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KAPITEL 5 Die Zukunft bleibt außen vor

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Das Problem bei ADHS ist nicht, dass man nicht wüsste, was zu tun ist. Das Problem ist vielmehr, dann auch wirklich zu tun, was man weiß.

—DR. PHIL. RUSSELL A. BARKLEY

Improved Delayed Responding

Es ist nicht so, dass ich zu spät kommen will. Der Gedanke, dass ich mich verspäten werde, kommt mir nicht einmal in den Sinn. Es kann zum Beispiel sein, dass ich um neun Uhr morgens irgendwo sein muss, meilenweit entfernt – aber solange es noch nicht neun Uhr ist, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass ich noch alle Zeit der Welt habe. Gemeinsam mit anderen Ärzten und Krankenschwestern bin ich zur Visite im Krankenhaus von Vancouver eingeteilt. Um 8.50 Uhr springe ich unter die Dusche, immer noch zuversichtlich: Zwischen dem großen Zeiger der Uhr und der vollen Stunde ist Platz, ich bin also nicht zu spät.

Dass die Anfahrt immer länger dauert als erwartet, dass Eis vom Auto gekratzt werden muss, dass ich die Schlüssel nicht finde, dass ich im Verkehr stecken bleiben könnte, all das sind keine greifbaren Szenarien in meinem Kopf. Zwei Denkmuster ringen im Gehirn um die Kontrolle: Das eine ist logisch und achtsam, das andere das unreife Zeitgefühl eines Kleinkindes. Letzteres gewinnt meistens die Oberhand.

Erst wenn es neun Uhr schlägt und ich auf der Suche nach meinen Autoschlüsseln bin, setzt die Nervosität ein. Wenn ich dann aus der Tür gehe und feststelle, dass die Windschutzscheibe meines Wagens vollständig von Eis bedeckt ist, beginne ich zu fluchen. Wenn ich dann noch mehrfach die Treppe wieder hinaufhetzen muss, um meine Aktentasche, mein Mittagessen oder mein Stethoskop zu suchen, bin ich völlig frustriert.

An guten Tagen komme ich mit einer Viertelstunde Verspätung auf der Station an, ziehe Mantel und Hut aus und streife jeweils auf einem Bein durch den Flur hüpfend hektisch die Gummigaloschen von den Schuhen. Vor der Tür atme ich tief durch und betrete den Sitzungssaal. Die Visite ist bereits im Gange. „Okay, wir können anfangen“, sage ich. Nicht alle lachen.

Jeder Erwachsene mit ADHS kann Geschichten wie diese erzählen – sie zu erzählen ist lustiger als sie zu erleben, insbesondere für andere, denen die Verspätung und mangelnde Organisation Unannehmlichkeiten bereiten. Der ADHS-Geist ist von einer Art Zeitanalphabetismus befallen, den Dr. Russell Barkley als „Zeitblindheit“ beschrieben hat. Man ist entweder hoffnungslos zu spät, rast umher wie eine taube Fledermaus oder verhält sich, als hätte man alle Zeit der Welt. Es ist, als ob sich das eigene Zeitgefühl nie über ein Stadium hinaus entwickelt hätte, das andere Menschen in der frühen Kindheit hinter sich gelassen haben.

Für das Kleinkind scheint jeder Zeitabschnitt unendlich lang zu sein. Teilen Sie ihm mit, dass das Abendessen in drei Minuten fertig sein wird: Verzweifeltes Wehklagen wird seine Überzeugung kundtun, dass Sie es zum Hungertod verurteilt haben. Sagen Sie ihm, es soll sich beeilen, weil die Zeit knapp wird, und es wird nicht wissen, was Sie damit meinen. Wie sollte die Ewigkeit vergehen können? Für Kleinkinder gibt es nur zwei Zeiteinheiten: das Jetzt und das Nicht-Jetzt. Das Nicht-Jetzt ist die Ewigkeit.

Das Zeitgefühl des ADHS-Erwachsenen oder -Kindes ist noch auf eine andere Weise verzerrt. Wenn man Menschen mit ADHS fragt, wie lange es dauern wird, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, werden sie den Zeitaufwand oftmals unterschätzen. Eine Art magisches Denken herrscht vor, wie es charakteristisch für kleine Kinder ist: Wenn ich es will, wird es geschehen. Magie macht alles möglich. Ganze Schlösser können mit einem Schlenker des Zauberstabs erbaut oder zerstört werden, Welten werden in Siebenmeilenstiefeln durchquert, von Oz nach Kansas gelangt man, indem man die Hacken zusammenschlägt. Magie überwindet die Zeit.

Kein Kind wird mit einem Zeitgefühl geboren. Der allmähliche Erwerb des Zeitgefühls ist eine Entwicklungsaufgabe, die in der frühen Kindheit beginnt. Zu Beginn verfügt das Kleinkind nicht über Kategorien wie Zeit, Raum oder Kausalität und ist sich nicht darüber im Klaren, dass ein Ereignis zum nächsten führt. Erst im Alter von etwa sieben Jahren, so fand Jean Piaget heraus, beginnen Kinder, die Zeit als einen kontinuierlich fließenden Strom zu begreifen. Bis dahin befindet sich das Kind in einem Stadium, das Piaget, der bedeutende Schweizer Psychologe und Pionier der Entwicklungspsychologie, die „präoperative Phase“ genannt hat, in der alles nur von einem einzigen Standpunkt aus beobachtet und interpretiert wird: dem des Kindes. „Das präoperative Kind glaubt, innerhalb seines egozentrischen Weltgefüges die Zeit anhalten, beschleunigen oder verlangsamen zu können.“1 Die Netzwerke der Nervenzellen, welche für die verschiedenen Hirnaktivitäten verantwortlich sind, entwickeln sich nicht alle auf die gleiche Weise, zur gleichen Zeit oder notwendigerweise im gleichen Ausmaß. Bei ADHS beobachten wir eine verzögerte oder dauerhaft gehemmte Entwicklung des ausgeglichenen Zeitempfindens, das die meisten Menschen bis ins Erwachsenenalter erlangen. Bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist der Schaltkreis der Zeitintelligenz unterentwickelt.

Diese Unterentwicklung erklärt am besten auch eine andere zeitbezogene Fehlfunktion des ADHS-Gehirns: Die chronische Unfähigkeit vorauszudenken. Die Leitannahme des Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung scheint mit der des Kindes übereinzustimmen: Nur die Gegenwart existiert, nur sie gilt es zu berücksichtigen. Er lebt so, als ob seine Handlungen keine Auswirkungen auf die Zukunft hätten, keine Auswirkungen auf zukünftige Bedürfnisse, Beziehungen oder Verpflichtungen. Stets wird das kurzfristige Ziel dem langfristigen vorgezogen – mit Ausnahme von Aktivitäten oder Projekten, die in der Lage sind, den trägen Motivations-Belohnungs-Nexus im Gehirn zu aktivieren. Der gegenwärtige Impuls dominiert. Es ist treffend gesagt worden, dass Menschen mit ADHS es schlichtweg vergessen, sich an die Zukunft zu erinnern. Im Moment des Handelns oder der Entscheidungsfindung sind sich Erwachsene mit ADHS der Konsequenzen ebenso wenig bewusst wie kleine Kinder.

Einige Bereiche des mentalen und emotionalen Funktionsablaufs des Individuums mit ADHS sind für sein chronologisches Alter völlig normal. Andere bleiben in einer frühen Kindheitsphase stecken. „Er kann so kooperativ und reif sein, und dann verhält er sich auf einmal wie ein Zweijähriger“, sagt zum Beispiel eine entnervte Mutter über ihren vorpubertären Sohn. „Ich fühle mich oft, als wäre ich ein Kind“, haben mir schon viele Erwachsene mit ADHS berichtet. Oder eine Frau wird sich heftig darüber beklagen, dass das Zusammenleben mit ihrem Mann dem Zusammenleben mit einem Kleinkind gleicht. „Manchmal habe ich das Gefühl, seine Mutter zu sein. Es ist, als hätte ich drei Kinder: zwei Vorschulkinder und eines im Alter von 32 Jahren.“

Die zentralen Auswirkungen von ADHS – die leichte Ablenkbarkeit, die Hyperaktivität und die schlechte Impulskontrolle – zeugen allesamt auf unterschiedliche Weise von einem Mangel an Selbstregulation. Selbstregulation setzt voraus, dass jemand seine volle Aufmerksamkeit auf etwas bewusst Gewähltes zu lenken vermag, dass er seine Impulse kontrollieren kann und dass er bewusst und verantwortungsvoll die Aktionen seines Körpers im Griff hat. Wie die Entwicklung des Zeitgefühls auch ist die Selbstregulation eine spezifische Aufgabe der Entwicklung im Leben eines Menschen, die schrittweise von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter bewältigt wird. Wir werden mit keinerlei Fähigkeit zur Selbstregulation unserer Emotionen und Handlungen geboren. Um diese zu ermöglichen, müssen bestimmte Hirnzentren Verbindungen mit anderen wichtigen Nervenzentren entstehen lassen, und chemische Signalwege müssen etabliert werden. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist ein Paradebeispiel dafür, wie der erwachsene Mensch noch immer mit den ungelösten Problemen der Kindheit zu kämpfen hat. Er ist gehemmt, und zwar genau dort, wo das Kind sich nicht entwickeln konnte – in eben jenen Bereichen, in denen der Säugling oder das Kleinkind im Laufe seiner Entwicklung stecken geblieben ist.

Allgemein gesprochen kann man von einer Unterentwicklung der emotionalen Intelligenz sprechen. In seinem Bestseller Emotionale Intelligenz definiert Daniel Goleman, Verfasser mehrerer verhaltens- und neurowissenschaftlicher Artikel für die New York Times, diese als „die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren und allen Frustrationen zum Trotz bei der Sache zu bleiben, sowie die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren und Befriedigung zu verzögern. Ebenfalls dazu gehört die Fähigkeit, seine Stimmungen zu regulieren und zu verhindern, dass Verzweiflung die Denkfähigkeit überschwemmt …“2 Wir müssen in diesem Satz nur das Antonym der „Fähigkeit“ wählen, das heißt, die „Unfähigkeit“, und wir gelangen zu einer prägnanten Beschreibung der ADHS-Persönlichkeit.

Reaktionen können mal von erfreulicher emotionaler Reife zeugen, mal von erschreckender Unreife. Wenn eine tiefe, unbewusste Angst geweckt wird, kann ein Individuum mit dem für ein Kleinkind typischen Mangel an emotionaler Selbstregulation reagieren. Ein mündiger Erwachsener, der die Wut eines Säuglings an den Tag legt, ist erschreckend – und potenziell gefährlich.

Alle Eltern haben Situationen erlebt, für die wir uns schämen und die wir gerne ungeschehen machen würden. Solche Szenen stellen immer ein Versagen der Selbstregulation und Impulskontrolle dar. In solchen Momenten werden die eigentlich zur Kontrolle bestimmten höheren Hirnareale von eben den Gehirnzentren, in denen die tiefsten Emotionen von Angst oder Wut erzeugt werden, schlichtweg überwältigt – ein Prozess, der bei Kleinkindern die Regel ist. „XY benimmt sich wie ein Baby“ ist eine recht präzise Beschreibung des neurophysiologischen Zustandes der Person in solchen Augenblicken.

Dass der Säuglings-/Kleinkind-Modus bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung so oft vorherrscht, ist Ausdruck einer unvollständigen Entwicklung der Nervenbahnen im cerebralen Cortex sowie zwischen dem Cortex und den unteren Bereichen des Gehirns. Cortex bedeutet „Rinde“, wie die Rinde eines Baumes, und bezieht sich auf die dünne Schicht aus grauer Substanz, welche die weiße Substanz des Gehirns umhüllt. Die Hirnrinde hauptsächlich aus den Zellkörpern der Nervenzellen, oder Neuronen, und ist der Ort, an dem die am weitesten entwickelten Aktivitäten des menschlichen Gehirns umgesetzt werden. Ausgebreitet hätte der Cortex etwa die Größe und Dicke einer Stoffserviette. Wahrscheinlich lässt sich ein Großteil der organischen Ursachen der ADHS im sogenannten rechten präfrontalen Cortex lokalisieren, dem Bereich des Gehirns direkt hinter der Stirn. Dieser Erkenntnis liegen aktuelle radiologische Studien, ausgefeilte psychologische Tests, Tierversuche und die Beobachtung von Menschen zugrunde, die in diesem Hirnareal Verletzungen erlitten haben.

Im Allgemeinen gehören zu den Funktionen des rechten präfrontalen Cortex die Impulskontrolle, die sozial-emotionale Intelligenz und die Motivation. Außerdem ist er an der Lenkung der Aufmerksamkeit beteiligt. An dieser Stelle zu Schaden gekommene Menschen, sogenannte präfrontale Patienten, weisen Konzentrationsschwäche, mangelhafte Impulskontrolle und andere klassische Anzeichen von ADHS auf. Affen, die gezielt im rechten präfrontalen Cortex verletzt wurden, verlieren ihre Fähigkeit, soziale Signale zu interpretieren und an wichtigen Aktivitäten innerhalb der Gruppe teilzunehmen, wie etwa der gegenseitigen Körperpflege. Sie werden schnell zu Außenseitern. Wenn sie zudem von der Mutter getrennt werden, entwickeln derart geschädigte Affen im Säuglingsalter Hyperaktivität, genau wie Ratten, die in diesem Bereich des Gehirns Verletzungen davongetragen haben.

Neuroimaging-Untersuchungen, beispielsweise Computertomographien (CTs) und Magnetresonanztomographien (MRTs), welche die Bau- und Funktionsweise von Hirnstrukturen offenlegen, deuten ebenfalls auf eine Beteiligung des rechten präfrontalen Cortex hin. MRT-Bilder haben gezeigt, dass die Strukturen in den rechten präfrontalen Arealen von ADHS-Patienten schwächer ausgeprägt sind als gewöhnlich.

Eine weitere Methode der Gehirnuntersuchung ist die Verwendung von Elektroenzephalogrammen, oder EEGs, welche die Aktivität elektrischer Signale messen. EEG-Studien, die in Edmonton an der University of Alberta durchgeführt wurden, konnten zum Thema ADHS und Hirnfunktion etwas Licht ins Dunkel bringen.3 Die EEGs einer Gruppe vorpubertärer Jungen mit ADHS wurden mit denen einer Vergleichsgruppe von nicht an ADHS erkrankten Gleichaltrigen verglichen. Das Ergebnis war bei beiden Gruppen im Ruhezustand ähnlich unauffällig, aber bei zielgerichteten Aufgaben wie Lesen oder Zeichnen zeigte die Gruppe mit ADHS eine erhöhte „Slow Wave“-Aktivität. Die Nicht-ADHS-Gruppe zeigte bei derselben Aufgabe die für gewöhnlich zu erwartenden erhöhten elektrischen „Fast Wave“-Reaktionen. Mit anderen Worten: In der ADHS-Gruppe verlangsamte sich die elektrische Aktivität in der Großhirnrinde, der grauen Substanz, gerade dann, wenn eine Erhöhung der Hirnleistung in diesem Areal erforderlich gewesen wäre.

Es mag paradox erscheinen, dass eine Hyperaktivität von Geist oder Körper durch eine Unterfunktion des Cortex verursacht werden kann. Es mag auch merkwürdig klingen, dass Hyperaktivität durch eine stimulierende Medikation unterbunden werden kann. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich am besten durch eine Analogie auflösen. Stellen Sie sich eine belebte städtische Kreuzung vor, an der die wichtigsten, stark befahrenen Verkehrswege zusammenlaufen. In unserem Modell sind die Fahrer nicht in der Lage, sich selbst zu regulieren. Sie sind auf den Einsatz eines Schutzmanns angewiesen, der dafür sorgt, dass bei Ost-West-Verkehr die auf der Nord-Süd-Achse fahrenden Fahrzeuge angehalten werden, bis sie an der Reihe sind, sodass die Autos geordnet abbiegen können. Kurzum, der Verkehrsfluss in die eine Richtung wird abwechselnd gehemmt, während er in die andere Richtung zugelassen wird. Es herrscht Ordnung. Nun stellen Sie sich vor, der Schutzmann würde bei der Arbeit einschlafen. Ein ungeheures Chaos entsteht, wenn Autos aus allen Richtungen versuchen, die Kreuzung zu überqueren, ihre Fahrer zunehmend frustriert sind und ihre Hupen sich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie vereinen. Trotz des ganzen Radaus geht es kaum voran. Immer weniger Autos sind in der Lage, sich zielgerichtet zu bewegen. Es herrscht Unordnung.

Der präfrontale Cortex kann als eben dieser Schutzmann verstanden werden. Eine seiner Hauptaufgaben ist das Unterbinden. Er wertet die unzähligen Eindrücke, Gedanken, Empfindungen und Impulse aus, die ihn aus der Umwelt, aus dem Körper und aus den unteren Hirnzentren erreichen. Er muss auswählen, was wesentlich und hilfreich ist – und er muss Eindrücke und Impulse unterbinden, die für den Organismus in der jeweiligen Situation nicht von Nutzen sind. Unsere Initialreaktion auf einen Reiz – sei er nun furchteinflößend oder angenehm – erfolgt unbewusst. Sie entsteht nicht in der Hirnrinde, sondern in den unteren Hirnzentren, wo die Emotionen ihren Ursprung haben. Der Cortex hat nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu entscheiden, ob er einem solchen Impuls stattgibt oder ihn unterbindet.4 Neurologisch lässt sich ADHS unter anderem als Mangel an Unterbindung begreifen, als chronische Unteraktivität des präfrontalen Cortex. Die Großhirnrinde im Frontallappen ist nicht in der Lage, ihre Aufgabe der Priorisierung, Selektion und Unterbindung zu erfüllen. Das Gehirn, das mit einer Vielzahl von Sinneseindrücken, Gedanken, Gefühlen und Impulsen überflutet wird, kann sich nicht konzentrieren – Körper oder Geist können nicht zur Ruhe kommen. Kurz gesagt, der Schutzmann schläft. Wenn wir wollen, dass der Verkehr läuft, müssen wir ihn aufwecken. Gleichermaßen befindet sich der Cortex in einer Art Halbschlaf, wie der EEG-Befund seiner verlangsamten Aktivität gezeigt hat. Daher sind stimulierende Medikamente effektiv, da sie die hemmende Funktion fördern. Sie wecken den Schutzmann auf und alarmieren die unterentwickelten und unteraktiven Schaltkreise des präfrontalen Cortex.

Die Erkenntnis, dass ADHS eher ein entwicklungsbedingtes als ein pathologisches Problem ist, weist uns den Weg zu einer neuen Verständnisebene, die vom vorgegebenen, eng gefassten medizinischen Ansatz völlig abweicht. Wenn wir fragen, warum sich die medizinische Störung ADHS entwickelt, legen wir das Konzept einer Krankheit zugrunde. Das Krankheitsmodell impliziert das Vorhandensein einer pathologischen Entität im Gehirn, analog zum Beispiel einer Gelenkentzündung bei rheumatoider Arthritis oder einer bakteriellen Invasion der Lunge bei einer Lungenentzündung. Die Art der Formulierung der Frage nach der Entstehung verlangt geradezu nach einer medikalisierten Antwort. Wir suchen nach der streng biologischen, rein physiologischen Erklärung.

Wenn wir uns aber dafür entscheiden, ADHS nicht als medizinische Störung oder Krankheit zu begreifen, wird die Frage nach der Kausalität umgedreht: Ein neuer Blickwinkel erschließt sich. In Anerkennung der Tatsache, dass Zeitgefühl, Selbstregulation und Selbstmotivation natürliche und notwendige Entwicklungsaufgaben sind, stellt sich die Frage: Welche Rahmenbedingungen sind für die physiologische und psychologische Reife des Menschen erforderlich? Welche Faktoren können diesen Wachstumsprozess hemmen oder behindern? Anstatt zu fragen, warum eine Störung oder Krankheit entsteht, fragen wir, was die Entwicklung einer umfassend selbstmotivierten und selbstregulierten Persönlichkeit verhindert.

Wir dürfen davon ausgehen, dass die Natur für die vergleichsweise lange Entwicklungsphase des Menschen – 18 Jahre oder sogar noch länger – eine Agenda hat: die Entfaltung eines autonomen, selbstmotivierten Individuums in Harmonie mit seiner Umwelt und der Gemeinschaft, der es angehört. Wozu dieser Denkansatz? Wenn man die Problematik auf diese Weise formuliert, löst sich sofort die ärgerliche und verwirrende Frage, wie es möglich sein kann, dass „Symptome einer Störung“ in der Bevölkerung so weit verbreitet sind – selbst bei Menschen, die gar nicht an besagter Störung leiden. Nicht viele Menschen werden in ideale Umstände hineingeboren. Überall in der industrialisierten Welt und besonders in Nordamerika sind die Familien durch einen hektischen Lebensstil und den Zusammenbruch traditioneller Lebensgrundlagen einer enormen Belastung ausgesetzt. Da eine ideale Erziehung fast unmöglich ist, wird es bei fast allen Menschen zu mehr oder weniger ausgeprägten Entwicklungsschwächen kommen. „Nur sehr wenige Kinder wachsen unter wirklich optimalen Bedingungen auf“, schreibt Stanley Greenspan, ein führender amerikanischer Kinderpsychiater, „und wir wissen nicht einmal, welche Parameter für die Entwicklung wirklich relevant sind.“5

Bei einigen Menschen kommt es zu einer erhöhten Konzentration von Entwicklungsproblemen. Das kann daran liegen, dass ihre spezifischen Verhältnisse schlimmer waren – oder an einer erhöhten Empfindsamkeit. Umstände, denen Menschen mit robusterer Veranlagung besser standhalten können, entwickeln einen erheblichen Einfluss. Diese Menschen sind es, bei denen vermutlich ADHS oder eine andere „Störung“ diagnostiziert werden wird.

An der Westküste Kanadas, auf Vancouver Island, wachsen schroffe und windschiefe kleine Nadelbäume, kümmerliche Verwandte der prächtigen Tannen, die das Landschaftsbild nur wenige Kilometer landeinwärts beherrschen. Es wäre falsch zu glauben, dass diese widerstandsfähigen kleinen Überlebenskünstler an irgendeiner botanischen Krankheit leiden. Sie haben sich so weit entwickelt, wie es die vergleichsweise rauen klimatischen und geologischen Bedingungen eben zulassen. Wenn wir verstehen wollen, warum sie sich so dramatisch von ihren Verwandten im Landesinneren unterscheiden, müssen wir in Erfahrung bringen, unter welchen Bedingungen majestätische, kräftige und schnurgerade Tannen gedeihen können. Beim Menschen verhält es sich genauso. Wir brauchen keine Krankheiten als Erklärung dafür, warum manche Menschen nicht in der Lage sind, die volle Blüte ihres Potenzials zu entfalten. Wir müssen uns lediglich fragen, welche Bedingungen die ungehemmte menschliche Entwicklung fördern und welche Bedingungen sie behindern.

Die Antwort auf Rückstand ist Entwicklung, und für Entwicklung müssen die entsprechenden Bedingungen gegeben sein. Ganz gleich, wie wirksam sie die höheren Hirnzentren zu stimulieren vermögen, Medikamente stellen nur eine Teillösung der Probleme dar, die durch ADHS entstehen. Positive Entwicklung lässt sich den Patienten zwar nicht verschreiben, aber wir können eine Umgebung schaffen, die eine solche Entwicklung begünstigt. Wie sich zeigen wird, wenn wir zu den Kapiteln über den Heilungsprozess bei ADHS gelangen, sind neurologische und psychologische Reifungsprozesse zu jedem Zeitpunkt des Lebenszyklus möglich – auch im hohen Erwachsenenalter.

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