute Schauspieler ein echtes, von Herzen kommendes Lächeln spielen. Der Prozess der Einstimmung findet auf viel zu subtile Weise statt, um durch bloße Willensstärke des Elternteils aufrechterhalten zu werden. Säuglinge, vor allem besonders empfindsame Säuglinge, erkennen intuitiv den Unterschied zwischen dem echten psychischen Zustand eines Elternteils und dessen Versuchen, das Kind mit vorgetäuschten Gefühlsäußerungen zu beruhigen und zu schützen. Ein liebender Elternteil, der niedergeschlagen oder ängstlich ist, versucht vielleicht, diese Tatsache vor dem Kind zu verbergen, aber dieser Versuch ist zwecklos. Es ist in der Tat sehr viel einfacher, einen Erwachsenen mit gekünstelten Emotionen zu täuschen als ein Kleinkind. Das emotionale sensorische Radar des Kleinkindes ist noch vollständig intakt. Es kann Gefühle noch deutlich lesen. Sie können vor dem Säugling nicht hinter einer Wand aus Worten verborgen werden oder durch gut gemeinte, aber erzwungene Gesten verschleiert werden. Es ist bedauerlich, aber wahr, dass wir, bis wir erwachsen sind, in dieser Hinsicht immer mehr abstumpfen.

Bei der Einstimmung ist es der Säugling, der vorausgeht, und die Mutter, die ihm folgt. „Ihre Rollen unterscheiden sich durch das Timing ihrer Reaktionen“, schreibt John Bowlby, einer der bedeutenden Psychiatrieforscher des letzten Jahrhunderts.6 Seinem eigenen Rhythmus folgend leitet der Säugling die Interaktion ein oder entzieht sich ihr, stellte Bowlby fest, während die „Mutter ihr Verhalten so reguliert, dass es mit seinem korreliert … So lässt sie ihn den Ton angeben und erzeugt durch eine geschickte Verflechtung ihrer eigenen Antworten mit den seinen einen Dialog.“ Die angespannte oder niedergeschlagene mütterliche Bezugsperson wird nicht in der Lage sein, den Säugling in entspannte, glückliche Sphären zu begleiten. Darüber hinaus wird sie vermutlich Anzeichen der emotionalen Verzweiflung des Kindes nicht in vollem Umfang erfassen oder nicht dazu fähig sein, so auf sie zu reagieren, wie sie es gerne würde. Die Schwierigkeit des ADHS-Kindes, soziale Signale zu erkennen, liegt vermutlich darin begründet, dass seine Beziehungssignale nicht von seiner primären Bezugsperson, die durch Stress abgelenkt war, gelesen wurden.

Bei der Interaktion der Einstimmung folgt die Mutter nicht nur dem Kind, sondern lässt auch zu, dass das Kind den Kontakt vorübergehend unterbricht. Wenn die Interaktion ein bestimmtes Stadium der Intensität für das Kind erreicht hat, wird es wegschauen, um eine unangenehm starke Erregung zu vermeiden. Eine andere Interaktion beginnt dann. Eine ängstliche Mutter ist vielleicht alarmiert, wenn das Kind den Kontakt abbricht, und kann versuchen, es zu stimulieren und zurück in die Interaktion zu holen. Dann hat das Nervensystem des Kindes nicht die Möglichkeit „abzukühlen“ und die Einstimmungsbeziehung ist gestört.

Säuglinge, deren Bezugspersonen – aus welchem Grund auch immer – zu gestresst sind, um ihnen den erforderlichen Kontakt der Einstimmung zukommen zu lassen, wachsen mit der chronischen Neigung auf, sich mit ihren Emotionen allein gelassen zu fühlen. Niemand kann, zu Recht oder zu Unrecht, mit ihnen teilen, wie es sich anfühlt, dass niemand sie „verstehen“ kann.

Die Einstimmung ist die Quintessenz eines umfassenderen Prozesses, der Bindung genannt wird.7 Bindung ist schlicht unser Bedürfnis, jemandem nahe zu sein. Sie stellt das absolute Bedürfnis des gänzlich hilflosen und verletzlichen Säuglings nach sicherer Nähe zu zumindest einer fürsorglichen, schützenden und unaufhörlich verfügbaren Bezugsperson dar. Das überlebenswichtige Streben nach Bindung ist ein wesentlicher Bestandteil der Natur von Warmblütern im Kleinkindalter, insbesondere von Säugetieren.

Beim Menschen ist die Bindung länger als bei jedem anderen Tier eine treibende Kraft des Verhaltens. Für die meisten von uns ist dieses Bindungsbedürfnis unser ganzes Leben lang vorhanden, obwohl wir es von einer Person – unserer Mutter, unserem Vater – auf eine andere – zum Beispiel einen Ehepartner oder sogar ein Kind – übertragen können. Wir können auch versuchen, den Mangel an ersehntem menschlichem Kontakt mit verschiedenen anderen Mitteln zu befriedigen: zum Beispiel mit Süchten, mit fanatischer Religiosität oder der virtuellen Realität des Internets. In einem großen Teil der Popkultur, von Romanen über Filme bis hin zu Rock- oder Country-Musik, geht es um nichts anderes als um das Freud oder Leid, die sich aus der Erfüllung oder den Enttäuschungen in unseren Bindungsbeziehungen ergeben. Die meisten Eltern lassen ihren Kindern eine Mischung aus liebevollem und verletzendem Verhalten zukommen, aus kluger Erziehung und unerfahrener, unbeholfener Erziehung. Die Anteile variieren von Familie zu Familie, von Vater zu Mutter. Die ADHS-Kinder, deren Bedürfnis nach herzlichem elterlichem Kontakt am stärksten frustriert wird, werden im Erwachsenenalter zu den schwersten ADHS-Fällen.

Bereits im Alter von wenigen Monaten kann ein Baby mit seinem Gesichtsausdruck seine Niedergeschlagenheit darüber zum Ausdruck bringen, dass sich die Mutter trotz fortgesetzter physischer Anwesenheit unbewusst emotional zurückzieht. „(Der Säugling) freut sich über Mamas Aufmerksamkeit“, schreibt Stanley Greenspan, „und weiß, wann diese Quelle der Freude fehlt. Wenn die Mutter beim Spielen mit ihrem Baby geistesabwesend oder abgelenkt ist, zeichnet sich Traurigkeit oder Betroffenheit auf dem kleinen Gesicht ab.“8

Unruhe im Kopf

Подняться наверх