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12. Marie Goldt

(Mittwoch, 16. November 2011)

»Bist du Marie?«, fragte ein elfenhaftes Wesen, das über den dunklen Dielenboden von Traumzeit zu schweben schien. »Ja, genau«, antwortete ich und sah mich erwartungsvoll um. Der Laden wirkte gemütlich, aber gleichzeitig klar und aufgeräumt. »Nives ist noch in einer Sitzung, aber ich soll dir ausrichten, dass sie sich sehr auf deinen Besuch freut. Magst du schon einen Tee oder willst du dich lieber erst einmal umschauen? Ich heiße übrigens Niki.«

»Was für Sitzungen sind das denn?«, erkundigte ich mich neugierig. Traumzeit war auf den ersten Blick ein normales Fachgeschäft für alles rund um das Thema Bett, also Matratzen, Lattenroste, Gestelle, Bettwäsche.

Niki rollte ihre großen strahlend blauen Augen, die mit schwarzem Kajal umrandet waren. Unter den unteren Lidrand hatte sie sich eine extra Reihe Wimpern gemalt und eine silberne Perle angeklebt. »Nichts Besonderes, nur ein bisschen Leute verhexen«, antwortete Niki und legte beim Lächeln eine Reihe schneeweißer Zähne frei. Ihren oberen Schneidezahn zierte ein glitzernder Stein.

»Und das kann sie wirklich gut!«, bestätigte ein Typ, der gerade aus dem hinteren Teil des Raums auftauchte. Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, warf seine Lederjacke über die Schulter und verließ dann mit einem lässigen »Schönen Nachmittag, Ladys« den Laden. »Das war übrigens Dylan O’ Noonan«, erklärte Niki und schaute ihm versonnen hinterher. »Er ist Ire und Nives’ Hexenkünsten verfallen wie kein Zweiter.«

»Papperlapapp, Hexenkünste! Was redest du denn schon wieder für einen Unsinn, Niki? Du verschreckst Marie«, wies Nives Hulda, die nun ebenfalls zu uns getreten war, ihre Mitarbeiterin sanft, aber bestimmt zurecht. »Es tut mir leid, dass meine Sitzung länger gedauert hat, aber Veränderungen brauchen eben ihre Zeit. Alles dauert so lange es dauert!«

Ich verkniff mir ein Grinsen, weil der letzte Satz auch aus dem schier unerschöpflichen Zitaten-Schatzkästchen von Dr. Willibald Hahn hätte stammen können.

»Aber nun komm mal mit Marie, Niki schafft das hier auch allein, nicht wahr?«

»Aber klar doch, Boss, auch wenn ich nichts gegen ein bisschen Hilfe einzuwenden hätte. Die Biberwäsche-Muttis sind wieder im Anmarsch, und um dieser Invasion standhalten zu können, braucht man Nerven wie Drahtseile.« Nives hob ihre linke Augenbraue: »Halt dich mal ein wenig mit deinen bissigen Kommentaren zurück. Diese Muttis zahlen dir immerhin dein Gehalt«, entgegnete sie und dirigierte mich in Richtung Hintertür, aus der vorhin der Ire gekommen war.

Wir betraten ein Treppenhaus, das ich in dieser Form nicht erwartet hätte. Es stand in einem krassen Gegensatz zu dem rot geklinkerten Fabrik-Design, das den Charakter des Ladens ausmachte. Von einem Moment auf den anderen eröffnete sich mir eine vollkommen andere, verzauberte Welt, die sehr an eine Puppenstube erinnerte. Unter unseren Schritten knarzte das morsche Holz der Treppenstufen. Ein schmuckvolles Geländer aus angelaufenem Metall führte einen nach oben. Die Wände waren grob verputzt und mit hölzernen Ornamenten verziert, die wie Fachwerk-Architektur wirkten. Das hier ist wie eine dieser Matrjoschka-Puppen, in deren Bauch endlos viele andere versteckt sind, dachte ich und folgte meiner Gastgeberin zahllose Treppenstufen hinauf. Schließlich öffnete sie im dritten Stock eine schwere, schmiedeeiserne Tür und bat mich herein. Auch hier empfing mich eine Atmosphäre, die man niemals hinter einer modernen Großstadtfassade vermutet hätte. »Willkommen in meiner eigenen, kleinen Welt«, sagte Nives Hulda und deutete mit einladender Geste auf einen mit kostbarem Brokatstoff überzogenen Lehnsessel. »Möchtest du Himmelzauber-Tee oder hast du Lust auf heißen Holundersaft?«

Ich stutzte angesichts der Vorschläge.

Wer war diese Frau?

»Der Tee klingt gut«, antwortete ich und schaute mich im Wohnzimmer um, während Nives Richtung Küche verschwand.

Schräg gegenüber stand ein blank polierter pechschwarzer Flügel. An den Wänden hingen alte Ölbilder mit unterschiedlichen Wolken- und Berglandschaften. In einem antiken gusseisernen Ofen knisterte ein gemütliches Feuer, das dem ganzen Raum eine weihnachtliche Atmosphäre gab. »Sieht ein bisschen aus wie im Museum, nicht wahr?«, lachte Nives und stellte ein Tablett auf den flachen Couchtisch vor mir. Sie schenkte den Tee aus einer Kanne aus hauchdünnem chinesischem Porzellan ein, reichte mir braunen Kandis mit einer Zuckerzange und deutete auf die voll beladene silberne Etagere, auf der sich verschiedene Köstlichkeiten türmten. »Hattest du schon mal die Chance, einen richtigen Afternoon-Tea zu zelebrieren?«, fragte meine Gastgeberin schmunzelnd und setzte sich mir gegenüber. Ich beäugte die randlosen Sandwiches, Früchtekuchen und brötchenartigen Teilchen. Das meiste davon hatte ich noch nie gesehen.

»Das sind Scones«, erklärte Nives. »Man isst sie am besten mit clotted cream und meiner selbst gemachten Erdbeermarmelade.«

»Ich habe weder Scones gegessen, noch war ich jemals in England. Aber ich würde gerne mal hinfahren, besonders nach London. Die Tate Gallery würde ich gerne sehen – und Stonehenge!«

»Und was hindert dich daran, das zu tun?«, fragte Nives lächelnd, während sie einen Scone teilte und dick mit Rahm bestrich. »Meine Stiefmutter ist zurzeit leider arbeitslos und ich habe gestern im Affekt meinen Aushilfsjob in einer Bäckerei gekündigt. Wenn wir also nicht von der Schule aus so etwas unternehmen, wird das in nächster Zeit wohl eher nichts«, erklärte ich und griff nach einem Sandwich mit Gurke. »So, so, im Affekt«, murmelte Nives und musterte mich eindringlich aus grün-braun gemusterten Augen. Im Gegensatz zu den meisten Frauen ihres Alters kam sie offenbar ohne Brille aus. »Was hat dich denn so wütend gemacht?«, fragte sie und wirkte ehrlich interessiert. Sie war ganz anders als Kathrin, die zwar auch ab und zu mal eine Frage stellte, aber die Antwort meistens kaum mitbekam, weil sie im Kopf längst wieder mit ihren eigenen Themen beschäftigt war. Also erzählte ich von meiner unglückseligen Verbindung zu der Drachenlady und dem Unfall mit der Brotschneidemaschine, der mich beinahe meinen linken Zeigefinger gekostet hätte. »Deshalb also der Verband«, nickte Nives und setzte eine ernste Miene auf. So viel Aufmerksamkeit war mir unangenehm. »Wo wir gerade beim Thema Unfall sind: Wie geht es eigentlich Honeypie? Was hat der Tierarzt gesagt?«

»Zum Glück wieder ganz gut. Sie hat keine inneren Verletzungen davongetragen, lediglich einige Prellungen. Das Allerschlimmste war der Schreck, deshalb war es ja auch so gut, dass du dich um sie gekümmert hast. Momentan schläft die Kleine tief und fest in ihrem Körbchen. Sobald sie wach ist, wird sie uns sicherlich einen Besuch abstatten. Sie liebt Früchtekuchen und wird es nicht versäumen wollen, ein kleines Stückchen bei uns abzustauben.« Ein Frettchen, das Honeypie hieß und gern englischen Kuchen aß. Ich konnte kaum erwarten, Julia und vor allem Finja davon zu erzählen. Ob Nives mir erlauben würde, ein Handyfoto von Honeypie zu machen? »Aber nun wieder zurück zu dir. Könntest du dir vorstellen, in der Weihnachtszeit in meinem Laden auszuhelfen? Wie Niki schon gesagt hat, werden wir im Winter von den Kunden nahezu überrannt. Ich zahle übrigens zehn Euro die Stunde.«

Zehn Euro? In meinen Augen war das unfassbar viel.

»Was hätte ich denn genau zu tun?«, fragte ich und versuchte, so gut es ging, das aufgeregte Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. In Nives’ Nähe fühlte ich mich wohl, auch wenn sie eine gewisse Strenge ausstrahlte. Doch mein Instinkt sagte mir, dass sie ein gerechter Mensch war und nie ihre Launen einfach so an anderen auslassen würde. »Ware kassieren, Geschenke einpacken, die Ablage der Belege sortieren, ab und zu den Boden wischen, kleine Besorgungen machen – und gern auch mal dekorieren, wenn du ein Händchen für so was hast. Ich würde vorschlagen, du lässt dir mein Angebot durch den Kopf gehen und gibst mir Anfang der nächsten Woche Bescheid, ob du Lust dazu hast. Und jetzt statten wir Honeypie einen Besuch ab, wenn du magst. Da der Duft von Tee und Früchtebrot sie nicht aus ihrem Körbchen gelockt hat, werden wir wohl zu ihr gehen müssen, um sie zu füttern.« Ich folgte Nives in den angrenzenden Raum, eine Bibliothek. Meterhohe dunkle Regale schmiegten sich an die mit ornamentalen Mustern geschmückten Wände. Ein bulliger Kachelofen und eine gemütliche Leseecke machten auch diesen Raum perfekt. Am meisten beeindruckte mich die hölzerne Trittleiter, die man an den Regalen entlangschieben konnte, ein absoluter Traum. »Na, wie geht es meinem Schätzchen?«, hörte ich Nives flüstern und erkannte erst jetzt den mit dunkelrotem Samt ausgeschlagenen Weidenkorb, der hinter einem der Ohrensessel auf dem Boden stand. Honeypie putzte sich mit den Pfötchen das Gesicht und linste uns verschlafen an. Ich musste mich zusammenreißen, um das Tierchen nicht sofort hochzuheben und mit ihm zu schmusen. »Du kannst ruhig näher kommen. Sie wird ihre Retterin sofort erkennen, da bin ich mir ganz sicher«, ermutigte Nives mich. Also beugte ich mich herab, um das possierliche Tier zu streicheln. Und wirklich: Honeypie hielt still und leckte mit ihrer kleinen Zunge kurz meine Hand. »Ich glaube, ich bin verliebt«, entfuhr es mir und wünschte mir auch so ein Haustier. Kathrin war immer schon gegen alle Sehnsüchte dieser Art immun gewesen, egal ob Lykke sich einen Hund gewünscht hatte oder ich mir eine Katze. »Sie mag dich auch, genauso wie ich«, antwortete Nives. Ein Gefühl von Wärme und innerem Frieden durchströmte mich, wie ich es schon so lange nicht verspürt hatte. Dann fällte ich eine spontane Entscheidung. »Ich brauche keine Bedenkzeit. Wann soll ich in Ihrem Laden anfangen?«

Goldmarie auf Wolke 7

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