Читать книгу Mit langem Atem zum großen Glück - Gabriele Klink - Страница 20
ОглавлениеLima/Peru - am 26. Juni 1980
Eine Indiofrau, Maxima Rosario, ihr Alter wurde im Armenhospital mit 22 Jahren angegeben, sie kannte ihr genaues Geburtsdatum nicht. Hochschwanger machte sie sich in ihrer traditionellen, bunt gewebten Indiotracht, ihrem weit schwingenden Rock, ein bunt gewebtes Tuch über die Schulter gewunden, schweren und langsamen Schrittes, vorgebeugt unter der Last des Kindes, das auf die Welt drängte, auf den Weg ins Armenhospital in Lima. Dort würde sie einem Kind das Leben geben, für das sie nichts hatte. Nichts als die nackte Armut in einer winzigen, windschiefen Bretterhütte mit einer Tür. Ohne Fenster und mit einem Wellblechdach, auf das der Winterregen in Lima trommelt. Der graue Lima-Nebel lag bleischwer über der Stadt. Das Thermometer zeigte acht Grad an. Limawinter. Sie verdiente als Wäscherin ein paar Centavos und mit viel Glück auch ein paar Soles. Diese reichten für die sechs hungrigen Mäuler nicht aus. Ihr Mann hatte sich irgendwann einmal aus dem Staub gemacht.
Eigentlich lebte sie mehrere Tagesreisen von Lima entfernt, im Hochland der Anden auf etwa 3.000 m Höhe. Heute arbeitet Maxima Rosario an der Küste in Perus Hauptstadt Lima, begrenzt durch die Anden, dem mächtigsten Faltengebirge der Welt, mit seiner Gebirgslänge von 7.300 km, das den ganzen Kontinent durchzieht und begleitet.
Ihre Familie hingegen lebt im Hochland, dem Altiplano mit seinen schroffen Höhenzügen und Gletschervulkanen. Diese Hochtäler liegen 2.300 bis 3.800 m hoch. Hier leben die meisten Indiobauern, die Quechua und bauen Mais, Weizen, Gerste und Kartoffeln an. Maxima Rosarios Familie gehört zum Stamme der Quechua.
Das kleine Indiodorf auf dem Altiplano, dem kargen Hochland der Anden, ernährt die Familie mehr recht als schlecht. Sie leben von den wenigen Alpakas, dem Lasttier der Anden und den Schafen, die sie züchten und die sie auf dem Indiomarkt verkaufen. In dieser Höhe ist das Land karg, die Luft dünn und das Leben schwer.
Ihre Nachbarn besitzen noch zottige, braune Lamas und Guanakos als Lastentiere und Lieferanten für Fleisch und Wolle. Manche besitzen Schweine und in tieferen Lagen Rinder, die die spanischen Eroberer mitbrachten. Fast alle Indios halten sich als Haustiere Meerschweinchen, die gegessen werden.
Hoch über ihnen in der Luft gleitet der Kondor, der Herr des Hochgebirges, der schwerste fliegende Vogel mit einem Körpergewicht von bis zu zwölf Kilo und einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern, ruhig und majestätisch über die Geröllfelder, Gletscher und das braune Land des Altiplano dahin. Der braune Boden ist karg und die kleinen Lehmhäuser mit den mit Schilf gedeckten Dächern ducken sich hinter braune Lehmmauern. Die Großmutter sitzt mit ihrem Wetter gegerbten braunen Gesicht und unzähligen tief eingegrabenen feinen Falten alterslos erscheinend, mit hervorgetretenen Backenknochen in der wärmenden Nachmittagssonne. Die Spindel zum Wollespinnen in den ruhelosen braunen Händen.
Viele Indios tragen Trachten, die von Region zu Region sehr unterschiedlich sind. Die Stoffe werden mit traditionellen Farben und Indiomustern aus Schaf- oder Alpakawolle selbst gewebt. Die Motive sind der Natur entnommen: Vögel, Pflanzen, der Kondor, das Lama, die doppelköpfige Schlange, die Sonne. Über die weit schwingenden Röcke wird eine farbenfrohe Bluse getragen. Ein Hut krönt das Ganze. Die Männer tragen über den Hemden quadratische Ponchos, einen Hut oder eine gestrickte Mütze.
Jeder in der Familie hat seine festgelegte Aufgabe: Holz organisieren, die Tiere versorgen, den Boden mühsam bestellen, Süßkartoffeln und Mais ernten, aus der gesponnen Schafs- und Alpakawolle leuchtende Teppiche und Tücher zu Umhängen weben, um diese zu verkaufen. Hier ist Maxima Rosario zu Hause. Sie hat wie alle Indios eine enge Bindung zur Familie und zur Mutter Erde.
Als Maxima Rosario noch klein war, wurde sie von ihrer Mutter auf dem Rücken getragen, eingehüllt in ein bunt gewebtes Stofftuch. Sie war in den Tagesablauf eingebunden, spürte die Sonne, den Regen, die Kälte und erfuhr jede Bewegung der Mutter hautnah. Sobald sie laufen konnte, trippelte sie neben der Mutter her, begleitete sie beim Kochen am Lehmherd und leistete ihr Gesellschaft bei der Feldarbeit, beim Weben, Wolle spinnen oder Schafe hüten. Mit drei Jahren durfte sie schon selbst auf die Tiere aufpassen, sie half im Haushalt mit und Maxima Rosario erlebte Arbeit in der Familiengemeinschaft.
Eine Spielwelt kannte sie nicht, sie war damit beschäftigt, Menschen, Tiere und die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen und zu entdecken. Sie lernte, wie Erde riecht, wie man sät oder erntet, wie man miteinander spricht und isst.
Als sie in die Schule kam, war der Schulweg lang und weit. Vor und nach dem Unterricht erledigte Maxima Rosario die ihr aufgetragenen häuslichen Pflichten. Sie kümmerte sich um die kleineren Geschwister, trug sie in ihrem bunten Tragetuch, half der Mutter Dinge herzustellen, die auf dem Sonntagsmarkt verkauft werden konnten, bewässerte den Garten, lernte Stoffe zu weben, um daraus Bekleidung zu nähen oder Töpfe aus Ton herzustellen. Sie wurde größer, entdeckte ihre Umwelt, half der Mutter auf dem Markt ihre Waren zu verkaufen und lernte, wie man mit Geld umgeht und eine geübte Verkäuferin wird. Sie erfuhr etwas über Arbeit und Feilschen, über Streit, über die Überheblichkeit der Städter sowie die Solidarität ihrer Großfamilie und der Dorfgemeinschaft.
Wurde Maxima Rosario zu Hause bei der Ernte gebraucht, fiel die Schule aus. Sie lernte, das kleine Lehmhaus in Ordnung zu halten und zu reparieren. Das Haus hatte ihr Vater mit Nachbarn erbaut. Zuerst hatten sie in dem Lehmboden ein Loch gegraben. Lehm, Wasser und klein gehäckseltem Stroh wurden mit den nackten Füßen gestampft, ehe aus dieser Masse dann Ziegel geformt wurden, die in der Sonne trockneten. Daraus wurde dann das Haus gebaut.
Sie lernte auf einem Tier zu reiten, Wasser zu holen und an der Wasserstelle die Wäsche zu waschen, die auf der Wiese oder an Sträuchern zum Trocknen ausgelegt wird. Brennholz sammeln, Maissuppe kochen oder die dünnen Maisfladen zu backen, gehören zur Hausarbeit. Die kleine Kochstelle liegt genau neben der Tür, so kann der Rauch bequem abziehen.
Auch der kleine Lehmstall neben der Hütte muss sauber gemacht werden. Am Abend versammelt sich die ganze Familie vor dem Haus. Alle essen dasselbe und wenn es dunkel wird, schlüpfte Maxima Rosario zu ihren Geschwistern auf eine Matte oder ein Tierfell, das auf der Erde lag, und kuschelte sich unter eine gewebte Wolldecke.
Ihre Familie gehörte noch zur Urbevölkerung des Andenstaates mit seiner kolonialen Vergangenheit, aber auch seinem brutalen Terror, der alltäglichen Gewalt und der Korruption in Peru, der grenzenlosen Armut und einem von Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Land.
Doch mit sieben Jahren änderte sich ihr Leben dramatisch. Sie wurde als „Chica“ zu einer Señora und einem Patron in die Millionenstadt Lima geschickt. Sie sah zum ersten Mal das schäumende Meer und rund um sich herum nichts als gelbbraune Wüste. Maxima Rosario wusste, dass viele Mädchen in diesem Alter eingetauscht oder verkauft werden, um bei reichen Leuten bei einer Señora zu waschen, zu putzen, zu kochen und auf die Kinder aufzupassen.
In den kommenden Jahren würde sie mehrmals ihre Arbeitsstelle wechseln.
Sie musste auch auf die Kinder des Patrons aufpassen. Von Sonnenaufgang bis oft kurz vor Mitternacht. Ein eigens Zimmer hatte sie nicht, sie schlief auf der Erde in einer Ecke der Wäschekammer.
Maxima Rosario fügte sich in ihr Schicksal, sie kannte es nicht anders. Wenn der Patron sie nicht benötigte, vermittelte er die Kleine an Bekannte weiter. Der geringe Lohn reichte nie. Sie wurde oft beschimpft und lebte von den Essensresten der Familie oder dem, was man ihr übrig ließ. Nur ihre Arbeitskraft war gefragt und die möglichst kostenlos. Eine Schwangerschaft würde sie den Arbeitsplatz kosten. Das konnte sich Maxima nicht leisten.
Heimlich hatte sie bereits einigen Kindern das Leben geschenkt. Sie lebte in einer der unzähligen Callampas, die sich wie ein Kranz um die Millionenstadt Lima schmiegen. Etwa fünf Millionen Menschen leben auf diesen Müllhalden, um Abfall aus dem Wohlstandsmüll zu sammeln, Büchsen, Papier, Flaschen, Metall, Bekleidung und Essensreste, um zu überleben. Ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation, in einer Hütte aus Holz und Blechteilen zusammengezimmert mit Karton, Plastikfetzen, Strohmatten gegen den staubigen Wind abgedichtet. Gegen den Regen schützen Wellblechreste notdürftig ab.
Das, was sie als Wäscherin oder Hausmädchen verdiente, reichte nicht. Ihre Señora ahnte auch nicht, dass sie hochschwanger war. Ihre weiten Indioröcke verbargen ihren Zustand geschickt.
An diesem 26. Juni 1980 bat sie die Pachamama, die Mutter Erde, dass sie ihr Kind erst in der Nacht schicken möge, denn dann könnte sie am anderen Morgen wieder zur Arbeit gehen ohne dass irgendjemand von der Geburt ihres Kindes erfuhr, denn dies hätte unweigerlich eine Kündigung zur Folge gehabt. Und womit sollte sie dieses weitere Kind ernähren und am Leben erhalten?
Hier in der Callampa war das menschliche Leid, die Not, die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit oft nicht mehr zu ertragen. Maxima Rosario lebte von der Hand in den Mund, von einem Moment zu anderen, von einem Tag zum nächsten Tag, immer in Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren. Sie lebte nur vom und im Augenblick, orientierte sich an der augenblicklichen, momentan realen Welt und versuchte, nicht an das aussichtslose Morgen zu denken.
Ihre Kinder halfen, das tägliche Überleben zu organisieren, sie versuchten sich als Schuhputzer, trugen auf ihrem Kinderrücken schwere Lasten vom Markt zu den Reichen nach Hause, wuschen für etwas Geld die Autos im quirlenden Straßenverkehr, sangen in den Bussen, bis sie rausgeschmissen wurden. Ohne diese Arbeitseinsätze ihrer Kinder wäre eine Existenzsicherung nicht möglich gewesen.
An diesem Tag durchforsteten ihre Kinder die Müllhalden der Stadt, um Abfall zu sammeln, den man dann verkaufen könnte. Ein Leben auf den stinkenden, schwelenden Müllbergen. Tausenden von Kindern in Lima ergeht es so.
In dieser Nacht war Maxima Rosario noch unterwegs, sie war auf dem Weg nach Hause. Sie dachte an ihre Kinder und an das, was sich nun vehement regend unter ihren weiten, bunten Indioröcken verbarg und bewegte. Hoffentlich würde das Kind in dieser Nacht zur Welt kommen.
Sie wusste, dass sie ihr Kind nicht auf dem Standesamt in Lima anmelden konnte, wie ihre anderen Kinder auch. Sie existierten amtlich nicht. Damit fielen auch keine Gebühren an und wenn eines der Kinder sterben würde, müsste man keine „Todesgebühren“ bezahlen.
„Was soll ich bloß mit diesem Kind tun? Ich kann mich und die anderen Kinder kaum ernähren?“, murmelte sie verzweifelt vor sich hin.
Eine Freundin, die auch als Empleada, als Hausmädchen bei den reichen „Gringos“, den Weißen arbeitete, hatte ihr zugeflüstert, sie solle im Armenhaus ihr Kind zur Welt bringen.
Automatisch bog sie in die staubbedeckte, nächtliche Straße am Rande der Stadt ein und stand unvermittelt vor dem Armenkrankenhaus.
Morgens um 4:15 Uhr schenkte sie einem kleinen Mädchen das Leben. Nach neun Monaten brachte sie ihr 3.210 Gramm schweres Kind zur Welt.
Einen Namen erhielt das kleine Bündel Mensch nicht, es würde sowieso nicht überleben. Maxima Rosario hatte kaum Muttermilch, weder ein Bett noch ein warmer Raum war vorhanden. Draußen zeigte das Thermometer am Nachmittag ganze acht Grad plus an. Limawinter.
Sie wusste, dass sie das Hospital nach der Entbindung innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlassen musste. Im ersten Morgengrauen schlich sie sich vorzeitig heimlich davon und tauchte im Nebeldunst unter. Ohne ihr Kind.
Das machen viele Indiofrauen, die vom Hochland in die Stadt kommen, um hier den Lebenskampf zu bestehen.
Außerdem musste sie als Wäscherin früh am Morgen kurz nach Sonnenaufgang bei der Señora ihre Arbeit aufnehmen, wenn sie ihre Arbeitsstelle nicht aufs Spiel setzen wollte.
Das kleine, verlassene und namenlose Wesen wurde in feste Tücher gewickelt und in einen Raum getragen, in dem auf langen einfachen Holzpritschen viele Neugeborene lagen.