Читать книгу Goldmarie auf Wolke 7 - Gabriella Engelmann - Страница 7
ОглавлениеProlog
Die Feenkönigin bürstete das schlohweiße Haar, welches ihr bis zu den Hüften reichte, sodass der Kamm begann, Funken zu sprühen. Nachdem sie ihre Lippen mit einem korallroten Stift nachgezogen hatte, ging sie zum Brunnen und blinzelte einen Moment in die untergehende Sonne, deren Strahlen wie Blitze auf dem ansonsten dunklen Wasser tanzten. Ihre schmalen Füße steckten in roten Schnürstiefeln, die sie auf einem goldenen Fußbänkchen abgestellt hatte, um bequemer auf dem schon bröckeligen Mauerwerk sitzen zu können.
Dann formten ihre Lippen die Worte
Goldene Stühle, Rosenstöcke,
Frauenkäfer und woll’ne Röcke.
Tragt mich in den Brunnen, tief.
Bestäubt den Schleier, nehmt mich mit.
Wie immer dauerte es eine Weile, bis der Zauberspruch wirkte …
Kurze Zeit später putzte sie sich in Gestalt einer weißen Taube das Gefieder, gurrte eine kleine Melodie - und verschwand schließlich aufgeregt flatternd in der Tiefe des Brunnens, auf dem Weg zur Anderswelt.
Am Ende dieser magischen Reise ging erneut eine seltsame Verwandlung vor sich: Das glänzende Gefieder wich einem silbern schimmernden Kleid, seine Vogelkrallen wurden von purpurfarbenen Schnürstiefeln umhüllt, der feste Schnabel verwandelte sich in samtig rote Lippen.
Die Feenkönigin legte den über alles geliebten schwarz-weiß gemusterten Schal um die Schultern und schaute sich um. Vor ihr lag eine Blumenwiese, wie sie schöner nicht hätte sein können. Vögel zwitscherten, Insekten surrten und Marienkäfer krabbelten über sattgrünes Blattwerk.
Die Fee ließ ihren königlichen Blick über Bergkämme, Talmulden, sanft plätschernde Bächlein, Waldlichtungen und stolze Baumkronen schweifen, bis hin zu dem Berg im Tessin, von wo sie stammte.
»Ich grüße euch, meine Lieblinge«, murmelte sie, raffte die Röcke und begann ihren täglichen Spaziergang. In der Hand hielt sie das goldene Bänkchen, das ihr wertvolle Hilfe leistete, wenn sie müde wurde. Wo auch immer ihre Füße den Boden berührten, wurde das Gras grüner, entfalteten die Blumen größere und schönere Blüten. An den Bäumen reiften Früchte, die nur darauf warteten, sie mit ihrer saftigen Süße zu verwöhnen. Schneefelder schmolzen, wenn der Schnürstiefel auf Eiskristalle traf, scharfer Nordwind wich im Handumdrehen einer milden Brise, die das Bukett von wilden Rosen mit sich trug. Die Königin pflückte einen rot glänzenden Apfel, und biss voller Genuss hinein. Angelockt vom Duft frisch gebackenen Brotes ging sie schließlich weiter und grüßte die Holden, bezaubernde Priesterinnen, die dafür sorgten, dass es den Menschen auf der Erde an nichts fehlte. Wenn zum Beispiel irgendwo auf der Welt Regen benötigt wurde, dann wuschen sie Wäsche – und die Menschen sagten: »Seht nur, heute hat Frau Holle Waschtag!«
Wenn die Kinder voller Sehnsucht auf Weihnachten warteten und darauf, endlich einen Schneemann bauen zu können, befahl die Königin den Holden, die Betten kräftig aufzuschütteln, damit es auf der Erde schneie.
Nur eines tat sie ausschließlich selbst – denn das war der größte Schatz, den sie zu geben hatte: Wenn die Menschen sich nach einem langen, harten Winter nach Wärme und Licht sehnten, öffnete die Feenkönigin mithilfe ihres schmiedeeisernen Schlüssels höchstpersönlich das Wolkentor und ließ die Sonne hinaus in die Welt. Dann sangen die Menschen wunderbare Lieder, lachten und tanzten und riefen trunken von Glückseligkeit: »Die Sonne scheint! Frau Holle trocknet heute ihre Wäsche …«