Читать книгу Das politische Bewusstsein - Geoffroy de Lagasnerie - Страница 19
1. Die Autonomie der Politik
ОглавлениеMan hätte vielleicht erwartet, dass eine Untersuchung der Politik nacheinander eine Reihe von klassischen und deutlich abgegrenzten Fragen thematisiert: die Rechtssysteme, das Gesetz, den Widerstand und die Staatbürgerschaft. Doch eine allgemeine Kritik des Bewusstseins in Angriff zu nehmen, erfordert in Wirklichkeit eine zusätzliche Operation. Man muss zu den Konstruktionsprinzipien unseres Verhältnisses zur Politik selbst zurückgehen.
Das Dasein einer in unserer Sprache so wirkmächtigen mythologischen Logik ist vielleicht die Folge der Konstitution dieses Erfahrungsbereichs. Unsere Beziehung zur Politik steht nämlich mit einem Diskursuniversum in Verbindung, dessen Herausbildung und Äußerungsvollzug auf einer sonderbaren Voraussetzung beruhen: die Voraussetzung, dass die im Bereich der Politik agierenden Entitäten nicht dieselben seien wie diejenigen, die in anderen Bereichen des Lebens am Werk sind.
In unserem Sprachgebrauch gibt es einen Kipppunkt, der auftaucht, wenn wir beginnen, von Politik zu sprechen: Wir verwenden dann plötzlich Wörter, Argumentationen und Begriffe, die nur für diese Interaktions- und Erfahrungssphäre gültig sind. Wir greifen auf einen Wortschatz zurück, der in keiner anderen Sphäre unseres Lebens Anwendung findet: Staatsbürgerschaft, das Volk und seine Interessen, Volkssouveränität, Staatswesen, Legitimität, Gemeinwille, kollektive Deliberation, Gemeinwohl … Anders gesagt, wir halten es für gesichert, dass „die Politik“ existiert, dass ein Teil unseres Daseins sich auf einer bestimmten Ebene abspielt, die „die Politik“ heißt.
Jacques Derrida behauptet in Das Tier, das ich also bin, dass über die Gegensätze hinweg und trotz des Anscheins ihrer Gegnerschaft Descartes, Heidegger und Levinas in Wirklichkeit darin übereinstimmen, dass ihre Theorie des Eigentlichen des Menschen auf der Ausschließung des Tiers beruht und dass Menschsein immer bedeute, kein Tier zu sein.26 Man könnte genauso gut sagen, dass die politischen Philosophen jenseits ihrer Meinungsverschiedenheiten oder vielmehr obwohl sie so tun, als würden sie einander widersprechen, einen sie vereinenden Punkt miteinander teilen: Sie konstruieren ihren Diskurs auf der Abstraktion der Politik vom Rest der Welt – auf der Ausschließung dessen, was sie „Soziologismus“, „Ökonomismus“, „Moral“ nennen. Die politische Philosophie definiert sich als Disziplin durch ihren Anspruch, die Besonderheit der Politik als Besonderheit eines Wirklichkeits-, Handlungs- und Erfahrungsbereichs zu bestimmen. Sie versucht nicht, die politischen Institutionen als Teil des Spiels sozialer Kräfte und ihrer Konflikte zu begreifen, sondern im Gegenteil, sie autonom zu machen. Das für unseren politischen Diskurs konstitutive Vorurteil kann mit dem Ausdruck Autonomismus bezeichnet werden.