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5. Marie Goldt

(Mittwoch, 9. November 2011)

»Findest du, dass uns das steht?«

Ich musste lachen, als Finchen und Julia in schwesterlichem Partnerlook vor mir standen, beide eine Wollmütze mit Tiergesicht auf dem Kopf. Julia trug die Version »Panda«, ihre vierjährige Schwester Finja dasselbe Modell, Motiv Teddybär. Ich selbst liebäugelte mit Chunky Red Heart Slippern, einer Art Hüttenschuh-Stiefel mit Kunstfellbesatz, Bommeln und roten Herzchen darauf, sowie dazu passenden Pulswärmern. »Sieht nach einem totalen Kauf-Muss aus«, grinste ich und beäugte das Preisschild der Slipper. Neunundzwanzig Euro, das war definitiv zu teuer für mich. Finja stolzierte wie ein Topmodel durch den Laden und zeigte allen Kunden, wie niedlich sie mit der Bärenmütze aussah. Dann war sie von einer Sekunde auf die andere durch die Ladentür verschwunden, um ihre Beute dem weitaus größeren Publikum auf der belebten Mönckebergstraße vorzuführen.

»Halt, hiergeblieben, junge Dame«, rief ich, packte Finchen an der knallroten Kapuze und beförderte sie wieder zurück. Mittlerweile war auch eine Verkäuferin auf uns aufmerksam geworden, weil die Alarmanlage losgegangen war, was Finja jedoch völlig unbeeindruckt ließ.

»Sie ist eine kleine Ausreißerin«, entschuldigte Julia sich und gab ihrer Schwester eine leichte Kopfnuss, was diese mit einem genervten »Menno« kommentierte. Ich versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, auch wenn ich mich innerlich über Finchen kringelig lachen musste. Sie war die geborene Schauspielerin.

»Und? Bist du jetzt gerüstet für dein Date mit André?«, wollte ich wissen, nachdem Julia die beiden Mützen bezahlt hatte und dachte, dass der neue Hottie an der Schule bescheuert sein musste, wenn er ihre Gefühle nicht endlich erwiderte. »Ich denke schon. Vorausgesetzt, dass es am Freitag nicht so warm wird wie heute«, grinste Julia siegessicher. »Sonst muss ich umdisponieren.«

Als wir unseren Lieblingsladen Accessorize verlassen hatten, schlug uns ein Schwall schwüler, abgasschwerer Luft entgegen. Der Eiswind war einem Hochdruckgebiet gewichen – ein spontaner Wetterwechsel, wie so häufig in diesem Jahr.

Ich hielt Finja an der Hand, damit sie uns nicht entwischen und vor einen der Busse laufen konnte, welche die beliebte Hamburger Einkaufsstraße mit ziemlichem Tempo rauf- und runterfuhren. Unser nächstes Ziel war das Café Vivet in der Spitalerstraße, in dem es den besten Rüblikuchen jenseits der Schweiz gab. Finja hatte eine Schwäche für die kleine Karotte aus Marzipan, die auf dem locker-luftigen Traum aus geraspelten Karotten, Haselnüssen und Aprikosenmarmelade thronte. Sie war immer erst zufrieden, wenn wir unseren Stadtbummel abschließend mit dieser Köstlichkeit krönten.

Nachdem wir bestellt hatten, ging ich zur Toilette.

Dort musste ich ein paarmal tief durchatmen, denn es nagte ein wenig an mir, dass ich im Gegensatz zu Julia so sparsam sein musste. Ludmilla zahlte mir nur fünf Euro neunzig die Stunde. Um gegen mein negatives Gefühl anzukämpfen, wusch ich mir erst mal das Gesicht mit kaltem Wasser und schaute dann in den Spiegel: Ich sah ein hübsches Gesicht mit grünen Augen, das lange, rotblond gelockte Haar zu einem dicken Zopf gebunden. Meine Nase konnte man durchaus als markant bezeichnen, eindeutig Papas Erbe. Die hohen Wangenknochen – um die Julia mich glühend beneidete -, waren allerdings ein Geschenk meiner Mutter. Als ich an die beiden dachte, wurde mir sofort schwindelig und ich klammerte mich am Rand des Waschbeckens fest. Nein, Marie, du wirst jetzt nicht ohnmächtig!, sprach ich mir Mut zu und dachte an die Aufgabe, die Dr. Hahn mir gestellt hatte: der Brief an meinen Vater.

Als ich zurück an den Tisch kam, standen nicht nur drei Stück Kuchen und drei Becher heiße Schokolade darauf, sondern auch ein Päckchen. »Was ist das denn?«, fragte ich verwirrt und setzte mich. Julia lächelte vielsagend. »Pack’s aus, pack’s aus«, rief Finja aufgeregt und pikste mit der Gabel kleine Löcher in das hübsche Papier. »Hey, lass das«, schimpfte Julia. Grinsend steckte ihre Schwester den Kopf tief in den Becher. Gespannt löste ich das goldene Kringelband und öffnete vorsichtig das Geschenk.

»Es ist zwar noch nicht Weihnachten, aber ich hoffe, du freust dich trotzdem«, sagte Julia und sah aus, als würde es sie selbst vor Aufregung gleich in tausend Stücke reißen. »Nun mach schon Marie, das Ding beißt nicht! Ist ja nicht mit anzusehen, wie lange du brauchst, um es auszuwickeln.«

Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich die wollenen Slipper mit den roten Herzchen in der Hand hielt. »Www. . . wann hast du …?«, stotterte ich aufgeregt.

»Während du erst die Pulswärmer ausprobiert und dann mein Schwesterherz eingefangen hast«, grinste Julia und Finchen gluckste zufrieden.

»Dann war das also ein abgekartetes Spiel?«, fragte ich, während meine Finger mit den puscheligen Bommeln spielten. Finja lächelte frech und legte dabei zwei Zahnlücken frei, was so entzückend aussah, dass ich sie spontan an mich drückte und abknutschte. »Und was ist mit mir?«, empörte sich Julia, woraufhin ich sie ebenfalls umarmte. »Du bist und bleibst einfach meine beste Freundin, vollkommen unabhängig von irgendwelchen Päckchen«, raunte ich ihr ins Ohr und dachte nicht zum ersten Mal, was für ein großes Geschenk Julia war. In all den Jahren waren wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen und kannten einander in- und auswendig. Egal wie tief wir in irgendwelchem Mist steckten, Julia war immer für mich da und ich für sie.

Nachdem wir den Kuchen gegessen und unsere Shopping-Beute ausgiebig bewundert hatten, machten wir uns auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof, um nach Hause zu fahren. Wie immer stieg ich einige Stationen vor den beiden aus. »Bis bald, meine Süßen«, rief ich zum Abschied und warf Finchen einen Luftkuss durch die Scheibe zu, als die Bahn weiterfuhr. Ich freute mich jetzt schon wie verrückt auf das Plätzchenbacken mit anschließendem DVD-Marathon, mit dem wir auch dieses Jahr wieder traditionell die Weihnachtszeit einläuten würden.

Gut gelaunt schlenderte ich die Reeperbahn hinunter und kam auf dem Weg an Ludmillas Bäckerei vorbei. »Hey, Marie, da bist du ja endlich«, rief jemand und ich drehte mich um.

»Hallo Morten«, grüßte ich fröhlich. Ich mochte den Typen aus der Nachbarschaft, der irgendwas mit Web-Design zu tun hatte und in Hamburgs Kult-Kneipe, dem Lehmitz jobbte.

»Wo warst du denn? Ich dachte, du arbeitest montags, mittwochs und samstags bei Ludmilla?!«

»Nö, tu ich nicht. Mittwochs habe ich frei«, korrigierte ich ihn und schaute auf die Uhr. Gleich kam Kathrin nach Hause und ich musste noch einkaufen. »Entschuldige, ich muss los. Wir sehen uns dann morgen, oder?« Morten verzog die Mundwinkel. »Schade, dass du es immer so eilig hast. Man kann ja kaum mal in Ruhe zwei Worte mit dir wechseln.« Dann lächelte er. »Aber ich gebe nicht auf und werde wie immer mein nachmittägliches Stück Kuchen bei dir kaufen. Man sieht sich!« Und schwupps machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder zwischen den vielen Menschen, die um diese Uhrzeit den Kiez bevölkerten. Ich selbst ging in den Supermarkt und besorgte alles, was Kathrin mir heute Morgen auf die Einkaufsliste geschrieben hatte. Und das war diesmal eine Menge!

»Bin wieder zu Hause, jemand da?«, rief ich kurze Zeit später durch den Flur, nachdem ich die schweren Tüten die Treppen hochgewuchtet und stöhnend auf dem gefliesten Boden abgestellt hatte. Zu blöd, dass wir kein Auto hatten, um mal einen richtigen Großeinkauf zu machen.

Da niemand antwortete, öffnete ich die angelehnte Tür von Lykkes Zimmer. Ein Teil von mir glaubte immer noch daran, dass es irgendwann besser mit uns laufen würde, wenn ich nur weiterhin die Nerven behielt und nett zu ihr war.

Der Anblick, der sich mir bot, war derselbe wie jedes Mal: Lykke saß mit dem Rücken zu Tür an ihrem Rechner, die Füße auf dem Schreibtisch und schaute irgendwelche Videos auf YouTube. Ich schüttelte den Kopf und dachte mal wieder, dass ich depressiv werden würde, wenn ich in diesem Zimmer wohnen müsste. Nach Lykkes Ansicht war der Style vermutlich gothic. Für mich aber war es nur die beste Möglichkeit, um richtig schlechte Laune zu bekommen. Die Wände waren dunkellila gestrichen, die Vorhänge aus schwarzem Samt. Das alles passte allerdings wunderbar zu ihrem eigenen Style mit den schwarz gefärbten Haaren, Smokey Eyes und dunkelgrün lackierten künstlichen Fingernägeln.

Da sich in diesem Moment der Schlüssel im Schloss drehte, beschloss ich, besser schnell die Einkäufe in die Küche zu bringen, bevor Kathrin einen ihrer Anfälle bekam. Früher war meine Stiefmutter ganz okay gewesen, aber in den letzten Jahren war sie zu einem launischen Nervenbündel mutiert, was das Zusammenleben mit ihr nicht gerade leicht machte. Nachdem Papa gestorben war und sie nicht nur die Verantwortung für Lykke, sondern auch für mich übernehmen musste, hatte sie jetzt auch noch ihren festen Job als Musikpromoterin verloren. Das alles hatte ihr sichtlich zugesetzt. Aus der hübschen, lebenslustigen Person mit den kurzen dunklen Locken, blitzenden Augen und den vielen Sommersprossen war eine ziemlich verbitterte Frau geworden. Es gab Tage, an denen ich sie am liebsten erwürgt hätte, und Tage, an denen sie mir einfach nur leidtat.

»Hallo Kathrin«, begrüßte ich sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wie war dein Vorstellungsgespräch?«

Ein Blick in die müden, trüben Augen genügte und ich kannte die Antwort.

Also fragte ich, ohne weiter auf eine Antwort zu warten: »Möchtest du einen Tee?« Kathrin nickte, ließ sich wortlos auf einen Küchenstuhl fallen und ich stellte den Wasserkocher an. Während das Wasser heiß wurde, verstaute ich die Einkäufe und stellte dann alles für den griechischen Salat mit Knoblauch-Baguette bereit, den es heute zum Abendessen geben sollte.

»Hattest du denn wenigstens einen schönen Tag?«, fragte Kathrin und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Es war lange her, dass sie sich mal nach meinem Befinden erkundigt hatte. Auch den Besuch bei Dr. Willibald Hahn schien sie vergessen zu haben. Oder sie versuchte, einfach nur die Tatsache zu ignorieren, dass ich die Hilfe eines Therapeuten benötigte.

»Ich war mit Julia und Finchen bummeln und die beiden haben mir das da geschenkt«, erzählte ich und holte das Paket mit den Hüttenstiefeln aus der Tasche. »Die sind ja süß«, lobte Kathrin und streichelte verträumt den Kunstfellbesatz. »Die könnten mir auch gefallen. Jetzt, wo es bald wieder kälter wird und es in dieser Wohnung durch alle Ritzen zieht.«

Einem Impuls folgend drückte ich ihr die Slipper in die Hand. Wir hatten beide dieselbe Schuhgröße.

»Ach, spielt das Fräulein Schwester wieder mal Engel der Barmherzigkeit?«, kam es in diesem Moment spöttisch von der Tür – Auftritt Lykke. »Ich bin nur hier, um euch zu sagen, dass ich heute Abend in meinem Zimmer essen werde. Euer Familienidyll kotzt mich nämlich an.« Mit diesen Worten warf sie die Küchentür krachend ins Schloss. Kathrin gab mir die Stiefel zurück, sagte »Danke, aber das kann ich wirklich nicht annehmen« und ging Lykke hinterher.

Seufzend goss ich den Hagebuttentee auf und begann dann, Tomaten, Gurken und den Eisbergsalat zu waschen.

Das würde ja mal wieder ein toller Abend werden!

Goldmarie auf Wolke 7

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