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10. Marie Goldt

(Montag, 14. und Dienstag, 15. November 2011)

Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, dass sie sprach: »Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.« Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung …

Ich erwachte mit dem Gefühl von nackter Panik.

Dieser Albtraum begleitete mich, seit ich begonnen hatte, bei der Drachenlady zu jobben. Mit vom Schlaf verklebten Augen tastete ich nach meinem Wecker und versuchte, durch tiefes Ein- und Ausatmen meinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen. Es war halb sechs, eigentlich zu früh, um aufzustehen. In der Wohnung war es noch mucksmäuschenstill, aber Duft von frischem Kaffee bahnte sich schon seinen aromatischen Weg durch die Ritze meiner Zimmertür. Irgendjemand war also ebenfalls wach. Leicht benommen tappte ich Richtung Badezimmer, um mich durch eine ausgiebige Dusche in Schwung zu bringen. »Guten Morgen, Marie. Du bist aber früh auf den Beinen«, begrüßte mich Kathrin aus der Küche. Sie war in den Bademantel gehüllt, den mein Vater ihr in dem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, bevor er gestorben war. Ich murmelte »Hab was Blödes geträumt« und öffnete die von Kalkspuren bedeckte Duschkabinentür. An der Decke hatte sich ein Stück Tapete gelöst, vermutlich durch die hohe Luftfeuchtigkeit. Das Bad hatte dummerweise kein Fenster. Hier müsste dringend mal renoviert werden!, dachte ich und drehte seufzend den Hahn auf. Die Traumgeister hielten mich noch immer fest umklammert, da halfen weder Wasser noch nach Honig duftende Seife.

Als ich wie üblich zehn Minuten vor Arbeitsbeginn die Bäckerei betrat, war sonnenklar, dass Ludmilla mal wieder total miese Laune hatte. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und ähnelte heute noch mehr als sonst einer bösen Hexe aus dem Märchen. Mit Fingernägeln, die so lang waren, dass sie sich schon nach unten bogen (Bäh!), tippte sie auf dem Display ihres Handys herum und murmelte unverständliches Zeug. Ich versuchte, mich gegen das Unwohlsein zu wehren, das mich mehr und mehr befiel, je näher ich ihr kam. Kommentarlos hängte ich meinen Mantel an den Garderobenhaken, der daraufhin von der Wand fiel. Als ich ihn aufhob, sah ich, dass er gar nicht verdübelt oder festgeschraubt gewesen, sondern lediglich mithilfe von doppelseitigem Klebeband an den Fliesen befestigt war. »Was ist denn hier schon wieder los?«, zeterte Ludmilla, als sie sah, dass mein Mantel auf dem Boden lag und ich mit der Betrachtung des Hakens beschäftigt war. »Schwing deinen Hintern nach vorn an die Theke, wir haben Kundschaft! Kannst du denn nicht einmal das tun, wofür ich dich so fürstlich bezahle?« Ich schluckte schwer: Fürstliche Bezahlung – das war ja wohl die größte Untertreibung des Jahrhunderts! Doch es nützte nichts, im Verkaufsraum wartete eine alte Dame. »Ich hätte gern ein halbes Graubrot, in dünne Scheiben geschnitten, wenn das möglich ist«, bat sie mit brüchiger Stimme und zählte zittrig das Geld in ihrem Portemonnaie. »Aber natürlich ist es das, dafür sind wir ja schließlich da«, antwortete ich, nahm das Brot aus der Auslage und steckte es in die Schneidemaschine.

Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ludmilla stellte sich hinter mich, telefonierte mit ihrem Vermieter, gestikulierte dabei wild herum und stieß mir den Ellenbogen in den Rücken. Meine Finger gerieten in die Maschine, mir wurde schwindelig und übel, alles war voller Blut, ich sah farbige, zuckende Blitze, gleißendes Licht und schließlich gar nichts mehr …

»Was ist denn mit dir passiert, Goldschatz?«, fragte Jorinde Machandel und blickte entsetzt auf meinen Verband, als ich am nächsten Tag in der Praxis ankam. »Ich bin mit einer Brotschneidemaschine kollidiert«, erklärte ich düster. Dass ich heute überhaupt hier sein konnte, verdankte ich ausschließlich der Tatsache, dass ich bis zur Halskrause mit Schmerzmitteln vollgepumpt war. Gut, dass »nur« die linke Hand betroffen war. »Herrjemine, das tut mir aber leid«, antwortete die Sprechstundenhilfe und kam hinter dem Empfangstresen hervor. »Wie konnte denn das passieren? Du musst besser auf dich achtgeben, mein Kind.«

»Sagen Sie das mal meiner Chefin«, knurrte ich, immer noch voller Groll auf die Drachenlady, der es ziemlich egal gewesen war, was sie gestern mit mir veranstaltet hatte. Wäre Knud nicht im entscheidenden Moment in die Bäckerei gekommen und hätte mich sofort in die Notaufnahme gebracht, läge ich wohl immer noch dort auf dem Fußboden und wäre mittlerweile jämmerlich verblutet.

»Dann ist es ja umso besser, dass du gerade heute einen Termin bei mir hast, liebe Marie«, sagte Dr. Hahn, der seinen Kopf aus dem Behandlungszimmer steckte und mich neugierig beäugte. Keine Ahnung, ob er nur Mitleid mit mir hatte oder ob er es beim letzten Mal einfach vergessen hatte – jedenfalls bekam ich heute eine Tasse Tee kredenzt, für dessen Zubereitung er das Wasser aus dem silbernen Samowar holte. »Schmeckt köstlich«, lobte ich und Dr. Hahn lächelte zufrieden. »Diese russische Winterteemischung erweckt selbst Tote zum Leben«, sagte er und deutete dann fragend auf meinen Verband. So wiederholte sich die Szene von letzter Woche. Begleitet von abgrundtiefen Schluchzern erzählte ich, was passiert war, und gestand, dass ich es aufgrund dieses Vorfalls nicht mehr geschafft hatte, den Brief an meinen Vater zu schreiben. Dabei fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das dem Klassenlehrer beichtete, dass es seit einer Woche keine Hausaufgaben mehr gemacht hat. »Diese Dinge passieren nie ohne Grund«, entgegnete Dr. Hahn und nickte.

Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer, was er mit diese Dinge meinte (Unfälle mit Brotschneidemaschinen doch wohl kaum, oder wie?), deshalb wartete ich gespannt ab, was er weiter dazu sagen würde. »Wie schon der liebe Albert Einstein sagte: ›Gott würfelt nicht!‹ Und was wirst du jetzt tun?«

»Ich werde den Brief nachholen, sobald ich Zeit dafür habe«, versprach ich eifrig, doch Dr. Hahn schüttelte den Kopf. Mist, was meinte er denn? Dieser Besuch erwies sich als weitaus anstrengender als gedacht. Ich überlegte und überlegte wie eine Kandidatin in einem Quiz kurz vor der Eine-Million-Frage. Allerdings hatte ich schon sämtliche Hilfsmöglichkeiten verdaddelt und der Telefonjoker war gerade mit unbekanntem Ziel verreist. Blöd! Doch irgendwann platzte der Knoten in meinem Kopf: »Ich werde kündigen. Und zwar sobald ich hier raus bin!« Ups, hatte ich das eben wirklich gesagt? Womit sollte ich denn dann künftig Geld verdienen? Es war schon schwer genug gewesen, den Job bei Ludmilla zu ergattern.

Wenn ich erwartet hatte, dass der Therapeut jetzt einen Jubelschrei ausstoßen, vom Stuhl springen und mich zu dieser sensationellen Eingebung beglückwünschen würde, so hatte ich mich getäuscht. Anstelle einer Antwort schob er seine Brille so lange auf dem Nasenrücken hoch und runter, bis ich Angst bekam, sie könne kaputtgehen. »Wir sagen, dass Selbstverantwortung der Schlüssel zu allem ist. Nur wer sein Schicksal eigenständig in die Hand nimmt, kann sich dauerhaft aus der Opferrolle lösen.« Schon wieder dieses ominöse wir.

Litt Dr. Willibald Hahn etwa an einer gespaltenen Persönlichkeit? Doch sosehr ich innerlich über diese Vorstellung lachen musste (Jetzt war mir auch klar, weshalb jeder Psychologe einen eigenen Therapeuten brauchte), an der Aussage war wirklich was dran. Ich würde mir nicht länger gefallen lassen, dass die Drachenlady mich behandelte wie den letzten Dreck und in ihren hässlichen Klauen gefangen hielt.

Mit einer Mischung aus Angst (Was würde Kathrin zu meiner Entscheidung sagen?) und Freude stellte ich mich nach Verlassen der Praxis an die Bushaltestelle am Goldbekplatz und spielte mit dem Herbstlaub, das unter meinen Schuhen knisterte. Plötzlich fühlte ich mich so frei, wie schon lange nicht mehr. Ich würde die kommenden Wochen genießen und endlich wieder Zeit haben, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen. Mit Finja würde ich Schlittschuh laufen gehen, mit Julia Kekse backen und Pulswärmer stricken. Ich hätte Zeit, Weihnachtsgeschenke zu basteln, anstatt sie zu kaufen. Zum Glück hatte es bei dem Unfall nur die Fingerkuppe der linken Hand erwischt, weil ich offenbar einen Schutzengel gehabt hatte. Versonnen schaute ich auf das hell erleuchtete Schaufenster von Home & Garden, einem Laden für Möbel im Landhausstil, der auf der anderen Straßenseite lag. Er war in einem alten Fabrikgebäude untergebracht, das eine grandiose Kulisse für diese Art der Inneneinrichtung bot. In so einem Laden müsste man arbeiten, dachte ich träumerisch, als auf einmal Reifen quietschten und jemand wie verrückt hupte. Dann sah ich im Lichtkegel des Autoscheinwerfers, wie ein pelziges Etwas auf den gegenüberliegenden Bürgersteig geschleudert wurde. Oh mein Gott, das war doch nicht etwa ein Eichhörnchen, das herabgefallene Bucheckern aufgesammelt hatte?! Ohne weiter nachzudenken, sprintete ich auf die andere Straßenseite und sah, wie sich das Tierchen aufrappelte, loslief und in der Dunkelheit des alten Fabrikgemäuers verschwand. Ich überlegte. Was, wenn es so schwer verletzt war, dass es irgendwo unbemerkt verendete, bloß weil niemand es fand? Nur weil es aufgesprungen war, bedeutete das schließlich nicht, dass es auch wirklich unversehrt war. Entschlossen zu helfen, folgte ich der Fährte auf gut Glück. Dass es um diese Uhrzeit bereits dunkel war, erschwerte die Suche natürlich, doch ich wollte nicht aufgeben. Alle anderen Passanten waren einfach weitergegangen, als sei nichts passiert, und auch der Autofahrer hatte nach seinem abrupten Bremsmanöver einfach wieder aufs Gaspedal getreten.

Ich stolperte durch die Dunkelheit, kletterte einem inneren Gefühl folgend über den nächsten Zaun und befand mich schließlich in einem Hinterhof, der nur durch den Lichtschein aus einigen Fenstern erhellt wurde. Als ich den antiken Brunnen sah, glaubte ich zunächst an eine optische Täuschung, so verzaubert sah dieser Ort aus. Doch er war real und traumhaft schön.

Das Becken selbst war schlicht gemauert, doch die Figur in der Mitte wirkte antik und kunstvoll gestaltet. Es war eine zierliche Frau, um deren Schulter eine fein gemusterte, griechische Toga geschlungen war. In der rechten Hand hielt sie einen überdimensional großen Schlüssel, am linken Arm einen Obstkorb. Auf ihrer kunstvoll geflochtenen Frisur thronte wie eine Krone ein steinernes Schloss. Die Brunnenkönigin selbst stand mit einem Bein auf einem liegenden Löwen, mit dem anderen auf dem Brunnenrand. Den Löwen schien das überhaupt nicht zu stören, denn er lächelte.

Während der Stein an vielen Stellen dunkelgrau verwittert und bemoost war, schimmerte das Becken in goldenem Glanz. Bevor ich nach einem Froschkönig Ausschau halten konnte, hörte ich es dicht neben mir rascheln. Ich bückte mich und sah plötzlich das Tierchen, nach dem ich gesucht hatte. Es schaute mich mit dunklen Knopfaugen an und zitterte dabei wie Espenlaub. Ohne zu wissen, ob das eine wirklich gute Idee war, hob ich es auf, drückte es an meine Brust und streichelte sein pelziges Köpfchen. Dann rief ich per Handy die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer eines tierärztlichen Notdienstes.

»Ist Honeypie etwas passiert?«, hörte ich auf einmal eine Stimme, die zu einer älteren Dame gehörte. Ihr schneeweißes Haar war zu einem Knoten geschlungen und sie wirkte, als sei sie direkt aus den Seiten eines Märchenbuchs geschlüpft.

Ich nahm das Handy vom Ohr, drückte den Aus-Knopf und schaute die Dame verwundert an. Behutsam nahm sie mir das Tierchen vom Arm, flüsterte ihm in einer mir unverständlichen Sprache etwas ins Ohr und lächelte mich schließlich freundlich an. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich um meinen Liebling gekümmert haben. Die Kleine ist ausgebüxt und ich habe mir schon große Sorgen gemacht.«

»Sie wurde von einem Auto angefahren und sollte deshalb dringend zum Tierarzt«, erklärte ich und konnte mich kaum vom Anblick der beiden lösen.

Was war Honeypie für ein Tier?

Es ähnelte einem Marder und war unheimlich knuffig.

Die Fremde legte die Stirn in Falten, nickte und streichelte das pelzige Wesen. »Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich um meine Süße gekümmert haben?«, fragte sie und ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ein Teil von mir glaubte zu träumen. »Ach was, das hab ich doch gern gemacht. Hauptsache, es geht Honeypie bald wieder gut.«

»Haben Sie vielleicht Lust, morgen Nachmittag zum Tee zu mir zu kommen? Ich würde Sie ja auch jetzt sofort einladen, aber ich möchte mein Frettchen schnellstens zum Tierarzt bringen.«

Ich nickte und murmelte: »Gern.« So also sahen Frettchen aus.

»Dann kommen Sie doch morgen gegen vier vorbei und melden Sie sich in meinem Laden Traumzeit, gleich neben Home & Garden. Ich heiße übrigens Nives Hulda.«

»Ich bin Marie Goldt, aber Sie können mich sehr gern einfach nur Marie nennen und duzen«, antwortete ich, ganz überwältigt von dieser unverhofften Begegnung.

Honeypie und Nives waren ein seltsames Paar.

Aber ich hatte große, große Lust, die beiden näher kennenzulernen.

Goldmarie auf Wolke 7

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