Читать книгу Das politische Bewusstsein - Geoffroy de Lagasnerie - Страница 10
1. Eine Verzerrungslogik
ОглавлениеIn gewisser Weise hat alles, was ich hier schreibe oder gerne schreiben würde, seinen Ursprung in dem Unbehagen, das ich immer dann verspüre, wenn wir von Politik sprechen. Ich habe ständig den Eindruck, dass etwas nicht stimmt an unseren Diskursen über den Staat, das Gesetz oder über uns selbst als Subjekt. Ob es sich nun um die Texte klassischer oder zeitgenössischer Autoren handelt, um deutsche, französische oder angelsächsische Theoretiker, um Stellungnahmen von Aktivisten oder Berufspolitikern, um konservative Sprecher, um solche, die radikaler eingestellt sind – die verwendeten Wörter, die gebrauchten Begriffe, die vorgeschlagenen Erzählungen erscheinen mir falsch zu sein, und mehr noch als das: offensichtlich falsch, so als ob wir die Politik nur zum Gegenstand machen könnten, indem wir uns Geschichten erzählen, im Grunde unseres Herzens wissend, dass wir dabei sind, uns selbst zu belügen.
Es ist schwierig, die Gründe für ein undeutliches Gefühl ohne Weiteres auf nicht restriktive und nicht einschränkende Weise darzulegen. Denn obwohl die Politik der Ort des Protests, des Einfallsreichtums und des Experimentierens sein soll, lässt sich kaum die Homogenität unserer politischen Sprache übersehen! Sobald wir uns über die Polizei oder die Justiz, über Wahlen oder Demonstrationen, über den Staat oder das Gesetz äußern oder uns darüber Gedanken machen, drängen sich uns die immer gleichen Rede- und Wahrnehmungsweisen auf. Eine geringe Anzahl von Begriffen kehrt ständig wieder – so als ob (was bereits ein beunruhigendes Phänomen darstellt) ein Dutzend Begriffe ausreichen würde, um das Wesentliche unseres Lebens zu erfassen: Volk, Gemeinwille, Gesellschaftsvertrag, Souveränität, Legitimität, Staatsbürgerschaft, Konstitution und Destitution, wir, öffentlicher Raum, Repräsentation, Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaft, Gesetzgeber, Debatte, Demokratie …
Mit diesen Begriffen lassen sich durchaus sehr unterschiedliche Dinge sagen. Wir können mit ihrer Hilfe Diskurse artikulieren, die entgegengesetzten politischen Lagern zuzuordnen sind, Diskurse, die die Form einer Legitimierung der Institutionen der liberalen Demokratie ebenso gut annehmen können, wie die Form einer Kritik am antidemokratischen Charakter dieser Institutionen oder eines Aufrufs zum Volksaufstand gegen unrechtmäßig agierende Institutionen. Doch diese Veränderlichkeit und Vielfalt der Stellungnahmen verhindert nicht, dass die Autoren, die sie aussprechen, ein und dieselbe Sprache teilen, sodass man sich in einer sonderbaren Situation befindet, in der jeder – von der Regierung bis zu oppositionellen Aktivisten, von konservativen Philosophen bis zu kritischen Theoretikern – mit denselben Wörtern spricht.
Wenn wir auf die Welt kommen, ist der Raum der Sprache bereits da. Die Intuition, die ich ausarbeiten möchte, lautet, dass die Sprache, die unser Verhältnis zur Politik vorformt und mit der wir uns als Subjekte konstruieren, von der Wirklichkeit losgelöst ist. Von dem Augenblick an, da man zu sprechen beginnt, scheint die Politik ein Bereich zu sein, in dem Verzerrungs- und Mystifizierungsoperationen ablaufen. Überall – bei den unterschiedlichsten Autoren, auf der Straße und in Büchern – treten leere Wörter und Abstraktionen an die Stelle der Wirklichkeit, gibt man vor, durch mythologische Erzählungen getreu Rechenschaft davon, was wir sind, ablegen zu können, werden sinnlose Formeln wie Offensichtlichkeiten verwendet, werden rechtliche oder politische Fiktionen, deren Fiktionalität eingestanden wird, als notwendige Grundlagen für die Reflexion gesetzt. Wie kann man zum Beispiel von „Volkswille“ oder „Volkssouveränität“ oder „Volk“ in Gesellschaften sprechen, die geprägt sind von einer Vielfalt an Meinungen und oppositionellen Stimmen, von sozialen Konflikten, von der Weigerung, sich zu beteiligen, von Auseinandersetzungen zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen denen, die sprechen, und denen, die schweigen oder zum Schweigen gebracht werden? Wie kann man den Ausdruck „Bürger“ dort verwenden, wo es eine Vielfalt von Identitäten, Abhängigkeiten und Spaltungen gibt? Es ist auch nicht selten, dass Regierungen, die von einer Minderheit der Wähler gewählt wurden, vorgeben, dass die Demokratie auf dem Prinzip der Übertragung der „Volkssouveränität“ mittels Wahlen „gegründet“ ist, worauf ihre Gegner, anstatt diese Kategorien zu verwerfen, erwidern, sie verkörperten den eigentlichen „Volkswillen“ … Hat man vergessen, dass es vor ein paar Jahren in Paris, als im Zuge der Nuit debout genannten Bewegung Aktivisten und Intellektuelle behaupteten, sie seien „das Volk“ und würden „eine Verfassung formulieren“, obwohl da nur ein paar Hundert Personen versammelt waren, genügte, sich umzuschauen, um festzustellen, dass die Taxifahrer, Café-Kellner, Händler und Apotheker ihr Leben weiterführten wie eh und je, dass man nur 100 Meter weiter in die umliegenden Straßen gehen musste, um zu sehen, dass sich nichts änderte? Sogar die politische Philosophie und die Rechtstheorie entkommen diesem sonderbaren Dispositiv nicht. Es gibt hier keinen Bruch zwischen den alltäglichen Formen des Verhältnisses zur Politik und den Ausführungen der Gelehrten. Wenn Jürgen Habermas vom öffentlichen Raum der Debatte und von intersubjektiver Konstruktion des Rechts spricht, wenn Hannah Arendt von der Politik als einem „gemeinsamen Handeln“, John Rawls von der Demokratie als einem Regime spricht, in dem die Macht „freier und gleicher Bürger herrscht, die in einem Gemeinschaftskörper konstituiert sind“, wenn Juristen die Begriffe „konstituierend“, „Gesetzgeber“, „öffentliche Ordnung“ verwenden usw., wie sollte man – selbst wenn man kruden empiristischen Argumenten misstrauen muss – sich nicht fragen: Wovon reden sie bloß? Worauf verweist das, was sie sagen? Warum verwenden sie derlei fiktive Ausdrücke? Haben sie schon einmal eine Parlamentsdebatte im Fernsehen gesehen? Haben sie schon einmal einen Politiker in Aktion gesehen, einen Richter mit einem Angeklagten sprechen gehört oder einen Präfekten eine Entscheidung über Einwanderer treffen gesehen? Sind sie schon einmal in ein Gefängnis gegangen? Haben sie schon einmal gesehen, wie Wahlkämpfe ablaufen? Wie kommen sie dazu, die Politik ausgehend von einem Weltbild zu denken, das durch jeden – auch noch so flüchtigen – soziologischen Blick auf die Wirklichkeit widerlegt wird?
Wenngleich der Raum der Politik oft als der Bereich der Ausübung der Rationalität dargestellt wird, im Gegensatz zur Privatsphäre, in der der Affekt und das Interesse herrschten, ist es gut möglich, dass er einer der Hauptorte der Verblendung und des Automatismus ist. Wenn wir eine Eigenschaft unseres politischen Diskurses hervorheben sollten, dann wäre das die Tatsache, dass seine Sprecher – gleichsam systematisch – dadurch Positionen beziehen, dass sie Verzerrungs- und Mystifizierungsprozesse bedienen. Es ist, als ob der Wortschatz und die Sprache dieses Bereichs eine Funktion ausübten, die im Gegensatz zu ihrer eigentlichen Aufgabe steht, und nicht dazu dienten, etwas zu benennen, sondern zu verbergen. Sich selbst zu belügen, sich selbst gerade in dem Moment zu verfehlen, in dem man behauptet, über sich zu sprechen, wäre das Kennzeichen unserer Position als politisches Subjekt. Es ließe sich nicht einmal behaupten, dass in unserem politischen Diskurs eine Verzerrungslogik am Werk ist, vielmehr müsste man sagen, dass unser politischer Diskurs gänzlich auf der Grundlage von Verzerrungen erzeugt wird. Politisch zu denken, scheint zu implizieren: in Fiktionen zu denken.