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KAPITEL 7 Emotionale Allergien: ADHS und Sensibilität

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Wenn eine Mutter acht Kinder hat, dann gibt es acht Mütter. Dies liegt nicht nur darin begründet, dass die Einstellung der Mutter zu jedem der Kinder eine andere ist. Wenn sie bei jedem Kind genau die gleiche Mutter hätte sein können … so hätte doch jedes Kind seine eigene Mutter gehabt, die es durch seine Augen gesehen hätte.

—DR. D. W. WINNICOTT

Der Anfang ist unsere Heimat

Abendessenszeit. Die achtjährige Tochter lässt sich jede Menge Zeit, um sich von ihrem Spielzeug, ihrem Buch oder ihren Träumereien zu lösen. „Beeil dich. Wir wollen essen“, sagt der Vater, der angespannt ist, weil er Hunger und noch viel Arbeit zu erledigen hat.

Die Tochter hält sich die Ohren zu. „Schrei mich nicht an“, jammert sie.

„Ich schreie nicht“, antwortet der Mann, der jetzt merkt, dass seine Stimme lauter wird.

Das Gesicht des Kindes verzieht sich zu einer Grimasse des Schmerzes und der Verzweiflung.

„Mommy, Daddy ist böse zu mir“, klagt sie.

Hätte man den Lautstärkepegel in dieser Küche gemessen, als der Vater seine Tochter zum ersten Mal aufforderte, sich zu beeilen, hätten die meisten Menschen es nicht als Schreien eingestuft. Die Reaktion der Tochter ist jedoch echt. Sie spürt, erlebt und schnappt die Anspannung in der Stimme des Vaters auf, die Schärfe der kontrollierten Ungeduld und die Frustration. In ihrem Gehirn wird das als „Schreien“ übersetzt. Sie fühlt genau die gleiche Angst und Entrüstung, die ein anderes Kind fühlen würde, wenn man es wütend anschreien würde. Es ist eine Frage der Sensibilität, des Reaktivitätsgrades auf die Umgebung. Dieses Kind ist emotional übersensibel.

Der Begriff Sensibilität leitet sich von dem lateinischen Wort sentire für „fühlen“ ab. Grade der Sensibilität spiegeln Grade des Fühlens wider. Von den unterschiedlichen, im Duden aufgeführten Definitionen des Begriffs sensibel sollte man zwei im Gedächtnis behalten, die hervorragend geeignet sind, ein ADHS-Kind zu beschreiben: 1. von besonderer Feinfühligkeit; empfindsam. 2. empfindlich gegenüber Schmerzen und Reizen von außen, schmerzempfindlich. Dieses Wort hat darüber hinaus noch die Bedeutung des Mitgefühls, des Respekts vor den Gefühlen anderer. Die beiden Bedeutungen können in ein und derselben Person nebeneinander vorhanden sein, aber nicht in jedem Fall. Einige der sensibelsten Menschen in Bezug auf ihre eigenen Reaktionen können am wenigsten auf die Gefühle anderer eingehen.

Einige Menschen sind übersensibel. Ein relativ geringfügiger Stimulus, oder was andere Menschen als geringfügig bezeichnen würden, löst bei ihnen eine intensive Reaktion aus. Wenn dies als Reaktion auf physische Reize geschieht, sagen wir, dass dieser Mensch allergisch ist. Jemand, der zum Beispiel auf Bienengift allergisch ist, kann keuchen und nach Luft ringen, wenn er gestochen wird. Die kleinen Atemwege in der Lunge können sich krampfartig zusammenziehen, das Gewebe im Rachen kann anschwellen und der Herzschlag kann unregelmäßig werden. Sein Leben kann in Gefahr sein. Wäre eine nicht allergische Person von derselben Biene gestochen worden, würde sie nicht mehr als einen kurzen Schmerz, eine Beule, einen lästigen Juckreiz spüren. War es der Stich der Biene, der das erste Opfer in eine physiologische Krise stürzte? Nicht direkt. Es waren seine eigenen physiologischen Reaktionen, die ihn dem Tod nahebrachten. Es war, genauer gesagt, die Kombination aus Reiz und Reaktion. Der präzise medizinische Begriff für eine Allergie, oder diese Hyperreaktivität, lautet Hypersensibilität.

Menschen mit ADHS sind hypersensibel. Dies ist kein Fehler oder eine Schwäche dieser Menschen, sondern sie sind so auf die Welt gekommen. Es ist ihr angeborenes Temperament. Das ist in erster Linie das, was an ADHS ererbt ist. Die genetische Vererbung allein kann nicht für die Entstehung von ADHS-Merkmalen bei Menschen verantwortlich gemacht werden, aber die Erbanlagen können je nach Umständen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Merkmale bei einem bestimmten Individuum auftreten werden. Es ist die Sensibilität, nicht eine Störung, die durch Vererbung weitergegeben wird. In den meisten Fällen sind die Einflüsse der Umgebung auf ein besonders sensibles Kind die Ursache von ADHS.

Sensibilität ist der Grund dafür, dass Allergien bei ADHS-Kindern häufiger vorkommen als in der übrigen Bevölkerung. Es ist bekannt und erhärtet sich in der klinischen Praxis mehr und mehr, dass Kinder mit ADHS häufiger als ihre Altersgenossen ohne ADHS an Erkältungen, Infektionen der oberen Atemwege, Ohrinfektionen, Asthma, Ekzemen und Allergien erkranken, eine Tatsache, die von einigen als ein Beweis dafür interpretiert wird, dass ADHS auf Allergien zurückzuführen ist. Obwohl das Aufflackern von Allergien die Symptome von ADHS sicherlich verschlimmern kann, verursacht das eine nicht das andere. Sie sind beide Ausdruck derselben zugrunde liegenden angeborenen Eigenschaft, der Sensibilität. Da emotional hypersensible Reaktionen nicht weniger physiologisch sind als die allergischen Reaktionen des Körpers auf physische Substanzen, können wir wahrheitsgemäß sagen, dass Menschen mit ADHS emotionale Allergien haben.

Fast jeder Elternteil mit einem ADHS-Kind oder jeder Erwachsene mit einem ADHS-Ehepartner wird bei diesem Menschen eine besondere Empfindsamkeit oder „dünne Haut“ bemerkt haben. Menschen mit ADHS hören immer wieder, dass sie „zu sensibel“ sind oder dass sie aufhören sollten, so „empfindlich“ zu sein. Ebenso könnte man auch ein Kind mit Heuschnupfen dazu auffordern, nicht mehr „so allergisch“ zu sein.

Die Alltagssprache hat mit ihrer üblichen Lebensweisheit eine genaue Beschreibung für die Hypersensibilität gefunden, wenn es heißt, jemand habe eine dünne Haut. Hätte man auf seinem Oberschenkel einen Bereich, in dem ein Teil der Epidermis durch beispielsweise kochendes Wasser zerstört worden wäre, hätte man dort buchstäblich eine dünne Haut: Die Nervenenden lägen näher an der Oberfläche. Ein leichter Luftzug könnte ein äußerst unangenehmes Gefühl, ja sogar Schmerz verursachen, während man auf Oberflächen mit unversehrter Haut wenig oder nichts spüren würde. Der emotional sensible Mensch lebt gewissermaßen mit sehr nah an der Oberfläche liegenden Nervenenden, die emotionale Reize zum Gehirn leiten. Genau wie die freiliegenden Nervenenden in verbrühter Haut sind sie sehr leicht reizbar. Deshalb hat meine Tochter sich beklagt, ich würde sie anschreien. Der unbeherrschte Vater in der kleinen Geschichte war natürlich ich. Das Wortgefecht zur Abendessenszeit war keine Seltenheit in unserer Familie.

Eltern, Lehrer und Ärzte mögen Zweifel haben, wenn ein Kind von seinen Empfindungen berichtet. Wenn einige hypersensible Kinder körperlichen Schmerz oder Unbehagen empfinden und auch äußern, werden andere dies für übertriebenen und aufgebauschten Kummer halten. Sie werden beschuldigt, zu simulieren, zu schauspielern oder um Aufmerksamkeit zu feilschen. Tatsächlich gibt es in ihrem Verhalten keine Verstellung, wenn sie Schmerz oder Unbehagen empfinden, sondern nur, um es mit den Worten von Friedrich Nietzsche auszudrücken, eine „feine Reizbarkeit“. Emotionale Zustände beeinflussen die Sensibilität. Die Schmerztoleranz von Menschen ist niedriger, wenn sie ängstlich oder niedergeschlagen sind. Das liegt zum Teil an Veränderungen im Stresshormonspiegel und im Gehalt an Endorphinen, den körpereigenen Schmerzmitteln.

Sensible Kinder werden als „schwierig“ bezeichnet, weil Erwachsene deren Temperament nur schwer verstehen können und weil Erziehungsmethoden, die bei anderen Kindern greifen, bei dieser Gruppe frustrierenderweise nichts bewirken. Die Äußerung „schwieriges Kind“ zeigt, wie auch der ähnliche Begriff „Trotzalter“, die Voreingenommenheit der Erwachsenen. In der Erfahrung des Kindes ist es der Erwachsene, der widerspenstig ist. Würden Kinder über den Sprachgebrauch entscheiden, würden wir Dinge wie „der schwierige Elternteil“ und die „schrecklichen Dreißiger“ zu hören bekommen.

Physiologische Unterschiede im menschlichen Nervensystem helfen, die Unterschiede im Grad der emotionalen Reaktivität von einem Kind zum anderen zu erklären. Bei einigen Kindern ist das Nervensystem ständig in einem Zustand der Alarmbereitschaft. Forscher an der University of Washington in Seattle haben die elektrische Aktivität eines wichtigen Nervs, des Vagusnervs, bei fünf Monate alten Babys gemessen.1 (Der Vagusnerv verbindet das zentrale Nervensystem mit dem Herzen, der Lunge und dem Magen.) Säuglinge mit einem höheren Ausgangs-„Tonus“ im Vagusnerv waren zudem „sowohl auf positive als auch auf leicht belastende Stimuli emotional reaktiver“. Im Alter von 14 Monaten reagierten dieselben Säuglinge stärker auf eine Trennung von der Mutter.

Wie überempfindliche Instrumente registrieren und vermerken sensible Kinder selbst minimale Veränderungen in ihrer emotionalen Umgebung. Sie haben keine Wahl, weil ihr Nervensystem reagiert. Es ist, als hätten sie unsichtbare, in alle Richtungen ragende Antennen, die die psychischen Wellen in ihrer Umgebung aufschnappen und in ihren Körper und Geist leiten. Sie sind sich dessen vermutlich nicht bewusst, genau wie ein Messinstrument nicht bewusst wahrnimmt, welche Messungen es aufzeichnet. Anders als bei Instrumenten kann die sensorische Ausstattung bei einem Menschen jedoch nicht einfach ausgeschaltet werden. Meine Frau und ich haben gelernt, die Stimmungen und Verhaltensweisen unserer Tochter als unmittelbare Echtzeitparameter der psychischen Atmosphäre in unserem Heim zu erkennen. Wenn wir wissen wollten, wie es uns als Einzelperson oder als Paar ging, mussten wir nur den Gesichtsausdruck und die emotionalen Reaktionen unserer Tochter prüfen. Was wir dort gesehen haben, hat uns nicht immer beruhigt.

Bauchkrämpfe bei sensiblen Kindern sind häufig ein Hinweis auf ungelöste Spannungen in der Familie. Sie sind weit verbreitet und werden allzu häufig falsch gedeutet. Das sind genau die Kinder, die blass und mit „unerklärlichen Bauchschmerzen“ von Arzt zu Arzt, von der Klinik in die Notaufnahme, von Spezialist zu Spezialist geschleppt werden. Sie werden wieder und wieder untersucht, getestet, geröntgt und immer wieder als „vollkommen gesund“ nach Hause geschickt. Den Eltern wird versichert, dass es keinen Grund für die Schmerzen gibt. Doch es gibt einen Grund. Der Körper ihres Kindes ist ein Barometer für die Belastungen, denen ihr Familiensystem ausgesetzt ist, und seine Symptome sind die Markierungen auf einem exakt geeichten Instrument.

Wie bereits in Kapitel 6 gezeigt, gibt es eine kleine Anzahl schwächender Krankheitsbilder mit starker genetischer Grundlage, zum Beispiel die Muskeldystrophie oder Chorea Huntington. Diese sind selten und betreffen etwa eine Person von zehntausend oder sogar weniger. Sie stellen keine signifikante Bedrohung für das Überleben der Art dar. Wenn wir jedoch die Menschen zusammenzählen, die von Depressionen oder ADHS geplagt werden oder auch von einem anderen der weitverbreiteten psychischen Probleme, mit denen die Menschen in unserer Gesellschaft zu kämpfen haben, darunter Alkoholismus und Angst, haben wir es mit nicht weniger als einem Drittel der nordamerikanischen Bevölkerung zu tun. Bei genetischen Erklärungen für diese Krankheitsbilder wird davon ausgegangen, dass die Natur nach Millionen von Jahren der Evolution eine sehr große Zahl gestörter Gene, die ein Drittel der Menschheit erblich vorbelasten, von der natürlichen Selektion verschont – eine höchst unwahrscheinliche These.

Solchen Schwierigkeiten sehen wir uns nicht gegenüber, wenn wir einsehen, dass das, was genetisch weitergegeben wird, nicht ADHS oder ihre nicht weniger ungehobelten und verwirrenden Verwandten sind, sondern die Sensibilität. Die Existenz sensibler Menschen ist für die Menschheit von Vorteil, da es diese Gruppe ist, die die kreativen Triebe und Bedürfnisse am besten zum Ausdruck bringen. Ihre instinktiven Reaktionen sind die besten Interpretationen der Welt. Unter normalen Umständen sind sie Künstler oder Kunsthandwerker, Suchende, Erfinder, Schamanen, Dichter, Propheten. Es gäbe berechtigte und starke evolutionäre Gründe für das Überleben von genetischem Material mit einer Codierung für Sensibilität. Nicht Krankheiten werden vererbt, sondern eine Eigenschaft, die für die Menschen von hohem Wert ist. Sensibilität verwandelt sich nur dann in Leid und Störungen, wenn die Welt nicht in der Lage ist, den hervorragend abgestimmten physiologischen und psychischen Reaktionen des sensiblen Individuums Beachtung zu schenken.

ADHS ist kein natürlicher Zustand. Sie ist, um einen berühmten Ausdruck Sigmund Freuds zu benutzen, ein „Unbehagen in der Kultur“.

Unruhe im Kopf

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