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3. Dem entkommen, was ist

Warum ist unser politisches Denken von einem so umfassenden Gebrauch fiktiver Kategorien geprägt? Worin gründet die Tendenz, das Reale gefangen zu nehmen und unsere Situation mithilfe von Begriffen zu fassen, die die Wirklichkeit in genau dem Maße verfälschen, wie sie sie zu benennen beanspruchen? Welchen Notwendigkeiten gehorcht diese diskursive Praxis?

Um das Bildungsprinzip unserer politischen Diskurse zu verstehen, dürfen wir nicht in den Kategorien des Verkennens denken. Die Erzählungen, die wir verwenden, sind offensichtlich falsch. Wir wissen, dass wir mit Wesenheiten hantieren, denen keinerlei Wirklichkeit zukommt. Wir begehen also keinen Irrtum. Wir verorten uns vielmehr in einer Logik der Verleugnung und der Entäußerung. Wir wollen dem entkommen, was wir sind.

Politische Psychoanalyse

In seinen Texten über die Grundlagen der Wissenschaft von der Psyche behauptet Freud, dass es eine spontane Neigung menschlicher Gesellschaften gibt, die Welt zu bevölkern, überall und am Ursprung aller Dinge Geister und Absichten zu sehen. Der Regen, die Erdumdrehung, der Ursprung des Menschen usw. sind immer spontan als Erscheinungen gedeutet worden, die einen Sinn haben, zum Beispiel als Bekundungen eines göttlichen Willens, deren Bedeutung zu ergründen wäre.14 Die Wissenschaft ist der Diskurs, der jedes Mal diese Erzählungen zerstört. Sie ersetzt die mythologischen Erzählungen, die die Tatsachen mit Gründen und Bedeutungen ausstatten, durch mechanische Erzählungen, in denen die kalte Logik der Kausalität wirkt.

Die Psychoanalyse unterstellt den menschlichen Geist den Ansprüchen wissenschaftlichen Denkens. Mir scheint im Übrigen, dass man Pierre Bourdieus Formulierung in diesem Sinne verstehen muss, wenn er die Soziologie als eine Psychoanalyse des Sozialen definiert. Mit dieser Formulierung verweist Bourdieu wahrscheinlich nicht nur auf die Frage des Unbewussten und Verdrängten. Sie besagt auch, dass die Sozialwissenschaft die Geschichten, die sich soziale Akteure über die Welt erzählen, durch die Logiken des gesellschaftlichen Determinismus ersetzt.

Das Projekt der Wissenschaft besteht darin, die Geister auszutreiben. Als wissenschaftliche Projekte haben sich Psychoanalyse und Soziologie als Disziplinen konstruiert, die mit unseren spontanen Vorstellungen brechen, um die kalten Mechanismen freizulegen, die den sichtbaren Verhaltensweisen zugrunde liegen.15

Diese Methode hat sich jedoch noch nicht in der politischen Philosophie oder in der Rechtstheorie durchgesetzt – und deshalb gilt es nun, eine Psychoanalyse der Politik auszuarbeiten zu versuchen. Wenn Hobbes ein Konzept der Zustimmung zum Fundament politischer Zugehörigkeit entwirft, obwohl es sich dabei vielleicht um einen jener seltenen Bereiche handelt, in denen wir niemals und niemandem zugestimmt haben; wenn wir gemäß derselben Logik sagen, dass die Demokratie auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründet, dass die Souveränität durch die Stimmabgabe übertragen wird, dass das Volk sich in der Versammlung selbst als Volk konstituiert, dass die Revolution ein Moment ist, in dem den staatlichen Institutionen die Volkssouveränität entzogen wird, dass eine verfassungsgebende Versammlung eine Institution ist, in der ein Volk sich gemeinsame Regeln auferlegt, und dass das Recht ausgehend von einem Prozess vernünftiger Deliberation konstruiert wird – was tut man dann anderes, als die politischen Erscheinungen und die Formen des politischen Handelns mit einer Art psychischem und magischem Leben auszustatten? Welche Funktionen haben diese Diskurse, wenn nicht die, dem Realen eine Schicht leerer Signifikanten hinzuzufügen, die ihnen eine Seele und einen Schein von Sinn verleihen? Das Begriffsfeld der Volkssouveränität, des Gemeinwohls, der Legitimität, der Bürgerschaft, des Vertrags, der Grundlegung, der „demokratischen Gemeinschaft“, der gleichen Bürger, der Deliberation, der Verfassung, des Staatswesens und so fort lässt das magische Weltverständnis weiterwirken.

Wir verfügen über keine Definition der Demokratie

Vielleicht besteht die Funktion der politischen Sprache ganz einfach deshalb nicht darin zu benennen, sondern zu maskieren, weil wir uns schützen wollen. Unsere politische Erfahrung hat etwas Brutales, und die Mystifizierungen, die unsere Verhaltensweisen zu dieser Dimension unseres Lebens prägen, dienen dazu, ein allzu klares Bewusstsein unserer Lage zu vermeiden.

Die Existenz einer defensiven Funktion der politischen Sprache wird offenbar, wenn wir ein einfaches Beispiel hernehmen, nämlich das der Demokratie. Wir glauben entweder, in einer Demokratie zu leben, oder einer demokratischen Gouvernementalität entgegenzustreben. Der Begriff der Demokratie spielt eine wesentliche Rolle für die Art und Weise, wie wir unsere Situation zu begreifen und unsere Beziehungen zu Institutionen zu denken versuchen.

Doch man kann nicht umhin, erstaunt zu sein über die Art und Weise, wie wir diesen Begriff definieren. Die Demokratie wäre die „Volkherrschaft“, die Regierung, in der die „Volkssouveränität das Prinzip der Souveränität ist“, das politische System, in dem das „Volk“ die „Quelle der Macht“ ist. Es gibt natürlich Varianten davon. Doch diese Vorstellung des self-government, eines Systems, in dem die Legitimität beim Volk läge, in dem Volkssouveränität herrsche, kehrt ständig wieder. Diese Definition der Demokratie wird weitgehend verwendet, um sie zum Beispiel von kolonialistischen, monarchistischen oder diktatorischen Systemen zu unterscheiden. Wenn man nun aber die totalisierenden Kategorien beiseite lässt, was heißt dann „Volkherrschaft“? Welche konkrete Bedeutung hat der Ausdruck „die Macht des Volks und für das Volk“? Auf welche Wirklichkeit verweist die Formel, der zufolge „die Macht beim Volk liegt“? Lässt sich diese Definition mit dem Blick auf Institutionen, Wahlvorgänge, auf das Parteiensystem und die soziale Logik politischer Mobilisierung in Einklang bringen, sofern ihm nur ein Funke Realismus innewohnt? Eine Formel wie „demokratische Institutionen gründen auf dem Volkswillen“ ist nicht deshalb kritikwürdig, weil es eine Kluft gäbe zwischen etwas, das „Volkswille“ hieße, und den Institutionen, sondern weil der „Volkswille“ nicht existiert und einen sinnlosen Ausdruck darstellt.

Durkheim

Ich beanspruche natürlich nicht, der langen Tradition philosophischen und juristischen Denkens mit diesen wenigen Zeilen die Stirn zu bieten, aber ich möchte, indem ich mich auf Émile Durkheim berufe, unterstreichen, dass es ausreicht, einen soziologischen Blickpunkt einzunehmen, um unsere geläufigen Definitionen der Demokratie abzulehnen. In den Vorlesungen zur Soziologie der Moral greift Émile Durkheim die Vorstellung an, es wäre möglich, die politischen Systeme anhand der Anzahl derer, die Teil der Regierung sind, zu ordnen. Er zitiert Montesquieu, der die Demokratie dadurch definiert, dass „das ganze Volk die höchste Gewalt innehat“, die Aristokratie dadurch, dass „die oberste Gewalt in den Händen nur eines Teils des Volkes“, und die Monarchie dadurch, dass „ein einzelner die Macht inne“ hat.16 Diese Klassifizierung verweist zur Gänze auf die implizite Definition der Demokratie als Regierung des Volks und durch das Volk, als self-government.

Durkheim zeigt nun aber, dass eine Beobachtung des Wahlvorgangs eine solche Definition außer Kraft setzt. Das führt ihn dazu, unsere traditionellen Entgegensetzungen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie in Frage zu stellen. Wenn man objektiv über die Funktionsweise von politischen Systemen und von Regierungssystemen nachdenkt, wird der Ausdruck „Macht des Volks und durch das Volk“ „sinnlos“. Durkheim argumentiert so:

[Was soll] denn mit dem Ausdruck „regieren“ gemeint sein […]? Regieren heißt ohne Zweifel, einen positiven Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten auszuüben. In dieser Hinsicht besteht unter Umständen gar kein Unterschied zwischen Demokratie und Aristokratie. Denn in der Tat bestimmt sehr oft der Wille der Mehrheit, was Gesetz ist, ohne daß die Gefühle der Minderheit auch nur den geringsten Einfluß hätten. Eine Mehrheit kann ebenso unterdrückend sein wie eine Kaste. Ja, sehr oft kommt es vor, daß die Minderheit nicht einmal in den Parlamenten vertreten ist. Man bedenke nur einmal, daß Frauen, Kinder und Heranwachsende und all jene, die aus irgendeinem Grunde am Wählen gehindert werden, außerhalb der Wählerschaft bleiben. So kommt es, daß die wahlberechtigten Bürger lediglich die Minderheit eines Landes bilden. Und da die Gewählten lediglich die Mehrheit ihrer Wähler repräsentieren, stehen sie allenfalls für eine Minderheit der Minderheit. In Frankreich gab es 1893 bei 38 Millionen Einwohnern nur 10 Millionen Wahlberechtigte; von diesen 10 Millionen machten 7 Millionen von ihrem Wahlrecht Gebrauch, und die von diesen 7 Millionen gewählten Abgeordneten repräsentierten lediglich 4 592 000 Stimmen. Auf die Gesamtzahl der wahlberechtigten Bürger bezogen, waren 5 930 000 Stimmen nicht repräsentiert, also insgesamt mehr Wahlberechtigte, als den gewählten Abgeordneten zu ihrem Erfolg verholfen hatten. Hält man sich allein an die Zahlen, wird man also sagen müssen, daß es noch niemals eine Demokratie gegeben habe. Ja, mehr noch, um die Aristokratie von der Demokratie zu unterscheiden, könnte man sogar behaupten, in einem aristokratischen Regime sei die regierende Minderheit ein für allemal festgelegt, während in einer Demokratie die Minderheit, die heute den Sieg davonträgt, morgen schon von einer anderen geschlagen und ersetzt werden könne. Der Unterschied ist jedenfalls minimal.17

Die Art und Weise, wie die politische Theorie und wir alle den Begriff „Demokratie“ spontan gebrauchen, gehorcht derselben Logik, die wir bei Hobbes sahen. Wenn man sagt, die Demokratie sei die Regierung des Volks und für das Volk, dann tut man so, als sei diese Definition realistisch und deskriptiv, obwohl wir wissen, dass sie mythologisch ist oder, besser gesagt, dass die soziologische Beobachtung unmittelbar erlaubt, ihre Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen. Wir belügen uns selbst. Und die Konsequenz einer solchen Behauptung ist einfach: Wenn wir die Demokratie als das System der „Regierung des Volks und durch das Volk“ definieren und wenn wir uns bewusst werden, dass der Ausdruck „Regierung des Volks und durch das Volk“ keinen Sinn hat, dann müssen wir eigentlich akzeptieren, dass wir über keinen Begriff der Demokratie verfügen … Wir haben keine andere als eine mythologische Definition der Demokratie.

Um ein anderes Beispiel zu geben: Wenn John Rawls sagt, dass in einer Demokratie die politische Macht die Macht der Öffentlichkeit ist, „das heißt der Gesamtheit der freien und gleichen Bürger“18, was sagt er dann damit aus, insofern dies eine Definition darstellt, der nichts an der Funktionsweise unserer Gesellschaften entspricht? Und was schreibt er letztlich anderes, als dass unsere Wirklichkeit nicht dem entspricht, was er Demokratie nennt? Und dann stellen sich eben die Fragen: In welchem System leben wir? Was sind wir? Welcher Unterschied besteht zwischen unseren Erfahrungen und denen eines Kolonialisierten oder eines Untertanen einer Monarchie? Wie kennzeichnet man sie? Wie werden wir regiert? Fürs Erste wissen wir es nicht. Wir wollen es nicht wissen, und deshalb ziehen wir es vor, uns auf die Lügen unseres politischen Diskurses zu verlassen.19

Das politische Bewusstsein

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