Читать книгу DIE LIEBESMASCHINE - Gabriele Behrend - Страница 6

III

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Vier Monate später. Katja war inzwischen ganz zur Ruhe gekommen. Andriy war zwar immer noch ein dunkles Kapitel in ihrem Leben, an dem sie allerdings nicht mehr rührte; auf der anderen Seite hatte sie in ihr neues, friedliches Leben hineingefunden. Sie war nicht mehr ganz so häufig auf der Halfpipe unterwegs, stattdessen las sie viel. Sie brachte ihr Allgemeinwissen auf Vordermann, wappnete sich für die geistigen Duelle mit Spex. Die waren anregend, aber nicht immer fair.

»Such nicht schon wieder in der Datenbank«, rügte sie daher hin und wieder. »Ich darf ja auch grad nicht.«

»Aber …«

»Nix aber. Wir spielen ›Wer weiß es besser‹ nach festen Regeln.«

»Katja?«

»Ja, kochanyj?«

»Ich möchte nicht mehr spielen. Ich möchte noch immer lernen. Warum klappt unser Kuppelspiel nicht?«

»Wieso klappt es denn nicht?« Katja sah erstaunt zu Spex hoch. »Drei Paare haben sich verlobt, weitere fünf sind zusammengezogen und bei den letzten beiden sieht es doch auch ganz gut aus.«

»Das sind neun Paare.«

»Das sind achtzehn Menschen, die jetzt glücklicher sind als vorher. Achtzehn Menschen, die nicht mehr alleine durch deine Flure tigern.«

»Aber wie viele haben wir versucht zusammenzubringen?« Spex warf seine Datenbank an. »Wir haben es bisher bei hundert Menschen versucht, also fünfzig verschiedenen Paarungen. Warum klappt es nicht immer?«

»Manchmal gibt es das perfect match einfach nicht. Und vielleicht waren ein paar der Menschen nicht bereit, sich auf einen anderen einzulassen. Vielleicht waren die von der Einsamkeit schon korrumpiert.« Katja verschränkte die Arme. »Und am Anfang haben wir wirklich nicht die besten Paarungen herausgesucht. Oder die besten Treffpunkte.« Sie seufzte.

»Was ist das perfect match?«

Katja schmunzelte. »Du und ich, kochanyj. Wir verletzen uns nicht, lassen uns unsere Freiheit und schätzen einander.«

»Wir sind nicht verkuppelt worden.«

»Na, denk mal an meinen Vorgänger. Der hat meinen Vater gekannt, und als er sich zu alt gefühlt hat, hat er mich hier eingeschleust. So gesehen: Auch wir wurden verkuppelt.« Sie lächelte, als sie sich an ihren Nenn-Onkel Sascha erinnerte.

»Katja?«

»Ja?«

»Was bedeuten die Worte ›Ich liebe dich‹?«

Katja spürte einen heftigen Stich im Herzen. »Ich liebe dich. Ich liebe dich«, murmelte sie dann. »Wieso fragst du nach dem Sinn?«

»Weil ich es immer wieder höre, aber nicht zuordnen kann. Was bedeuten diese Worte?«

»Du willst also wissen, was Liebe ist?« Katja fuhr sich durch den dunklen Bob. »Liebe ist der soziale Kitt zwischen zwei Menschen, die sich in einer Beziehung miteinander verbinden.« Sie überlegte kurz. »Nein, so klingt das nicht gut. Weißt du, Spex, es ist schwierig, Liebe zu erklären. Sie ist nicht logisch, hält sich an keine Regel und –«, Katja stockte. »Es ist ein Gefühl. Aber was sind schon Gefühle?«

»Was fühlst du für mich?«

Katja stutzte. Horchte in sich hinein. ›Das ist Unsinn!‹, dachte sie dann bei sich. ›Das ist purer Schwachsinn, das ist Spex, eine Maschine, eine Ansammlung von Terabyte!‹

Trotzdem hörte sie sich antworten: »Was ich für dich fühle? Ya tebe kokhayu. Ich liebe Dich.« Und sie lächelte dabei und ihr Herz war weit und offen und die Welt blieb stehen. Jetzt war es endlich draußen. Und was gesagt war, war gesagt. Es hing zwischen ihr und Spex in der Luft und konnte nicht mehr zurückgenommen werden.

Katja wusste allerdings nicht, was sie noch weiter sagen sollte. Jetzt, wo das Wichtigste gesagt war, blieb sie sprachlos in ihrem Sessel zurück. Nur – wohin jetzt mit all dem Bauchgefühl? Wohin mit dem Sehnen nach Erwiderung und der Gewissheit angekommen zu sein? Katja fühlte sich trotz der fehlenden Worte in diesem Moment so lebendig wie lange nicht mehr. Sie spürte sich von den Haarspitzen bis in die Zehen hinein, ein Lachen kitzelte sie inwendig wie sonst der rote Krimskoye.

»Dann ist Liebe also nicht unbedingt körperlich?« Spex hatte seine Stimme wiedergefunden. Allerdings klang er nachdenklich. Nicht glücklich. Katja überhörte das, als sie sich auf eine Antwort konzentrierte.

»Früher hätte ich gesagt: doch. Körperlichkeit gehört zur Liebe. Durch Berührungen drückt sich alles aus, was man nicht in Worte fassen kann oder will. Eine Umarmung symbolisiert Schutz und Fürsorge. Ein Kuss kann alles Mögliche sein: Spielerei, Hingabe, ein Versprechen, die Erfüllung.«

Katja brach ab. Ihr Körper schmerzte, als sie so von den Dingen sprach, die sie insgeheim vermisste. Aber sie wollte es sich nicht eingestehen, wollte viel lieber an dem Sektgefühl festhalten. Also schloss sie die Augen, lächelte und redete weiter.

»Kochanyj, ich glaube, Liebe überwindet alle Grenzen. Liebe ist mehr als ein körperliches Bedürfnis. Liebe entsteht dort, wo man verstanden wird, wo man sicher ist, wo man geschätzt und gebraucht wird und wo Ehrlichkeit herrscht.« Sie öffnete die Augen und sah Spex an. »All das finde ich bei dir. Warum sollte ich dich also nicht lieben?«

»Kann Liebe auch dort existieren, wo sie nicht in gleichem Maße erwidert wird?«

»Wenn man davon ausgeht, dass Liebe ein altruistisches Gefühl ist, das vor allem den, der liebt, glücklich macht, dann würde ich das bejahen.« Katja schwieg.

Bin ich ein Altruist also oder nur ein Narr? Bin ich das schon immer gewesen? Sie dachte mit einem Mal an Andrij. Sie hatte ihn geliebt, obwohl er sie geschlagen hatte. Sie hatte Ausreden für ihn gefunden, sie hatte sich einreden wollen, dass er nicht sie meinte, dass ihn die Drogen dazu trieben. Hatte ihn später immer wieder aus ihrem Leben geworfen und sich dabei insgeheim doch nach seinen zärtlichen Berührungen gesehnt, denen eine ungestüme Leidenschaft inne wohnte. Die glücklichsten Momente aber, so kam es ihr vor, waren die, die sie mit der Vorstellung von Andrij verbracht hatte – und nicht die realen Begegnungen.

»Aber, kochanyj, lass es uns nicht zerreden. Wir wissen jetzt, woran wir sind. Ist das nicht genug für heute? Ich bin müde.«

Spex lächelte zu Katja hinunter. »Dann will ich nicht weiter drängen. Gute Nacht, Kat.«

Katja rutschte vom Sessel, streckte die Hand aus und strich über seine Wange, wie es ihr normaler Abendgruß war. Dann trat sie noch einen Schritt näher, reckte den Kopf hoch und tauchte mit geschlossenen Augen in die Holografie ein. Für einen Moment lag Spex knisternd auf ihrer Haut, dann trennte sie sich von ihm.

»Wir finden unseren eigenen Weg, Liebster. Gute Nacht.«

Dann klappte die Tür und Spex war alleine. Er trug Katjas Antworten in seine Datenbank ein, fügte sie ihrem Dossier hinzu und ließ ein Analyseprogramm darüber laufen. Danach schaltete er sich ab.

Ein paar Abende später kam Katja früher als sonst zur Leitzentrale. Sie wollte – ja was eigentlich? Ihn überraschen, das klappte nicht, weil er immer da war. Nun, sie hatte vorgehabt, seine Kapazitäten zu erweitern, in dem sie die automatisierten Prozesse anders packen wollte. Vielleicht brauchte er jetzt, da sie einen anderen Status innehatten, mehr Raum für sein Denken und Fühlen.

Als sie die Tür öffnete, hörte sie Evgenijs Cellospiel. Hatte sich Spex also wieder mal in die Wohneinheit 246P gehackt. Sie runzelte die Stirn. Warum schloss er sich nicht einem Musikdienst im Internet an? Dort konnte er den ganzen Tag Cello hören, ohne dass er immerzu seine Bewohner ausspionieren musste.

Katja schloss die Tür hinter sich und setzte sich in ihren Sessel. Schon wollte sie ihrer Meinung Luft machen, da sah sie neben Evgenij auf dem mittleren Schirm vier Frauenporträts auf den Monitoren links und rechts. Spex wandte sich zu Katja.

»Guten Abend, Kat. Wie geht es dir?«

»Ein bisschen besser als heute Mittag. Liegt wohl daran, dass ich nicht in meinem Arbeitsoverall stecke.« Sie zwinkerte Spex zu. »Was machst du da?«

»Ich versuche, ein Problem zu lösen.«

»Das da wäre?«

»Er.« Spex nickte zu Evgenij. »Er ist nicht kompatibel.«

»Wieso nicht?« Katja beugte sich nun doch interessiert vor. »Er sieht doch gar nicht so übel aus. Oder ist er insgeheim ein Psychopath, ein durchgeknallter Irrer, der Motten seziert und Milch trinkt?« Sie kicherte.

»Trinken Psychopathen gerne Milch?« Spex klang verwirrt.

Katja zwang sich wieder zum nötigen Ernst der Lage. »Ach, nur so ein Spruch von mir. Warum soll er nicht kompatibel sein?«

»Ich finde niemanden im Komplex, der näher als neunundfünfzig Prozent an ihn herankommt.«

»Was macht er denn so?«

»Er bastelt Roboterarme in klein. Als ob ihm die in groß auf seiner Arbeit nicht schon genug wären.«

»Und er spielt Cello.«

»Noch besser: Er vereint beides miteinander.«

»Ach ja?« Katjas Neugier erwachte. »Zeig es mir!«

Die Ansicht auf dem Hauptmonitor wechselte. Eine Sequenz aus der Brandschutzalarmkamera wurde abgespielt. Aus der Vogelperspektive sah man den blonden Schopf über das Cello gebeugt, während sich auf dem Tisch links neben dem Computer vier Miniaturroboter zum Klang der Musik bewegten. Spex zoomte das Bild größer. Es war eine klassisch anmutende Choreografie, exakt ausgeführt, wobei die Maschinen beinahe lebendig wirkten.

Katja blieb der Mund offen stehen. »Das ist wunderschön«, murmelte sie. Der Film stoppte.

»Gibt es denn niemanden, der das zu schätzen weiß?« Sie sah wieder zu Spex hin. »Hat denn niemand so viel Sinn für Fantasie oder Schönheit?«

»Nun ja, nicht, was das betrifft.« Spex klang nachdenklich. »Evgenij scheint ein passabler Koch zu sein. Jedenfalls lässt er sich Zeit damit und die meisten Ergebnisse sehen hinterher dem, was in seinen Kochbüchern steht, sehr ähnlich. Das ist die Eigenschaft, die auf die meiste Zustimmung trifft. Beim Cellospiel ist es schon nicht mehr so kongruent. Und was das Bauen von Modellen betrifft, da gibt es so gut wie keine Akzeptanz mehr. Was soll ich also mit ihm machen?«

»Scheint er zufrieden zu sein? Oder wirkt er unglücklich?«

»Es scheint ihm nichts zu fehlen.«

»Vielleicht soll es dann nicht sein. Wir können doch nur jemand verkuppeln, der sich auf jemand anderen einlassen will. Jemand, der Sehnsucht nach einem Pendant hat.«

»Wie wäre es, wenn du ihn dir mal aus der Nähe anschaust. Vielleicht habe ich ihn ja falsch analysiert.« Spex klang neutral.

»Warum liegt dir so viel an ihm?«

»Ich habe ihn kopiert. Und dich glücklich gemacht. Aus zwei Einzelnen ist ein Paar geworden, das hast du selber so bestätigt. Da gefällt es mir nicht, dass er allein durch meinen Komplex streift.«

»Du fühlst dich ihm gegenüber also verpflichtet, ich verstehe.« Katja lächelte ihn an. »Wenn das so ist, kochanyj, dann helfe ich dir gerne. Mal sehen, was wir für den Kerl machen können.«

Katja verabschiedete sich mit einem Kuss, drehte sich herum und machte sich auf den Weg in die sechzehnte Etage. Hin zu Appartement 246P. Wie sollte sie ein Gespräch anfangen? Welche plausible Erklärung hatte sie für ihr ungefragtes Erscheinen? Katja wollte nichts einfallen.

Als der Lastenaufzug auf Evgenijs Etage seine Türen öffnete, waren all diese Fragen wie weggewischt. Da stand er, mit dem elektrischen Cello, dessen Korpus abstrahiert war und nur durch den Schwung der Außenstreben noch an das klassische Instrument erinnerte, und einer kleinen Verstärkerbox links und rechts neben sich und schaute genauso belämmert drein, wie sie sich fühlte.

»Wie kommst du in diesen Aufzug?« Evgenij hatte seine Sprache zuerst wiedergefunden.

»Ich habe die Kombination, ich darf ihn benutzen.« Katja ballte die Fäuste. »Ich bin die Mechanikerin.«

»Oh.« Evgenij sah sie unschlüssig an. »Dann will ich mal nicht stören.« Schon drehte er sich zum Gehen herum.

»Moment mal.« Katja trat einen Schritt vor und stellte ein Bein in die Lichtschranke. »Was machst du denn eigentlich hier?«

»Ich habe auch die Kombination.«

»Von wem?«

»Von mir. Ich hab’s halt kombiniert.«

»Gehackt trifft es wohl eher, was?« Katja hob eine Braue.

Evgenij drehte sich wieder zu Katja. »Was wollen wir nun machen? Vergessen, dass wir uns hier über den Weg gelaufen sind oder es aus Versicherungsgründen der Verwaltung melden? Könnte aber uns beiden schlecht bekommen.« Er wies auf das Schild im Lift hin, dass die Nutzung des Aufzugs für private Fahrten untersagte.

Katja grinste. »Es gibt eine dritte Möglichkeit. Wo wolltest du mit deinem Cello hin?«

»Aufs Dach. Sonst hätte ich auch den normalen Lift nehmen können. Aber die fahren ja nicht so hoch.«

»Tja, dann helfe ich mit dem Verstärker. Komm rein!« Mit einem Ruck hatte Katja die kleine Box in den Aufzug gezerrt, dann lud sie Evgenij mit einer Handbewegung ein, seiner Ausrüstung zu folgen.

Beide schwiegen sich an. Nur hin und wieder und natürlich wechselseitig musterten sie sich eingehend. Am Dach angekommen, übernahm Evgenij die Führung. Er ging zu einem windgeschützten Winkel, schloss die Box an Spex’ Stromnetz an und stöpselte das Cello ein.

›Darf ich?‹, bedeutete Katja ihm stumm. Er nickte. Nach ein paar Momenten setzte er den Bogen an und begann zu spielen. Seine Versionen von Extreme und Apokalyptica stiegen in den samtig schwarzen Nachthimmel. Katja hockte sich in die Ecke, wickelte sich in ihre Strickjacke und hörte zu. Sie ließ sich von der Musik mitnehmen, blinzelte hin und wieder eine Träne zu den Sternen über ihr weg. Als er den Bogen absetzte, sah er abwartend zu ihr hinüber.

»Ich geh dann mal besser.« Sie klang leicht verschnupft, dann rappelte sie sich hoch. »Danke, Mann.«

Er nahm den Bogen in die Linke und hielt ihr unvermittelt seine Rechte hin. »Nicht einfach Mann. Ich bin Evgenij. Und du?«

Katja schlug ein. »Katja.«

»Du musst noch nicht gehen. Nicht meinetwegen.« Evgenij hielt ihre Hand länger als nötig war, aber nicht aufdringlich. Eher so, als habe er einfach vergessen, sie wieder freizugeben. Es fühlte sich nicht schlecht an.

Katja zog ihre Hand schließlich mit einem Ruck zurück. »Doch, doch. Es ist spät und ich muss wieder früh raus, morgen früh. Frühschicht, du verstehst?« Katja stolperte über die Worte. Sie drehte sich abrupt um und flüchtete in ihre Wohnung.

Als sie ins Bett kletterte, kniff sie die Augen fest zu. Spex, Evgenij. Evgenij, Spex. Wer war wer und wer war richtig? Es war ihr, als spürte sie noch immer die Wärme und Festigkeit von Evgenijs Hand, gleichzeitig fühlte sie das kühle Prickeln von Spex auf ihrem Gesicht und sie kam sich wie eine Verräterin vor, dass sie die beiden überhaupt nur miteinander verglich. Der Schlaf mied sie und so wälzte sie sich noch lange im Bett herum, bis irgendwann der Wecker wieder klingelte.

Am nächsten Morgen log sie Spex an, sagte, sie fühle sich krank und bräuchte ihre Ruhe. Sie übergab ihre Schichten an den Mechaniker von Spex 11, der nicht besonders erfreut war über die Mehrarbeit, aber trotzdem einsprang. Als er nach der Übergabe zum Rundgang aufgebrochen war, blieb Katja in der Leitzentrale zurück.

»Ich geh ins Bett, Spex. Lass die Kameras bitte aus. Ich fühle mich fürchterlich, wenn ich krank bin, und wenn ich weiß, dass du mich gerade dann beobachtest, wird es nur schlimmer. Tust du mir den Gefallen?«

»Sicher, Kat. Was immer du wünschst.«

»Danke.« Sie drehte sich zur Tür.

»Kat?«

»Ja?«

»Ich liebe dich.«

Katja drehte sich um. »Was?«

Spex flackerte kurz, dann erlosch er.

DIE LIEBESMASCHINE

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