Читать книгу DIE LIEBESMASCHINE - Gabriele Behrend - Страница 5

II

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»Kochanyj!« Katja öffnete die Tür zur Leitwarte schwungvoll. »Du hast mir gefehlt. Wie geht es dir, Liebster?«

Spex lächelte. Die KI hatte sich im letzten halben Jahr deutlich verändert. Die einst androgynen Züge waren jetzt markant, die schwebende Transparenz war dahin, dafür war das Gesicht jetzt deutlich strukturiert. Ein Dreitagebart und ein leicht zerzauster mittelblonder Haarschopf komplettierten Spex’ äußere Erscheinung. Diese Veränderungen entsprangen einer inneren Logik, die er Katja eines Tages in Kurzform in der neuen tieferen Tonlage folgendermaßen erklärte: »Wenn wir unser Projekt Mensch erarbeiten, dann muss ich wie einer aussehen, damit du, Kat, dich besser auf mich einstellen kannst. Nachdem du mir erzählt hast, dass du Männer als deinen Gegenpart präferierst, stellt sich für mich nicht die Frage, für welche Seite ich mich entscheide.« Katja hatte genickt. Dann hatten sie sich auf eine Augenfarbe geeinigt. Seitdem betrachtete Spex die Welt scheinbar aus blauen, tiefblauen Augen.

Am Anfang war Katja das neue Aussehen ihrer Maschine unheimlich. Es erschien ihr surrealer, als mit einem transparenten Polyederkopf zu sprechen. Spex schien ihr als Name nicht mehr geeignet, aber was sollte sie tun? Einen neuen aus dem Ärmel schütteln? Und was machte das mit Spex? Würde es ihn nicht nur verwirren? Also flüchtete sie sich in den inflationären Gebrauch von druzhe und kollega, wobei sie ihn nur Kollege nannte, wenn es ernsthafte Dinge zu besprechen gab oder sie sauer auf ihn war. Druzhe, also Freund, so nannte sie ihn den Rest der Zeit. Und bevor sie es richtig merkte, zog er in ihr Herz ein. Als Freund. Denn so war er – immer ein offenes Ohr und seit letztem Monat auch eine eigene Meinung, was Andriy betraf.

Da war sie morgens in die Leitwarte geschlichen gekommen, keine Wut, kein Orkan, nur bebende Fassungslosigkeit. Sie hatte sich auf den Ledersessel gezogen und war in sich zusammengesackt.

»Katja, was ist passiert?« Spex’ Stimme vibrierte in einem tiefen warmen Ton. Besorgnis schwang darin mit.

Sie schob die Sonnenbrille in ihr inzwischen dunkelbraunes Haar und wickelte den kilometerlangen Schal ab, den sie doppelt und dreifach um ihren Hals geschlungen hatte. Ein Veilchen kam zum Vorschein. Und frische Würgemale. »Ich kann nicht mehr, druzhe

»Wenn das so weitergeht, wird er dich noch umbringen. Du musst etwas unternehmen. Trenn dich von ihm.« Katja hatte Spex das Konzept der Trennung bereits früh erklärt. Ausführlich, laut und mit deutlichen Worten.

»Egal, wie oft ich ihn jetzt rausgeworfen habe. Er kommt immer wieder zurück. Er ist wie ein Bumerang. Ich krieg ihn nicht mehr aus meinem Leben heraus. Das Ganze ist ein schlechter Trip.« Katja klang resigniert. Da war nichts laut, ausführlich oder deutlich.

Da schwieg Spex, weil er nicht wusste, was er noch sagen sollte, aber er speicherte eine Notiz in seinem Gedächtnis ab, etwas, das er später verfolgen wollte. Katja richtete sich nach einem Moment wieder auf. »Hey, lass uns arbeiten. Vertreib mir die dunklen Gedanken, druzhe

Also gingen sie wie immer zuerst die Schadensprotokolle durch. Katja packte ihre Siebensachen und das Hoverboard und entschwebte in die langen Flure des Komplexes.

Währenddessen loggte sich Spex in die Überwachungskameras ein, suchte nach den Brandmeldekameras in Katjas Wohnung und begab sich auf Entdeckungstour. Im zweiten Raum des kleinen unordentlichen Appartements wurde er fündig: Andriy lag tatsächlich noch im zerwühlten Doppelbett und schnarchte. Neben ihm auf dem Nachttisch lag ein kleines Tütchen mit weißem Inhalt. Spex zoomte das Bild heran. Dann analysierte er. Zucker, Salz und andere Lebensmittel schloss er aus, da er diese Zutaten noch nicht in solcher Verpackung an solch einem Ort gesehen hatte. Dann nahm er alles, was Katja ihm über Andriy erzählt hatte, kombinierte dies mit den Dingen, die sie nicht ausgesprochen hatte, die aber sichtbar waren, wie ihre Verletzungen, überprüfte dies mithilfe einer Internetrecherche und kam zu dem Schluss, dass sich eine verbotene Substanz in dem Beutel befand. Nachdem Spex sich vergewisserte, dass Katja in einem anderen Teil des Komplexes arbeitete, löste er den stillen Alarm in ihrer Wohnung aus, der bei der nächsten Polizeiwache auflief. Danach verriegelte er ihre Wohnungstür und wartete. Als die Polizei nach einer Stunde eintraf, entriegelte er die Tür wieder und ließ sie einladend aufschwingen.

Die Beamten waren zwar zunächst verärgert, weil sie nicht in eine Schlägerei geraten waren, in deren Verlauf sie sich richtig hätten austoben können, dafür wurden sie umso grober, als sie Andriy, der immer noch high war, mitsamt seinen Drogen einsackten. Als sie ihn in Unterhosen auf den Flur zerrten, kam Katja auf ihrem Hoverboard um die Ecke gerast.

Nachdem Katja später auf polizeiliche Aufforderung eine umfassende Aussage gemacht hatte, verschwand Andriy endgültig aus ihrem Leben. An diesem Tag besuchte sie Spex zum ersten Mal auch am Abend, in der Hand eine Flasche roten Sekt, die bereits zur Hälfte geleert war. Sie warf sich in ihren gewohnten Sessel.

»Hallo, druzhe

»Hallo, Kat.« Spex sah von den Monitoren zu seiner Mechanikerin. »Was machst du hier?«

»Ich habe Fragen.«

»Ich höre.«

»Eine Razzia. In meiner Wohnung.« Sie schüttelte den Kopf. Es herrschte Stille zwischen den beiden. Schließlich fragte sie, ungewohnt schüchtern: »Warum hast du das getan?«

»Wenn dir etwas zustößt, wer wird mir dann helfen, die Menschen zu verstehen? Außerdem achte ich auf meine Bewohner.«

»Ich bin also irgendeiner der Bewohner?« Katja deutete zu den Monitoren.

Spex sah sie nachdenklich an. »Nein. Du bist meine podruha

»Weißt du, was das bedeutet?«

»Du hast es mir so erklärt: Wenn es einen gibt, der dir wichtiger ist, als der ganze andere beschissene Rest, dann ist das ein druzhe oder eben eine podruha

Katja nahm einen großen Schluck aus der Flasche und nickte.

»Was du heute für mich getan hast, das war was ganz Besonderes. Das machen nur sehr, sehr gute druzi füreinander.«

»Dann bist du mir also nicht böse?«

»Nein. Ich bin erleichtert.« Katja nahm noch einen Schluck. »Ich bin frei!«, rief sie dann und trank noch ein wenig mehr. »Ich bin frei und allein«, bemerkte sie dann mit einem Mal ernüchtert. »Mein Bett wird mir zu groß sein.« Hastig leerte sie die Flasche. Dann kuschelte sie sich in den Sessel.

»Was treibst du da eigentlich?« Sie sah zu den Monitoren, auf denen die Gesichter vereinzelter Bewohner zu sehen waren.

»Ich erstelle ihre Profile. Damit ich sie besser kennenlerne.«

»Weißt du, was witzig wäre?« Katja legte die Arme um ihren Oberkörper und dachte nach. »Druzhe, filtere doch bitte mal alle Alleinlebenden heraus.«

Die Bilder veränderten sich.

»Monitor eins, oben links und Monitor vier, Mitte unten. Zeigst du mir die beide in groß?«

Die gewünschten Fotos lagen nun auf dem mittleren Rechnerbildschirm nebeneinander.

»Wäre das ein gutes Paar, Spex?«

»Ich vergleiche die Profile.« Einen Moment herrschte Stille. Dann ertönte die sonore Stimme von Spex. »Eine Übereinstimmung von achtundsechzig Prozent.«

»Hm, gibt es einen Single, mit dem es besser klappen könnte? Ausgehend von ihr?«

Wieder warf Spex seine Datenbank an. Porträts beiderlei Geschlechts wechselten in rascher Folge auf der rechten Seite des Bildschirms, bis schließlich alles zur Ruhe kam und ein Männergesicht auftauchte.

»Siebenundachtzig Prozent. Mehr bekomme ich nicht heraus.«

»Vielleicht genügt das schon. Der Rest wird sich ergeben.« Katja lächelte.

»Wie ergeben?«

»Wir kuppeln etwas.«

»Was machen wir?«

»Wir bringen Menschen zusammen. Damit keiner mehr alleine sein muss.«

»Und wie machen wir das?«

»Vertausch morgen früh die beiden Anzeigen am Postkasten. Einer wird dem anderen die falsch zugestellte Post schon bringen und dann, tja – den Rest müssen sie selber machen.«

Katja gähnte herzhaft.

Seit diesem Zeitpunkt verbrachten die beiden immer mehr Zeit miteinander. Wenn die Tagschicht vorbei war, ging Katja für gewöhnlich im Automatencafé essen, tobte sich auf der Halfpipe aus und stieg hinterher unter die Dusche. Danach fuhr sie in ihren Shorts, dem obligatorischen weißen Tanktop, einer wadenlangen Strickjacke und dem noch feuchten Haar mit dem Lastenaufzug die zwölf Etagen in das Kellergeschoß IV hinunter, in dem sich die Leitwarte befand. Spex war ihr einziger wahrer druzhe. Von den Skater-kollegas hielt sie sich nach der Affäre Andriy möglichst fern, niemand sollte sie noch verletzen können und da war es bei Spex am sichersten. Hier konnte sie einfach reden, einen Tee trinken und das Kuppelspiel spielen.

Ja, das hatten sie inzwischen ausgeweitet. Es reichte ihnen aber nicht mehr, Profile abzugleichen und nach einer möglichst hohen Übereinstimmung zu suchen. Jetzt wurden auch Dinge wie emotionale Intelligenz und Biorhythmus auf den Prüfstand gestellt. Auch die Art und Weise, wie sich die beiden Experimentalsubjekte treffen und verlieben sollten, wurde mitunter hitzig diskutiert. Meist waren es aber ruhige Abende, in denen Spex Fragen stellte und Katja sich mit den Antworten so viel Zeit lassen konnte, wie sie brauchte. Wer konnte schon in fünf Minuten Glück erklären? Oder den Geschmack von Zuckerwatte im Sommerregen? Seitdem Spex eines Abends gefragt hatte, wie man einen Menschen bezeichnete, der noch wichtiger war als alle anderen druzi zusammen, da antwortete Katja wie aus der Pistole geschossen ›Kochanyj‹ … Den ganzen Abend zog sie ihn damit auf, solange bis er nicht mehr antwortete und sie wieder in ihr Appartement zurückschlurfte. In der Zeit danach schlich sich das ›Geliebter‹ immer wieder mal in ihren Sprachgebrauch und je öfter sie dieses Wort dachte und aussprach, desto mehr fühlte sie, wie es tief in ihr Wurzeln schlug.

So auch an diesem Abend, als Katja sich in den Ledersessel zog, Spex zuzwinkerte und sich danach in ihre Strickjacke kuschelte. Ihr Blick wanderte zum Monitor.

»Kollega, was soll das? Wer ist das?« Katja war irritiert. Auf dem Bildschirm war ein Mann zu sehen, ein schmal geschnittenes Gesicht mit markantem Kinn und hohen Wangenknochen, blauen Augen, Dreitagebart und einem blonden, leicht zerzausten Haarschopf. In diesem Moment setzte er sich eine Brille auf und starrte konzentriert auf irgendetwas vor sich. »Der sieht ja aus wie du!«

»Das ist Evgenij Solowjow. Erinnerst du dich? Seine Tür hast du schon kennengelernt.« Spex lachte leise.

»Erklärt immer noch nicht, warum er aussieht wie du oder du wie er. Scherz oder Absicht, Spex?«

»Er spielt Cello.«

»Aha.« Katja klang nicht überzeugt.

»Er spielt sehr gut Cello. Ich empfinde Cellospiel als angenehm. Daher ging ich davon aus, dass das ein angenehmer Mensch ist. Und du brauchst angenehme Menschen um dich herum. Oder wenigstens das Gefühl. Daher habe ich seine Merkmale kopiert.«

Katja beugte sich etwas vor. »Hast du dich etwa in seinen Computer gehackt? Kollega, das ist nicht shiny!«

Spex schmollte.

Währenddessen zog sich Evgenij etwas von seinem Rechner zurück, griff nach seinem elektrischen Cello und begann zu spielen. Nach ein paar zittrigen ersten Tönen wurde sein Spiel kraftvoll und melancholisch zugleich und Katja dachte nicht mehr länger darüber nach, dass Spex scheinbar keine Grenzen akzeptierte. Sie schloss die Augen und lauschte.

Als das Cello wieder schwieg, schlug Katja die Augen auf. »Lass ihn in Ruhe. Wenigstens für heute Abend.«

Spex gehorchte, der Monitor flackerte kurz und wurde tiefdunkelblau. »Was jetzt? Wollen wir noch ein wenig spielen?«

Katja überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.

»Lass uns schlafen gehen«, sagte sie leise, als sie aus dem Sessel glitt. »Es ist schon spät.« Dann legte sie die rechte Hand an Spex’ Wange und spürte das elektrisch aufgeladene Nichts kühl auf ihrer Haut. »Danke, kochanyj. Für alles, was du für mich machst. Oder berechnest. Oder was auch immer. Bis morgen.«

Für einen Moment runzelte Spex die Stirn, schon schien es, als ob er ebenfalls etwas sagen wollte, dann flackerte er kurz auf und verlöschte. Die Monitore sprangen auf die aktiven Sicherungskameras um. Jetzt übernahm der automatische Teil der Maschine die Überwachung, vermerkte die auftretenden Schäden oder würde die eventuell anfallenden Notrufe eigenständig an die betreffende Einrichtung absetzen.

Als Katja im Fahrstuhl stand und wieder auf ihre Ebene entschwebte, hörte sie das Cellospiel wie ein Echo in sich nachklingen. Dazu sah sie wieder das markante Gesicht mit den blauen Augen und dem blonden Schopf vor sich. Doch sie schaffte es sehr leicht, den Umstand zu verdrängen, dass hinter diesem Kopf ein ganz eigenständiger Mensch steckte. Für Katja stand das Gesicht für Spex, mit aller Logik, mit allen Formeln und mit aller Fürsorge, die er ihr entgegenbrachte.

Sie lächelte. Dann ging sie zu ihrer Wohnungstür, ließ sich ein und ging in ihr Schlafzimmer. Die Strickjacke glitt von ihren Schultern. Katja schlüpfte zwischen die Laken. Und als sie die Kühle ihres Kopfkissens an ihrer Wange spürte, da dachte sie wieder an Spex und an diese erste zarte Berührung in der Leitzentrale. Sie breitete die Arme aus, schloss die Augen und ließ sich in die Vorstellung hineinfallen, dass er um sie herum war, sie umarmte und über sie wachte. Es würde ihr kein Leid geschehen. Sie war sich sicher in ihm.

DIE LIEBESMASCHINE

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