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1. Marie Goldt

(Montag, 7. November 2011)

»Kommst du nach der Schule noch mit zu mir?«, fragte Julia, während ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe auseinanderfriemelte und mich ärgerte.

Sport gehörte ebenso wenig zu meinen Talenten wie Tontaubenschießen oder Bungeejumping – und war mindestens genauso widerlich! Gerade hatte ich wie ein schlaffer Mehlsack am unteren Drittel des Taus gehangen, unfähig, mich auch nur einen Millimeter weiter nach oben zu hangeln. »Geht heute leider nicht, muss doch arbeiten«, antwortete ich und stopfte die Schuhe in meinen Rucksack. »Ach stimmt, heute ist ja Montag!« Julia tippte sich mit einem ihrer langen, zartgliedrigen Finger gegen die Stirn. Wie immer bewunderte ich ihre perfekt manikürten Nägel, die sie in einem hellen Rosé-Ton lackiert hatte. »Ich bin nach diesem super Wochenende noch so auf Autopilot, dass ich heute irgendwie gar nichts auf die Reihe kriege.«

»Am Seil sah das aber gerade ganz anders aus. Meine Bewunderung für deine sportlichen Fähigkeiten kennt keine Grenzen«, grinste ich und stand auf. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich zu spät zu meiner Schicht kommen. »Sollte es mit meiner Karriere als Anwältin nicht klappen, kann ich es immer noch mit Pole Dance versuchen«, lachte Julia und schnappte sich ebenfalls ihre Sachen. Im Gegensatz zu mir verstaute sie die in einem rosa-lila karierten Teil der Marke Billabong, weil bei Familie von Menkwitz das Surfen als Freizeitbeschäftigung gerade ganz hoch im Kurs war. Seite an Seite trabten wir über den Schulhof zu unseren Rädern, die nebeneinanderstanden. »Hast du Lust, heute Abend vorbeizukommen? Ma kocht ihre berühmte Kürbis-Ingwer-Suppe und danach gibt’s Dampfnudeln mit Vanillesoße.« Ich überlegte. Die Bäckerei schloss um sieben. Doch selbst wenn ich mich beeilte, würde ich nicht vor halb acht bei Julia sein können.

»Tut mir leid, ich würde euch wirklich gern besuchen. Aber ich muss nachher unbedingt noch was für Latein machen. Ein anderes Mal, okay?« Julia zog einen Flunsch. »Finchen wird enttäuscht sein, sie hat dich schon so lange nicht mehr gesehen. Und Mama hat auch schon gefragt, ob wir uns gestritten haben.«

Ein feiner Stich fuhr mir ins Herz. Im Gegensatz zu meiner Mutter interessierte sich Gesa von Menkwitz für ihre Tochter und somit auch für deren Freundinnen. Aber sie war ja auch Julias leibliche Mama, was bei Kathrin nicht der Fall war.

Sie war nur meine Stiefmutter. Von meiner »echten« fehlte, seit ich drei war, jede Spur. »Gib Finchen einen Kuss und sag ihr, dass wir bald was zusammen unternehmen. Sorry, Jule, ich muss jetzt wirklich los, sonst flippt die Drachenlady aus.« Die Drachenlady hieß eigentlich Ludmilla Drach, sah aber so aus, als würde sie ihren Jahresurlaub vorzugsweise in Transsilvanien verbringen. Ihre spitzen, langen Eckzähne waren nicht nur unästhetisch, sondern konnten einem echt Angst machen. Dass ausgerechnet so jemand Bio-Backwaren produzierte, würde mir auf immer ein Rätsel bleiben.

Eine halbe Stunde später parkte ich mein Rad im Hinterhof der Bäckerei, in der ich jobbte, seit Kathrin mich gebeten hatte, ein bisschen was zum gemeinsamen Haushalt beizutragen. Grundsätzlich hatte ich kein Problem damit – bis zu dem Zeitpunkt, als ich herausfand, dass diese Bitte sich nicht an Lykke gerichtet hatte. Lykke war meine Stiefschwester, die leibliche Tochter von Kathrin. Und für Lykke (von Jule nur die faule Socke genannt) galten grundsätzlich andere Regeln.

Oder genauer gesagt: GAR KEINE.

»Du bist zu spät«, stieß Ludmilla zwischen ihren vom vielen Rauchen vergilbten Zähnen hervor und kräuselte die überschminkten blutroten Lippen. Anstelle einer Antwort ging ich zum Backautomaten und befüllte ihn mit Bio-Franzbrötchen, Roggenbrot, Schrippen und was sonst noch gerade fehlte.

Wie immer war ich zehn Minuten vor meiner Schicht da, wo also war das Problem?

Ludmilla streifte die Einweghandschuhe ab und nahm ihren schwarzen, verfilzten Woll-Poncho vom Garderobenhaken. Mit den Worten »Dass du mir ja keine Sekunde früher als sieben Uhr abschließt« verließ sie den Laden. Eine Wolke von schwerem Billigparfüm hing in der Luft und drohte einen kurzen Moment lang, mich zu ersticken.

»Moinsen«, schallte es da fröhlich durch den Raum und ich blickte erfreut in die blitzblauen Augen von Knud, der direkt nebenan seinen Kiosk hatte. »Na Knud, alles klar?«, fragte ich und nahm gewohnheitsmäßig seinen Becher mit dem Logo Hamburg, meine Perle entgegen. Dann stellte ich ihn unter unsere Kaffeemaschine. »Ja, alles klar. Es gibt allerdings eine kleine Planänderung: Heute nehme ich eine Zimtwecke anstelle der üblichen sechs Quarkbällchen.«

»Huch? Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich, weil Knud, seit ich hier jobbte, jeden Tag dasselbe bestellte. »Man muss sich ab und an auch mal ’n büschn Abwechslung gönnen«, antwortete er und grinste. Zumindest nahm ich das an. Der silbergraue Vollbart verdeckte seine Lippen fast komplett, sodass ich mir nicht wirklich sicher sein konnte. »Ich dachte, es sei schon Aufregung genug für dich, dass St. Pauli abgestiegen ist und jetzt in der Zweiten Liga spielt«, rutschte es mir spontan heraus. Upps! Knud war der größte Fan des Hamburger Fußballvereins, den ich kannte.

»Nu werd mal nich’ frech, du kleiner Keks«, antwortete er und drohte mit dem Zeigefinger. »Bloß weil du fast siebzehn bist, heißt das noch lange nicht, dass du mit einem alten Herrn wie mir Scherze treiben darfst. Du weißt doch, dass ich ein schwaches Herz habe.«

»Dafür aber ein sehr, sehr großes«, schmunzelte ich und reichte ihm den gefüllten Becher sowie einen Porzellanteller mit der Zimtwecke über den Tresen. Dann notierte ich routinemäßig den Betrag auf einer Liste, die an der Wand hing, denn Knud Johannson zahlte immer erst am Monatsende.

Im Gegenzug ließ auch Ludmilla ihre Zeitschriften bei ihm anschreiben. Na ja, was sie so als Zeitschrift bezeichnete. Alles, was das Wort Golden im Titel enthielt und sich mit Klatsch und Tratsch der untersten Schublade beschäftigte, war wie für sie gemacht.

Drachenfutter für die Drachenlady!

Nachdem Knud gegangen war, schaute ich eine Weile aus dem Fenster. Vor meinen Augen schlurften die üblichen Kiez-Gestalten über den Bürgersteig. Julia fand den Anblick der wilden Mischung aus Türstehern, Obdachlosen, Junkies, Punks und Touristen immer hoch spannend, weshalb sie lieber mich auf der Reeperbahn besuchte, als dass sie mich zu sich einlud. Besonders fasziniert war sie von den Mädels, die im Winter in grellbunten Skioveralls und im Sommer in tief dekolletierten Schlauchkleidern darauf warteten, liebeshungrigen Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Für mich war diese Atmosphäre genauso normal wie für Julia das alte Kapitänshaus im Blankeneser Treppenviertel, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Ebenso wie der große Mercedes-Van, das Cabriolet und, nicht zu vergessen, die regelmäßigen Ferien in Sils Maria, auf Sylt und Sardinien.

»Dass eure Freundschaft funktioniert, wo ihr doch in so unterschiedlichen Welten lebt. Also ich würde platzen vor Neid«, hatte Lykke gesagt, als Julia zum ersten Mal bei uns daheim aufgekreuzt war. Das war eines der wenigen Male gewesen, dass meine Stiefschwester mich direkt angesprochen hatte.

Aber ehrlich gesagt war es auch besser, wenn sie nicht mit mir redete! Keine Ahnung, warum, aber wir hatten von Anfang an keinen guten Draht zueinander, sehr zum Leid von Kathrin.

Goldmarie auf Wolke 7

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